Sechstes Kapitel
Am sechsten Tag ihrer Wanderung kam der heilige Ort, das Ziel der Katajunga, endlich in Sicht. Wie eine eerdhir, eine Fata Morgana, tauchte die Felsgruppe von Tiheri Maamu Kuran in der flirrenden Hitze aus dem weiten, welligen Buschland auf. Für Stunden hatte es den Anschein, als wollten die felsigen Erhebungen, die aus der Ferne einer dicht beieinander ruhenden Herde Kamele ähnelten, nicht näher rücken. Dafür wuchsen die glänzenden Buckel im Licht der untergehenden Sonne dann umso rascher aus dem Boden.
Abby schätzte, dass der höchste der Felsen gut siebzig bis achtzig Yards in den Himmel aufragte. Zwischen den einzelnen Felsen entdeckte sie auf verschiedenen Höhen kleine terrassenartige Flächen, die von Bäumen und Buschwerk bestanden waren. Dass die Aborigines diesen Ort verehrten, verwunderte sie nicht, war doch diese Felsgruppe, die man wohl gut in einer halben Stunde umrunden konnte, im Umkreis von vielen Tagesmärschen die einzig ungewöhnliche Erhebung in einer ansonsten fast ebenen Wildnis aus rotbrauner Erde, struppigen Grasflächen, Dornenbüschen und vereinzelten Baumgruppen.
Die Katajunga schlugen ihr Lager auf der Ostseite auf, wo sich zwei Felsen im oberen Drittel gegenseitig zu stützen schienen, so dass der untere Teil eine Art Höhle bildete, die nun am Abend von tiefen Schatten erfüllt war.
»Das ist der Zugang zum heiligen Ort, wo die corroborrees des Frühjahrsvollmonds gefeiert werden«, raunte Nangala ihr zu, als sie den mia, den Windschirm, errichteten, den sie miteinander teilten.
Abby erfuhr, dass die Wände im Innern der Felsgruppe mit Malereien bedeckt waren. Der Kult der Aborigines schrieb ihnen vor, diese Felsmalereien regelmäßig mit frischen Farben aus rotem und gelbem Ocker sowie weißen Kalken, ja auch mit Blut zu erneuern. Das Auffrischen der Felsbilder gehörte zum Ritual, symbolisierte den Schöpfungsakt der Ahnen und bewahrte die Stammesmythologie.
»Darf ich mir diese Malereien einmal ansehen?«
Nangala machte ein erschrockenes Gesicht. »Nein, niemals! Uns Frauen ist der Zutritt zu diesen heiligen Stätten verboten. Nur die eingeweihten Männer haben Zugang und dürfen an den Zeremonien der Fledermaus- und Eidechsencorroborrees teilnehmen.«
Abby verzog spöttisch das Gesicht. »Das ist ja bei euch dann auch nicht viel anders als bei uns Weißgesichtern. Bei uns ist den Frauen auch so vieles verboten, was Männer tun. In unseren heiligen Stätten, den Kirchen, dürfen auch nur Männer die Zeremonien ausführen. Und in der Politik haben wir Frauen ebenfalls nichts zu sagen - es sei denn, man ist Königin. Irgendwie ist das nicht fair.«
»Dafür haben wir unsere eigenen corroborrees«, tröstete sie Nangala.
»Was ist das überhaupt, dieses Fest der Fledermaus und der Eidechse«, fragte Abby, als sie sah, wie die Männer ihre Körper kunstvoll bemalten und die Farben auf ihren Sakralgegenständen, tjurunga genannt, auffrischten. Dabei handelte es sich um längliche, flache Holzbretter und Stäbe mit geheimnisvollen Verzierungen. Zwei Männer hantierten mit langen Holzrohren, die mit farbigen Kreisen bemalt waren. Didjeridoo hießen die primitiven Blasinstrumente, die einen dumpfen, näselnden Ton von sich gaben und bei allen corroborrees eingesetzt wurden.
