Achtes Kapitel

Drückende Schwüle lastete auf dem Land zwischen dem Pazifischen Ozean und den Blue Mountains. Im Südosten braute sich ein Unwetter zusammen.

»Hoffentlich erweist es sich nicht wieder als eines dieser nutzlosen Hitzegewitter, bei denen es wie verrückt blitzt und donnert, ohne dass jedoch auch nur ein Tropfen Regen vom Himmel fällt«, sprach Andrew vier Tage nach dem nächtlichen Ritt nach Windsor aus, was wohl alle Siedler der Kolonie sich von den heraufziehenden bleigrauen Wolken erhofften. Ein kräftiger Regenschauer würde der Hitze die unerträgliche Schwüle nehmen, die Luft reinwaschen und für Weiden, Äcker und Felder ein wahrer Segen sein.

Jonathan Chandler pflichtete Andrew bei. Melvin dagegen beschäftigten an diesem Morgen ganz andere Kümmernisse.

»Ich habe ja wirklich nichts dagegen, dass Abby sich um diese Heidin kümmert, als wäre sie ihre Schwester. Und dass sie nicht einmal mehr Zeit findet, die Mahlzeiten gemeinsam mit uns einzunehmen, damit kann ich mich auch abfinden.«

»Aber?«, fragte Andrew spöttisch.

»Ich finde es nicht fair, dass ich nun ihre Aufgaben übernehmen und Sarah Unterricht in Schreiben und Rechnen geben muss!«, rückte Melvin mit der Sprache heraus.

»Soll ich es vielleicht tun?«, fragte Jonathan Chandler ungehalten.

»Nein, das sind Abbys Pflichten!«, betonte Melvin noch einmal. »Und mir passt es einfach nicht, dass sie diese Arbeit nun mir aufbürdet!«

»Von mir aus lassen wir den Unterricht doch ausfallen«, meldete sich Sarah nun fröhlich zu Wort und sagte neckend zu ihrem Bruder: »Damit ersparen wir uns beide ein paar langweilige Stunden. Denn als Lehrer bist du so gut wie Andrew als Kaufmann in einem Kontor.«

»Sei nicht so vorlaut!«, zischte Melvin gereizt.

»Kommt gar nicht in Frage! Es bleibt bei den zwei Stunden Unterricht am Vormittag«, entschied Jonathan Chandler und beendete das Frühstück.

Sarah sprang vom Stuhl und lief in die Küche, um für Abby eine Kanne Tee und einen Teller mit zwei der herrlich frischen Biskuits zu erbitten. Rosanna sträubte sich zwar zuerst und ließ es nicht an Klagen darüber mangeln, dass es sich bei Gott nicht schicke, die Gesellschaft einer stummen und heidnischen Schwarzen der ihrer Familie vorzuziehen. Doch letztlich ließ sie Sarah mit dem Tablett ziehen.

Abby freute sich über den Tee und die Biskuits, die Sarah ihr brachte. »Ich dachte, ich würde es noch bis zum Frühstück schaffen, aber die Beinverbände haben mich doch länger aufgehalten.«

»Wie geht es ihr denn?«, wollte Sarah wissen und warf einen neugierigen Blick auf die Kranke.

»Das Schlimmste hat sie wohl überstanden. Sie wird wieder gesund, auch wenn es bis dahin noch ein langer und schmerzvoller Weg für sie ist. Gott sei Dank kann ich ihr mit dem Laudanum die größte Pein ersparen. Ich glaube, heute Morgen ist sie zum ersten Mal ansprechbar«, sagte Abby mit vollem Mund.

Sarah blieb noch eine Weile bei ihr. Doch da die Schwarze die Augen geschlossen hatte, es nichts Interessantes zu beobachten gab und es in der kleinen Kammer besonders stickig war, hielt es sie nicht lange an Abbys Seite. Da machte es doch mehr Spaß, mit Melvin in Vaters Studierzimmer zu sitzen und sich insgeheim darüber zu amüsieren, wie ihr Bruder sich als ihr Hauslehrer abmühte.

