Zwölftes Kapitel
Zwei Tage später überquerten sie den letzten, westlichsten Bergzug der Blue Mountains.
Sie waren sehr früh an diesem Morgen aufgebrochen, nachdem sie sich die Reste des gebratenen Beuteltiers geteilt hatten, das Baralong am Abend zuvor erlegt hatte. Im Vergleich zu den hohen und wild zerklüfteten Höhenzügen, die hinter ihnen lagen, erschien Andrew dieser letzte Anstieg hoch auf den Bergrücken wie ein forscher Spaziergang. Der Morgennebel hing in den Tälern und nahm sich im Licht der Dämmerung wie milchige Seen aus.
Der schwere Regen vor zwei Tagen hatte die Spuren der Katajuri weggewaschen, und damit war bei Andrew die Angst zurückgekehrt, dass Abby ihre Verletzung vielleicht nicht überlebt hatte. Er sorgte sich auch, ob es Baralong noch einmal gelingen würde, die Fährte der Sippe, die seine Frau verschleppt hatte, wieder aufzunehmen.
Doch von Verschleppung wollte Baralong nichts wissen. »Kein Yapa verschleppt ein Weißgesicht, und schon gar keine Frau«, versicherte er ihm. »Dafür ist die Sorge zu groß, dass ein Gubba die Geister auf den eigenen Traumpfaden verstimmen und Unglück über die Sippe bringen könnte.«
»Aber dennoch haben sie Abby mitgenommen, wie wir wissen«, entgegnete Andrew, dessen Gedanken sich in einem beklemmenden Teufelskreis aus Hoffnung und Angst bewegten.
»Sie müssen dafür einen wichtigen Grund gehabt haben.«
»Weil sie verwundet gewesen ist?«
Baralong schüttelte den Kopf. »Das allein hätte nicht gereicht. Es muss noch etwas anderes gewesen sein, doch frage mich nicht, was sie dazu veranlasst hat. Ich weiß es nicht, aber wir werden es erfahren, wenn die Zeit dafür gekommen ist.«
Eine gute Stunde später stießen sie in einem Waldstück auf eine Art Höhle. Hier fand Baralong Spuren eines Feuers, Knochenreste und gut erhaltene Abdrücke von einem besonders großen und schweren coolamon, die exakt mit denen identisch waren, denen sie bis zum Regen gefolgt waren.
»Hier hat deine Frau also noch gelebt«, folgerte Baralong. »Und wenn sie mit ihrer Verwundung schon so viele Tage durchgehalten hat, dann spricht einiges dafür, dass sie auch am Leben sein wird, wenn wir auf sie stoßen.«
Das war Balsam für Andrews gequälte Seele und stärkte seine Zuversicht. Er schritt gleich viel leichter aus. Welch eine seelische Erleichterung es doch war, dass Baralong wieder auf die Fährte der Katajuri gestoßen war und alles darauf hindeutete, dass Gott seine schützende Hand über Abby hielt!
Sie kamen aus dem Wald. Ein letzter Hang, der erklommen werden musste, dann hatten sie den Bergrücken erreicht - und vor ihren Augen lag im Licht der frühen Morgensonne das fremde Land, das sich westlich der Blue Mountains erstreckte.
Ich habe die Blue Mountains überquert! Wie viele Weiße haben vor mir dieses Land zu Gesicht bekommen? Vielleicht sind Abby und ich wirklich die ersten. Zumindest ist noch niemand zurückgekehrt und hat davon berichtet. Aber es ist auch nicht wichtig. Wir haben es geschafft. Wir haben es geschafft!
Andächtig schaute Andrew hinaus auf das sanft gewellte Hügelland, das von silbrigem und bläulichem Salzkrautgebüsch wie von einem Vlies überzogen wurde und sich in diesem sanften Gleichmaß wie ein Meer bis an den fernen Horizont dehnte. Ob Süden, Westen oder Norden, nirgendwo hinderten aufragende Bergzüge den Blick in die scheinbar grenzenlose Weite. Andrew bemerkte überall große Grasflächen und silbergrüne Baumgruppen. Die Landschaft hatte Ähnlichkeit mit dem Buschland der Kolonie, sah jedoch bedeutend fruchtbarer und verlockender aus.