»Die Fledermaus und die Eidechse sind die beiden Totems der Katajunga«, erklärte Nangala. Durch sein persönliches Totem identifizierte sich ein Aborigine mit den Schöpfungswesen der Urzeit und durch die vorgeschriebenen Rituale auf den Traumpfaden nahm er Kontakt mit seinen Ahnen auf. Tiere des eigenen Totems durften in der Regel nicht getötet werden. Wenn die Umstände es dennoch verlangten, waren komplizierte Versöhnungsriten vorgeschrieben.
»Und wie kommt es, dass ausgerechnet die Fledermaus und die Eidechse die Ahnen eures Stammes sind?«, wollte Abby wissen, während die Männer nun das Lager verließen und in der Schwärze zwischen den Felsen verschwanden, die den Zugang zum heiligen Innenbereich bildeten.
Nangala begann von der Traumzeit zu erzählen, als Mensch und Tier noch nicht in eigenen Welten lebten, sondern sich verwandeln konnten. In jener mythischen Urzeit lebte der Fledermausmann an einem von Felsen und Bäumen geschützten, fast schon paradiesischen Ort. Er hatte Wasser und Nahrung in Hülle und Fülle. Aber er lebte allein an diesem wunderbaren Platz und mit der Zeit litt er sehr unter der Einsamkeit, die ihm die Tage und die Nächte unerträglich lang werden und ihm das Leben ohne Sinn erscheinen ließ.
Eines Tages beschloss er loszuziehen, um jemanden zu suchen und zu finden, der bereit war, seine paradiesische Heimat mit ihm zu teilen und ihn von der bedrückenden Einsamkeit zu befreien. Als er die große Ebene erreichte, verspürte er Hunger, und so machte er Jagd auf das erste Lebewesen, das ihm begegnete – und wie es der Zufall wollte, war das eine prächtige Goana-Eidechse.
Der Fledermausmann war ein geschickter Jäger, doch diesmal war ihm kein Glück beschieden. Die flinke Eidechse verstand es, ihm immer wieder zu entkommen. Dabei legten beide eine lange Strecke zurück. Schließlich erreichten sie eine Felsgruppe. Dort flüchtete die Eidechse durch ein Labyrinth enger, gewundener Spalten und versteckte sich in einer Höhle. Ihr Vorsprung gab ihr Zeit, sich in ihre Menschengestalt zu verwandeln - und zwar in zwei junge Frauen.
Als der Fledermausmann die Höhle betrat und die beiden schönen Frauen sah, war seine Freude groß, denn auch sie lebten allein und waren der Einsamkeit längst überdrüssig. Gern wollten sie mit dem Fledermausmann zusammenleben, zumal er in Menschengestalt ein stattlicher Krieger war und als guter Jäger reichlich Beute von seinen Jagdzügen zurückbrachte. Auch als Geschichtenerzähler, Sänger und Tänzer machte er großen Eindruck auf die Eidechsenfrauen und sie überredeten ihn, bei ihnen zu bleiben.
Anfangs gefiel ihm das Leben bei ihnen sehr gut. Doch je mehr Zeit verstrich, desto mehr missfiel ihm die Dunkelheit der Höhle und die umgebende Landschaft. Seine Heimat erschien ihm um ein Vielfaches reizvoller und er erzählte ihnen von seinem paradiesischen Ort. Aber sosehr er seinen Ort auch in einem kunstvollen Gesang in den schillerndsten Farben lobte und beschrieb und sosehr er sich bemühte sie zum Aufbruch dorthin zu bewegen, sie sträubten sich doch, ihre Heimat zu verlassen. Sie wollten nichts davon wissen und baten vielmehr ihn eindringlich, doch seine Heimat zu vergessen und die Schönheit ihres Landes zu sehen und sich mit ihnen hier einzurichten.
Da geriet der Fledermausmann in Zorn, packte die beiden Frauen und band sie mit den Haaren an seinen Speer. So zog er sie hinter sich her. Sie wehrten sich nach Kräften und erzwangen zweimal einen Halt. Jedes Mal schlug der Fledermausmann ihnen einen Vorderzahn aus. Beim dritten Mal jedoch versuchten sie sein Herz nicht durch Klagen und Schimpfen zu erweichen, sondern sie sangen ihm ein sehnsuchtsvolles Lied. In diesem Lied priesen sie die Schönheit ihres Landes, das denjenigen, der geduldig ist und sich alle Orte gut einprägt, letzten Endes reich belohnt.