Auch Andrew schaute kurz zu Abby hinein, bevor er mit seinem Vater zum Roden hinausfuhr. Der jungen Aborigine schenkte er nur einen flüchtigen Blick. Er akzeptierte, was Abby tat, brachte dafür jedoch nicht gerade überschäumende Begeisterung auf. Genau genommen dachte er gar nicht darüber nach. Er hatte wichtigere Dinge im Kopf.

»Bitte richte es so ein, dass du wenigstens heute mit uns zu Abend isst, ja?«, bat er und sah sie mit einem liebevoll flehenden Blick an, von dem er wusste, dass sie ihm dann nichts abschlagen konnte. »Wenigstens mir zuliebe. Melvin, Dad und Rosanna halten deine Pflege für reichlich übertrieben und reagieren ganz schön gereizt.«

»Und du?«, fragte sie. »Hältst du sie auch für übertrieben?«

»Ich liebe dich, mein Schatz«, wich er ihr geschickt aus. »Und ich weiß, dass du nicht gegen das angehen kannst, was dir dein Herz sagt. Aber hilf mir, die Wogen des Unmutes ein wenig zu glätten.« Er beugte sich zu ihr, um ihr einen Kuss zu geben.

»Ich werde pünktlich zum Abendessen erscheinen«, versprach sie ihm, »und als brave Schwiegertochter beim Tischgebet keine Anspielung darauf machen, dass Jesus nicht von weißer oder schwarzer Hautfarbe gesprochen hat, als er uns zur Nächstenliebe ermahnte.«

Andrew lachte. »Das ist auch gut so, schon um des lieben Hausfriedens willen«, sagte er und eilte wieder hinaus.

Wie merkwürdig, dachte Abby, dass das Schicksal erst dieses Aborigine-Mädchen nach Yulara hatte verschlagen müssen, damit sie die Menschen besser verstand und beurteilen konnte, mit denen sie schon seit Jahren zusammenlebte und die sie doch so gut zu kennen geglaubt hatte. Nicht, dass sie ihren Schwiegervater, Melvin und Rosanna ob ihres Verhaltens weniger zugetan gewesen wäre oder sie gar verurteilt hätte. Nichts lag ihr ferner. Sie war ehrlich genug, um auch sich nicht von Vorurteilen und anderen Schwächen freizusprechen.

Nein, diese Tage hatten ihr die Augen geöffnet, über die anderen wie auch über sich selbst. Wenn man wirklich ehrlich in den Spiegel schaute, konnte man nicht auf alles, was man dann sah, stolz sein. Und was ihren Schwiegervater und Melvin anging, so war die vorbehaltlose Bewunderung, die sie ihnen bisher entgegengebracht hatte, auf ein mehr natürliches Maß zusammengeschrumpft und das war nichts Schlechtes.

Donnergrollen rollte über das Land. Abby erhob sich aus dem harten Lehnstuhl und trat an das einzige Fenster des Raumes. Es war so schmal, dass es sogar ihr noch Schwierigkeiten bereitet hätte, sich durch diese Öffnung ins Freie zu zwängen. Blitze zuckten aus den dunklen Wolken und verbanden Himmel und Erde mit ihrer grell gezackten Bahn. Die Blitze kamen in schneller Folge. Es krachte und donnerte, als feuerten zwei Kriegsschiffe Breitseite um Breitseite aufeinander ab. Doch kein Tropfen fiel auf das durstende Land. Die Hoffnung auf Regen erfüllte sich nicht.

Wie ein brüllender und Feuer speiender Derwisch zog das Hitzegewitter über Yulara hinweg. Abby wich nicht vom Fenster. Die Großartigkeit dieses Naturschauspiels erfüllte sie mit Furcht wie mit Faszination.

Plötzlich kehrten ihre Gedanken, die sie ziellos hatte treiben lassen, wieder in die Kammer zurück. Niemand hatte die Tür geöffnet und war eingetreten und dennoch hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden.

Langsam drehte sie sich um und schaute zum Bett.

Sie begegnete dem Blick der Schwarzen. Zum ersten Mal zeigten deren Augen einen klaren, wachen und zielgerichteten Ausdruck.

Abby freute sich, dass das Aborigine-Mädchen sich endlich aus der wirren Welt der Fieberphantasien befreit hatte und nun ansprechbar war. Mit einem Lächeln, das Zutrauen wecken sollte, trat sie zu ihr ans Bett.