»Was für ein wunderbares Land!«
»Ja, aber für ein Weißgesicht ist es auch ein sehr gefährliches Land«, sagte Baralong.
Das dämpfte Andrews fast euphorische Stimmung. »Gefährlich? Auf mich wirkt es vielmehr friedvoll und einladend«, erwiderte er.
»Diese Landschaft ist sanft und doch so heimtückisch für Weißgesichter und birgt eine ganz besondere Gefahr für euch - nämlich, dass nichts geschieht. Dass die Weite still und leer bleibt. Das frisst ein Loch in die Überheblichkeit der Weißen«, erklärte Baralong mehr versonnen als belehrend, als erinnere er sich an entsprechende Begebenheiten. »Da geht oder reitet der weiße Mann auf eine Baumgruppe oder einen Hügel zu und denkt: ›Da wird Schatten sein. Da kann ich mich ausruhen und dort wird auch Wasser nicht weit sein.‹ So denkt der weiße Mann. Aber wenn er dann an diesen Ort kommt, ist da nichts – weder Schatten noch sonst etwas, das zum Ausruhen einlädt. Der Wind bewegt die Blätter an den Ästen und das Gras bewegt sich, aber nirgends ein Tümpel oder eine Quelle. Und dabei hat es doch vor kurzem erst geregnet! Also geht oder reitet der weiße Mann weiter, denn bei der nächsten Baumgruppe muss ja die Quelle auf ihn warten, wie er meint. Doch auch da ist nichts und so zieht er weiter, Stunde um Stunde, und die Landschaft sieht überall gleich aus, freundlich und hell und einladend, aber auch gleichgültig und für euch Weiße gesichtslos. Das ist ihre Grausamkeit. Kein Tier lässt sich blicken, weder auf der Erde noch in der Luft, und auch kein Mensch. Das Land erscheint dem weißen Mann so leer wie der Himmel.
So zieht er weiter und weiter, und der Brotbeutel wird leer und aus dem Wasserschlauch rinnt bald der letzte Tropfen in den durstigen Mund. Und nun ist die Katastrophe nicht mehr weit. Denn was weiß ein Gubba schon davon, welches Kraut und welche Wurzeln genießbar sind und wo man Wasser unter dem Sand finden kann? Wir Yapa wissen, dass keine Vergeudung und kein Missgriff, keine Nachlässigkeit und keine Schwäche ungestraft bleiben, denn das haben uns unsere Ahnen aus der Traumzeit gelehrt. Sie führen uns auf den Traumpfaden auch im ödesten Land zu Wasser und Nahrung, und darum ist uns das Land heilig. Doch dem weißen Mann ist nichts heilig. Ihr baut Häuser auf den Schlafstätten unserer träumenden Ahnen, ihr fällt heilige Bäume und wollt alles besitzen. Doch kein Yapa und kein Weißer kann sich das Land untertan machen, auch wenn sich das mancher einbildet. Letztlich macht sich immer noch das Land den Menschen untertan. Und deshalb bringen Hochmut und Unwissen in diesem wunderschönen, einladenden Land jedem Weißen unweigerlich den Tod.«
Schweigend stand Andrew neben ihm. Er spürte die tiefe und traurige Wahrheit, die in Baralongs Worten zum Ausdruck kam. Und doch, dieses fremde und von Weißen noch nicht erforschte Land übte eine erregende Faszination auf ihn aus. Ob es Abby auch so erging?
Abby!
Andrew suchte in der weiten Landschaft nach einem Zeichen von Leben. Wo hatten die Katajuri Abby hingebracht? Wie lange mussten sie der Sippe noch folgen, um endlich auf sie zu stoßen?
Wo bist du, Abby? Spürst du, dass ich dir folge?
Andrews Blick verlor sich in der endlosen Weite, die tatsächlich so leer wie der Himmel wirkte.