Da wurde der Fledermausmann nachdenklich und erkannte, dass es mehr als nur eine Heimat gab, die ein Loblied verdient hatte, und er beschloss, in der Heimat der Eidechsenfrauen zu bleiben. Er hatte mit ihnen viele Kinder, aus denen dann der Stamm der Katajunga entstand.
»Und seit dieser Zeit tragen die Männer der Katajunga das Totem der Fledermaus, von der sie die Schnelligkeit bei der Jagd verliehen bekommen haben, und die Frauen das der Eidechse, von der sie gelernt haben, so spürsicher wie kein anderer Wasser zu finden«, schloss Nangala ihre Erzählung, die für sie zum lebendigen Erbe ihrer Ahnen gehörte und ihr Denken und Handeln bestimmte.
Der Vollmond stand mittlerweile am Himmel und leuchtete wie ein polierter Silberteller. Nicht eine Wolke, von den Aborigines »Schatten des Wassers« genannt, zog über das sternenklare Firmament.
Von jenseits der Felsen drang nun gedämpft der Gesang der Männer zum Lager, der die ganze Nacht kein Ende nehmen sollte. Unruhig wälzte sich Abby auf ihrem primitiven Lager hin und her und vermochte einfach keinen Schlaf zu finden. Ihre sehnsuchtsvollen Gedanken gingen zu Andrew nach Yulara. Sie betete, dass er aus irgendeinem Grund wusste oder fühlte, dass sie nicht tot war und zu ihm zurückkehren würde.
Am nächsten Tag bedrängte sie Nangala, beim Rat der Ältesten Fürsprache für sie zu halten und eine Möglichkeit zu finden, sie möglichst bald in die Kolonie zurückzubringen.
»Meine Familie vermisst mich, Nangala, und ich möchte zu meinem Mann. Ich bin euch und den Katajuri dankbar für alles, was ihr getan habt. Aber mittlerweile sind seit meinem Verschwinden schon drei Wochen vergangen. Eure Stammesführer müssen doch verstehen, dass ich zurück will!«
»Ich werde versuchen, was ich kann«, versprach Nangala, machte ihr aber keine große Hoffnung. »Das Fest der Fledermaus und der Eidechse ist unsere heiligste corroborree, und ich habe zu lange bei den Weißgesichtern gelebt, als dass mein Wort im Kreis meiner Leute schon Gewicht hätte. Zwar hat man mir nicht so wie meinem Vater ein Schweigegebot auferlegt, aber auch bei mir wird es noch dauern, bis ich wieder richtig zu ihnen gehöre. Doch ich werde mit ihnen sprechen.«
Als Nangala später am Tag mit dem Beschluss der Ältesten zu Abby zurückkehrte, sagte ihre bedauernde Miene schon, dass sie keinen Erfolg gehabt hatte.
»Sie verstehen, dass du zu deinen Leuten zurück möchtest, Abby. Aber sie sagen, dass du dich gedulden musst, bis die Zeremonien ihr Ende gefunden haben.«
»Und wie lange wird das dauern?«
»Ein, zwei Wochen, wer weiß.«
Abby war den Tränen nahe. Den ganzen Tag zermarterte sie sich den Kopf, was sie bloß tun konnte, damit die Ältesten des Stammes ein Einsehen mit ihr hatten. Sie überlegte in ihrer Verzweiflung sogar, ob sie sich nicht allein auf den Weg machen sollte, verwarf diese Möglichkeit jedoch schnell wieder. Wie sollte sie auf dem langen Marsch die verborgenen Wasserstellen finden? Und dann die Blue Mountains! Niemals würde es ihr gelingen, die Berge ohne einen kundigen Führer zu überqueren. Sie war den Katajunga auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.