Der Blick der Eingeborenen gab Abby frei, sprang nun ruckartig von Wand zu Wand, ging zur Decke und zum Fenster und kehrte dann zu Abby zurück.

»Du bist auf Yulara, der Farm der Chandlers«, sagte Abby mit bewusst ruhiger Stimme. »Und du hast bei dem Buschfeuer, vor dem wir dich noch im letzten Moment retten konnten, einige böse Verbrennungen erlitten. Du warst vier Tage im Fieberdelirium. Es sah wirklich nicht gut für dich aus. Aber du hast tapfer gekämpft und jetzt wirst du wieder gesund werden.«

Stumm blickte die Schwarze sie an.

»Kannst du mich verstehen?«

Keine Reaktion.

»Ich heiße Abby. Kannst du mir deinen Namen sagen?«

Die Lippen der Schwarzen bewegten sich nicht, doch ihre Augen ließen Abby nicht los.

Diese ließ sich so schnell nicht entmutigen und bewahrte ihr Lächeln. »Ich bin Abby... Mein Name ist Abby ... Abby ... Abby«, wiederholte sie mehrmals und schlug sich dabei jedes Mal mit der flachen Hand leicht vor die Brust. Dann richtete sie den Zeigefinger auf das Aborigine-Mädchen und fragte nach ihrem Namen. Das wiederholte sie ein gutes Dutzend Mal, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Es schien, als begriff die Schwarze überhaupt nicht, was sie von ihr wollte.

Schließlich sank Abby mit einem resignierenden Seufzer in den Stuhl. »Schade«, murmelte sie.

»Nangala«, sagte da die dunkelhäutige Fremde mit rauer, kehliger Stimme.

Abby strahlte über das ganze Gesicht. »Nangala?«, fragte sie freudig und voller Stolz, ihr nun doch ihren Namen entlockt zu haben. »Du heißt Nangala?«

Die Schwarze legte ihre flache Hand, so wie Abby es getan hatte, auf ihre Brust und wiederholte: »Nangala.«

Abby lachte sie an und nickte. »Du bist Nangala und ich bin Abby.« Sie hoffte auf ein Lächeln oder eine andere Reaktion, doch das Mädchen verriet mit keiner Miene, was es dachte oder fühlte.

»Du verstehst unsere Sprache also nicht«, sagte sie eine Weile später. »Das ist wirklich schade, Nangala, denn ich hätte mich gern mit dir unterhalten. Ich hätte dir auch gern etwas vorgelesen und dir die Zeit, die du noch das Krankenbett hüten musst, damit verkürzt. Aber daraus wird ja nun nichts. Obwohl...«

Abby entsann sich plötzlich einer Begebenheit aus ihrer Kindheit. »Aber vielleicht hilft es dir, wenn ich dennoch mit dir rede. Meine Mutter hat einmal gesagt, dass es nicht immer darauf ankommt, ob man von einem Kranken auch verstanden wird, wenn man zu ihm spricht. Sie sagte, viel wichtiger sei es, dass man mit ihm redet und ihm das Gefühl gibt, nicht allein zu sein und Anteil zu nehmen. Das war, als Vater diesen schwer verletzten Holländer ins Haus nahm, der direkt vor unserer Tür von einer herrschaftlichen Kutsche angefahren worden war. Ich war damals gerade fünf und der Holländer ist sechs Wochen unter unserem Dach geblieben. Mutters Geschichten haben ihm, obwohl er sie nicht verstehen konnte, doch geholfen, wie er uns nach seiner Genesung zu verstehen gab.«

Verwundert über die Erinnerungen, die plötzlich wieder in ihr wach wurden, schüttelte Abby den Kopf. Eine Welt, die sie längst vergessen geglaubt hatte, kehrte mit Macht zurück: ihre Kindheit in England, ihre Eltern ...

»Vielleicht erzähle ich dir ein wenig von mir«, sagte Abby versonnen. »Damals, als Mutter den Holländer gesund pflegte, war mein Vater ein wohlhabender Kaufmann und wir lebten in einem schönen Haus. Wir hatten sogar Dienstpersonal. Wie gut es mir ging, habe ich erst erkannt, als Vater tot war und meine Mutter über Nacht mit leeren Händen dastand. Vater hatte sehr ehrgeizige Ziele und wollte mit einem Schlag richtig reich werden. Er steckte jeden Penny, den er hatte, und noch einiges an geliehenem Geld in eine Schiffsladung Gewürze und Stoffe. Doch dieses Schiff ging auf der Fahrt von Indien zurück nach England unter - und Vater mit ihm. Für uns brachen die bitteren Zeiten der Armut an. Mutter ist nun auch schon fast fünf Jahre tot...«

Abby schwieg einen Moment. Dann fuhr sie fort: »Ich will dir erzählen, wie ich in dieses Land gekommen bin, Nangala. Es geschah wahrlich nicht freiwillig, das kann ich dir versichern. Ich kam als Sträfling. Aber halt, ich zäume das Pferd ja von hinten auf. Besser erzählte ich der Reihe nach.«

Sie machte eine kurze Pause. »Alles begann damit, dass Mutter mit einem schweren Lungenleiden darniederlag und ich an einem eisigen Februarmorgen vor nicht ganz fünf Jahren unsere zugige Dachkammer verließ, ohne zu ahnen, dass ich meine Mutter niemals wiedersehen würde. Ich wollte irgendwo Brot erbetteln oder notfalls meinen Umhang versetzen. Aber dazu kam es dann gar nicht mehr. Ein frecher Taschendieb, der einer der vielen Londoner Straßenbanden angehörte, wurde dabei ertappt, wie er einem feinen Mann die Geldbörse aus der Rocktasche zog. Er suchte sein Heil in der Flucht, die ihn an mir vorbeiführte. Er wurde von aufgebrachten Bürgern verfolgt und entledigte sich der Diebesbeute, indem er die Geldbörse in meinen Korb warf, während er an mir vorbeilief. Ich verlor den Kopf und rannte auch los und das war mein großer Fehler. Ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte man mich gefasst und als angebliche Komplizin des Diebes in den Kerker von Newgate geworfen. Newgate, mein Gott!«

Auch nach all den Jahren, die nun schon vergangen waren, rief die Erinnerung an das Gefängnis von Newgate Beklemmung in ihr hervor. Ein Schauer kroch ihr den Rücken hoch und eine Gänsehaut überzog ihre Arme, die sie unwillkürlich wie Schutz suchend vor die Brust legte und kreuzte.

»Newgate war die Hölle auf Erden«, erinnerte sie sich mit leiser, angespannter Stimme, »und das ist sie auch heute noch für jeden, der dort hinter Gittern landet. Man hielt uns wie Vieh, nein, schlimmer noch. Es gab kein Erbarmen, nicht einmal unter den Insassen. Die hässlichsten Seiten des Menschen regierten in den von Ratten, Ungeziefer, Schimmel und mit Fäkalien verseuchten Kerkern. Meine Mutter erlag wenig später ihrer Krankheit und auch ich hätte den Winter nicht überlebt. Doch ich hatte Glück im Unglück, indem ich schnell vor Gericht gestellt und in einem dieser lächerlichen 5-Minuten-Prozesse zu sieben Jahren Deportation in die neue Sträflingskolonie New South Wales verurteilt wurde. In Wirklichkeit bedeutet dieses Urteil natürlich lebenslängliche Verbannung, denn wer kann es sich schon leisten, die Kosten für die Überfahrt nach England aufzubringen, wenn er hier seine Strafe verbüßt hat. Die Überfahrt, mein Gott!«

Abby holte tief Atem und schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht glauben, was ein Mensch alles zu erdulden und zu überstehen vermochte, wenn sein Wille zu überleben stärker war als Angst, Schmerzen und die Versuchung, der Qual durch Selbstaufgabe ein Ende zu bereiten.

»Die Überfahrt im Zwischendeck auf der Kent, so hieß der Ostindienfahrer, dauerte über ein halbes Jahr. Und wenn die Hölle von Newgate auch nicht zu übertreffen war, so waren diese schrecklich langen Monate auf See doch eine Qual. Viele haben die Passage nicht überlebt. Aber dann, an einem heißen Tag im Januar des Jahres 1805, lief die Kent endlich im Hafen von Sydney ein. Rachel, das ist meine Freundin, und ich wurden mit vielen anderen Frauen nach Parramatta ins dortige Frauengefängnis geschickt, die aber alle nur Factory nennen, weil die Insassen dort hart arbeiten müssen.«

Abby lachte plötzlich trocken auf. »Hast du schon mal von der ›Fleischbeschau‹ in der Factory gehört? Nein, natürlich nicht. Ab und zu wird im Frauengefängnis von Parramatta ein Heiratsmarkt abgehalten, den Sträflinge wie Aufseher abschätzig Fleischbeschau nennen. Und so falsch liegen sie damit auch gar nicht. Einen habe ich erlebt und es sind wahrlich keine schönen Erinnerungen, die ich daran habe. Weißt du, in der Kolonie herrscht nämlich noch immer ein großer Mangel an Frauen. Und so kommen dann mehrmals im Jahr heiratswillige Siedler zu diesem Heiratsmarkt in der Factory, um dort nach einer Ehefrau zu suchen. Viel Zeit bleibt da nicht, denn die Hochzeit der Paare findet meist noch am selben Nachmittag statt. In ein paar Stunden muss man sich also handelseinig sein, und es ist ja wirklich ein sehr nüchterner Handel, der da zwischen Mann und Frau geschlossen wird. Die Frauen bieten ihre Arbeitskraft und... ja, und ihre Bereitschaft, Tisch und Bett mit diesem Fremden zu teilen, während der Mann die Freiheit und Chance zu einem Neuanfang bietet. Denn wer einen Freien oder einen Emanzipisten heiratet, kann damit rechnen, dass seinem Begnadigungsgesuch stattgegeben wird - sofern man sich die Herren Offiziere nicht gerade persönlich zum Feind macht. Tja, und manchmal kann aus diesem entsetzlich sachlichen Geschäft, das zu einer Ehe führt, auch richtige Liebe werden. Das ist meiner Freundin Rachel widerfahren, die bei einer solchen Fleischbeschau den Heiratsantrag des Fassbinders John Simon angenommen hat. Beide sind so glücklich miteinander, als wären sie eine Liebesheirat eingegangen.«

Nangala hatte sie die ganze Zeit angeschaut und Abby hatte den Eindruck, als würde sie ihren Worten aufmerksam lauschen, auch wenn sie nicht verstehen mochte, was sie da erzählte. Und das veranlasste sie, weiter von sich zu berichten.

»Seit einigen Monaten bin auch ich verheiratet. Aber ich habe Andrew, meinen Mann, nicht auf diesem Heiratsmarkt in Parramatta kennen gelernt. Das erste Mal habe ich ihn und seine Schwester an Deck der Kent gesehen, die sie als freie Siedler nach New South Wales brachte. Ich bin dabei ihrem Vater, Jonathan Chandler, aufgefallen, weil ich schreiben und lesen kann. Später dann hat er mich als Arbeitskraft angefordert und so bin ich nach Yulara am Hawkesbury River gekommen. Ich habe mich um Sarah gekümmert, aber täglich auch viele Stunden harter Arbeit leisten müssen, wie jeder auf der Farm. Tja, und Andrew und ich ... also anfangs haben wir beide geglaubt, uns nicht leiden zu können. Aber das stimmte nicht. Wir wollten wohl nicht wahrhaben, dass wir uns vom andern angezogen fühlten, und haben uns dagegen gewehrt. Aber letztlich sind unsere wahren Gefühle doch stärker gewesen und ich bin glücklich, dass alles so gekommen ist.«

Ein Lächeln, das aus der Tiefe ihres Herzens kam, verklärte ihren Blick. »Nie hätte ich für möglich gehalten, dass ich einmal ein solches Glück empfinden würde, wie ich es jetzt mit Andrew gefunden habe. Aber als die Kent in der Bucht von Sydney vor Anker ging, hätte ich ja auch niemals geglaubt, dass ich dieses wilde, sonnendurchglühte Land einmal so sehr lieben und als meine Heimat betrachten würde.«

Etwas in Nangalas stummem Blick löste in ihr ein Gefühl der Irritation aus, das schon beinahe an Verlegenheit grenzte. »Dieses Land ist natürlich auch deine Heimat, nicht wahr? Was heißt ›auch‹! Es ist sie ... na ja, ist sie wohl gewesen. Das Land gehörte dir und deinem Stamm, bevor wir Weißen kamen. Wir haben euch vertrieben und bauen auf eurem Land unsere Siedlungen und Farmen, und wir Weißen töten euch, wo immer ihr nicht freiwillig zurückweicht, oder wenn ihr Vieh stehlt, und das ist ein großes Unrecht.«

Nangala nahm ihren Blick nicht eine Sekunde von ihr. Abby fühlte sich sehr unbehaglich und wie unter einer Anklage. Natürlich war das nur Einbildung, aber dennoch konnte sie sich dieses beklemmenden Gefühls nicht erwehren.

»Aber ich kann nichts dafür, Nangala«, verteidigte sie sich unwillkürlich. »Die meisten Kolonisten können nichts dafür. Sie sind ja als Sträflinge nach Australien gekommen und im Grunde genommen aus ihrer Heimat vertrieben worden wie ihr. Das gibt ihnen natürlich nicht das Recht, Unrecht und Grausamkeit mit noch größerem Unrecht und noch abscheulicheren Grausamkeiten zu vergelten. Ist das nicht eine Schande für die Menschheit? Ich meine diesen bösen Lauf der Welt, in der schon seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden der eine das Land des anderen mit Feuer und Schwert erobert und die Menschen, die dort seit Generationen ihre Heimat gehabt haben, vertreibt, unterjocht oder gar tötet.

Und immer ist von Vaterland, Ehre und göttlichem Auftrag die Rede, wenn es darum geht, über andere Völker herzufallen. Manchmal frage ich mich, was mit uns Menschen nicht stimmt. Weißt du, eigentlich müssten wir doch kraft unseres Verstandes vernünftig sein und friedliche Wege suchen. Wir Menschen dünken uns so überlegen und verhalten uns doch viel primitiver und grausamer als die wilden Tiere im Busch.«

Ihre Worte verklangen ohne eine Antwort und die Stille in Verbindung mit Nangalas unbewegtem Blick machte Abby verlegen.

»Aber was rede ich da für ein wirres Zeug. Wenn Melvin mich hören könnte, würde er mich necken und mich wieder als ›Wald-und-Weiden-Philosophin vom Hawkesbury‹ verspotten. Das tut er gelegentlich, wenn ich ins Grübeln komme und mir so vieles durch den Kopf geht - und ich so unüberlegt bin, es einfach aus mir heraussprudeln zu lassen. Melvin ist nämlich ein Studierter - zumindest fast. Aber er hat mich ja nicht gehört. Und du sei froh, dass du es nicht verstanden hast. So, und jetzt ist es an der Zeit, auf deine Wunden wieder neue Salbe aufzutragen.«

Abby erhob sich und trat ans Bett. Als sie Nangalas rechten Arm nehmen und den Verband aufbinden wollte, zuckte die Schwarze zurück.

»Hab keine Angst, ich werde dir nicht wehtun«, versprach Abby mit ruhiger Stimme. »Ich werde ganz vorsichtig sein und nicht zulassen, dass du große Schmerzen hast. Ich habe Laudanum. Aber die Verbände müssen regelmäßig gewechselt werden, wenn die Wunden rasch verheilen sollen. Du musst mir vertrauen, Nangala.«

Zögernd überließ Nangala ihr nun ihren Arm. Stumm sah sie zu, wie Abby den Verband abrollte und die hässlichen Brandwunden mit der Salbe einrieb, der ein deutlicher Eukalyptusduft entströmte. Obwohl Abby mit äußerster Behutsamkeit vorging, bereiteten ihre Berührungen der Schwarzen jedoch sichtlich Schmerzen. Nangala zog ihren Arm jedoch nicht zurück.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Abby alle fünf Verbände erneuert und Nangala den schmerzstillenden Laudanumtrunk eingeflößt hatte. Bald darauf schlief die Eingeborene ein und Abby griff zu einer Handarbeit, um die Stunden des Wartens nicht untätig verstreichen zu lassen, sondern für sinnvolle Arbeit zu nutzen. Es gab genug Wäsche, die geflickt werden musste, und Sarah wuchs so rasch aus ihren Sachen heraus, dass Rosanna und sie, Abby, mit dem Auslassen und Nähen neuer Kleider kaum noch nachkamen.

Abby verbrachte in den folgenden Tagen viele Stunden in der engen, stickigen Kammer und kümmerte sich hingebungsvoll um Nangala. Sie versorgte nicht nur ihre langsam heilenden Verletzungen, sondern wusch sie, erzählte ihr Geschichten und zeigte Geduld, wenn Nangala dieses oder jenes Essen aus unerfindlichen Gründen nicht anrührte und Rosanna sich darüber erregte, »ausgerechnet einer schwarzen Götzenanbeterin noch ein besonderes Essen zubereiten zu müssen«, wie sie sich ausdrückte. Nangala war für sie nur »die Wilde« oder die »schwarze Götzenanbeterin«. Den Namen benutzte sie nie, was auch auf viele andere auf Yulara zutraf. Die meisten zogen es vor, unpersönlich von der »Schwarzen« zu sprechen oder gar eines der Schimpfwörter zu benutzen, die über die Aborigines im Umlauf waren.

In diesen langen Stunden versuchte Abby mehr als einmal, Nangala zum Sprechen zu bringen. Auch wenn sie die Sprache der Aborigines nicht verstand, so hätte es ihr doch etwas gegeben, sie reden zu hören. Doch Nangala zeigte keinerlei Reaktion. Fast hätte man meinen können, sie wäre mit Stummheit geschlagen.

»Du nimmst das viel zu persönlich und machst dir zu viele Gedanken«, versuchte Andrew sie zu trösten, als Abby ihm gestand, wie betrübt sie über Nangalas Verhalten war, das sie mit dem einer Schnecke verglich, die sich beharrlich in ihrem Schneckenhaus verborgen hielt und sich jedem Zugriff verwehrte. »Wer weiß denn schon, was in den Köpfen dieser Wilden vor sich geht.«

»Was ihr durch den Kopf geht, möchte ich auch wissen. Aber dass es sich sehr von dem unterscheidet, was sich bei uns im Kopf abspielt, wage ich doch sehr zu bezweifeln. Und rede du bitte nicht auch noch so abschätzig über Nangala. Es reicht, wenn Rosanna und dein Bruder vergessen, dass diese Menschen schon lange vor uns in diesem Land waren und genauso Teil von Gottes Schöpfung sind wie alles andere auf der Welt.«

Verwundert blickte Andrew sie an. »Ich habe das überhaupt nicht abschätzig gemeint, Abby!«, versicherte er.

Sie glaubte ihm, doch dieses unbewusst herablassende Wohlwollen war letztlich kaum weniger abwertend als offene Verachtung. Dass Andrew sie gegenüber seinem Vater und Bruder in Schutz nahm und ihr den Rücken stärkte, rechnete sie ihm hoch an.

Abby ließ Krücken anfertigen, damit Nangala erste Gehversuche unternehmen konnte, die auch vielversprechend ausfielen. Die Heilung machte rasche Fortschritte.

»Bald bist du wieder so munter auf den Beinen wie ein junges Känguru«, sagte Abby am Abend jenes Tages zuversichtlich, nachdem sie noch einmal die restlichen zwei Verbände erneuert und ihr einen Krug frisches Wasser für die Nacht ans Bett gestellt hatte.

Abby hielt die Hand hinter die Kerze der Wandleuchte und blies die Flamme aus. »Gute Nacht«, sagte sie und wollte aus dem Zimmer gehen.

In dem Moment griff Nangala nach ihrer Hand und drückte sie, als wollte sie sich bedanken und den Gutenachtgruß auf ihre stumme Art erwidern.

Überrascht blieb Abby stehen.

»Abby«, kam Nangalas Stimme aus der Dunkelheit. Erneut drückte sie ihren Arm und sprach noch einmal ihren Namen aus: »Abby.« Danach ließ sie den Arm los und drehte sich auf die Seite.

Einen Augenblick lang stand Abby in der Dunkelheit still neben dem Bett. Zum ersten Mal hatte Nangala ihren Namen ausgesprochen und sie hatte ihren Arm gedrückt! Endlich war die Mauer der Stummheit und Reaktionslosigkeit durchbrochen.

Abby hatte Tränen in den Augen, als sie die Kammer verließ.