Siebtes Kapitel
Andrew wartete schon im Bett auf sie. Er hatte den Docht der Lampe so weit wie möglich heruntergedreht. Der ruhige Schein der kleinen Flamme bildete um die Nachtkommode eine einsame Oase des Lichts in der Dunkelheit der Nacht, die den größten Teil des Zimmers ausfüllte.
Behutsam schloss Abby die Tür. Sie wusste, dass sie länger weg gewesen war, als sie eigentlich vorgehabt hatte. »Ich habe noch einmal nach ihr geschaut«, sagte sie und legte den Morgenmantel ab, den sie über ihrem dünnen Nachthemd aus Musselin trug.
»Komm jetzt«, sagte er nur leise, ohne einen Vorwurf in der Stimme, und streckte die Hand nach ihr aus.
Sie beugte sich über den Glaszylinder der Lampe und die schwache Flamme erlosch unter ihrem Atem. Dann kam sie zu ihm. »Es geht ihr nicht gut, Andrew.«
Andrew zog sie zärtlich in seine Arme, strich ihr das Haar aus dem Gesicht und küsste sie. »Vergiss sie, Abby«, raunte er ihr zwischen zwei Küssen zu. »Zumindest für eine Weile. Weißt du überhaupt, wie sehr ich dich vermisst und mich nach dir gesehnt habe?«
»Ja«, flüsterte sie und wünschte sich nichts mehr, als in seinen Armen alles zu vergessen, was sie bedrückte. »Auch du hast mir schrecklich gefehlt, Andrew.«
Seine Lippen glitten über ihre Wange und zupften dann an ihrem Ohrläppchen. »Ich liebe dich ... und ich möchte dir zeigen wie sehr«, sagte er voller Begehren. Er zog die Schleifen ihres Nachtgewandes auf, streifte es ihr von den Schultern und begann sie zu streicheln.
Abby wollte sich seinen Liebkosungen hingeben und seine Zärtlichkeiten erwidern. Doch in dieser Nacht war es ihr unmöglich, alles um sich herum zu vergessen. Immer wieder drängte sich die Eingeborene in ihre Gedanken und das Bild, wie sie sich unter Schmerzen im Bett hin und her warf, wollte einfach nicht aus ihrer Erinnerung weichen.
Andrew spürte ihre Verkrampfung. »Was ist, Abby?«, fragte er verwundert.
Sanft entzog sie sich seinen Armen. »Es tut mir Leid. Ich kann einfach nicht ... ich meine ... ich möchte ja so gerne mit dir zusammen sein, aber ich ... ich muss ständig an sie denken, und dann ... o Gott, es tut mir ja so Leid«, stammelte sie unter Tränen. Sie fühlte sich schuldig, dass sie sich ihrem Mann verwehrte, den sie doch liebte. »Verzeih mir bitte. Ich will dir doch nicht wehtun ... Ich liebe dich, Andrew, aber dieses arme Wesen ..« Sie ließ den Satz unbeendet.
Andrew atmete laut hörbar aus und schwieg einen Augenblick. »Da gibt es nichts, was ich dir verzeihen müsste«, erwiderte er schließlich betrübt. »Ich verstehe nur nicht, dass du wegen dieser Wilden so viel... na ja, Aufhebens machst.
»Ich mache kein Aufheben um sie. Sie tut mir nur so Leid. Es ist schrecklich, was sie erdulden muss.«
»Mein Gott, du hast dein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um das ihre zu retten. Ich bin stolz auf dich, dass du so gehandelt hast. Du wechselst ihre Verbände, wäschst sie und flößt ihr Wasser ein. Also du tust doch wirklich alles, was sich ein Kranker nur wünschen kann. Sogar einem kranken Weißen könnte es hier auf Yulara kaum besser ergehen«, hielt er ihr vor.
»Einem kranken Weißen würde Rosanna ihr Laudanum nicht verwehren«, entgegnete Abby niedergeschlagen. »Und dein Vater hätte sicherlich ein Machtwort gesprochen.«
Andrew seufzte. »Aber das musst du doch verstehen, Abby. Sie ist nun mal nur eine Wilde.«
Nur eine Wilde!
»Ändert das etwas an ihren Schmerzen?«
Er schwieg.
»Und wenn sie zehnmal eine primitive, heidnische Wilde ist, so ist sie doch ein Mensch. Und dieser erbarmungswürdige Mensch leidet schreckliche Qualen, Andrew. Dabei könnte ihr so leicht mit ein paar Tropfen Laudanum geholfen werden.«
»Du machst mir ein richtig schlechtes Gewissen, weißt du das?«, brummte er.
Sie lächelte schwach, doch das konnte er nicht sehen. So tastete sie nach seiner Hand und drückte sie. »Das beweist, dass du ein gutes Herz hast und ich den richtigen Mann liebe.«
Andrew lachte leise auf. »Wenn einer es schafft, mich um den kleinen Finger zu wickeln, dann bist du es.« Er gab einen Stoßseufzer von sich. »Also gut, ich werde dafür sorgen, dass du Laudanum für die Schwarze bekommst.«
»O danke!«, rief Abby unendlich erleichtert und fiel ihm, nackt wie sie war, spontan um den Hals.
»Das ist gefährlich, was du da machst«, warnte er sie halb im Scherz, halb im Ernst. »Dich so in meinen Armen zu halten und deinen wunderbaren Körper zu spüren, das weckt Gedanken und Gefühle in mir, die ich nur schwer unter Kontrolle halten kann.«
»O nein, das brauchst du nicht, mein Liebling«, flüsterte sie, küsste ihn voller Liebe und sank mit ihm in inniger Umarmung auf das Laken zurück. Jetzt vermochte sie alles andere um sich herum zu vergessen.
Später dann lag sie in wohliger Erschöpfung an seiner Brust. Eine wunderbare Mattheit erfüllte ihren Körper, aus dem jegliche Anspannung gewichen war.
Andrew strich ihr über das Haar und gab einen Seufzer von sich. »Ich glaube, ich ziehe mich jetzt besser an und reite los. Denn wenn ich jetzt nicht aufstehe, sind wir beide im nächsten Moment eingeschlafen und wachen nicht vor Morgengrauen auf.«
Abby fuhr aus dem Halbschlaf auf. »Du willst wegreiten? Ja ... aber, wo willst du denn hin?«
»Natürlich Laudanum holen. Oder hast du vergessen, was ich dir versprochen habe?«
»Nein, das nicht, aber ich dachte, du würdest die Flasche aus Rosannas Arzneischrank holen«, sagte Abby verwirrt.
Andrew schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht, Abby. Es ist ihr Laudanum, das sie bezahlt hat. Wenn ich einfach darüber verfügen und es dir für die Schwarze geben würde, hätte ich es auf ewig mit ihr verdorben - und du auch. Sie würde uns das nicht verzeihen. Und Dad würde dafür auch kein Verständnis haben. Die Aborigines erfreuen sich bei uns Farmern nun mal keiner großen Beliebtheit. Ob das nun richtig oder falsch ist, tut im Augenblick nichts zur Sache. Fest steht, dass ich mich wegen einer Schwarzen aus dem Busch nicht gegen Dad und Rosanna stellen kann.«
»Woher willst du dann das Laudanum holen?«, wollte Abby wissen.
»Ich reite nach Windsor zu Timothy MacMaster, dem alten irischen Knochenflicker. Der hat immer einen großen Vorrat an Laudanum im Haus«, teilte Andrew ihr mit.
Windsor war eine kleine Siedlung, die ein gutes Stück weiter flussabwärts am Ufer des Hawkesbury lag. »Bis zu den McMasters sind es gut drei Reitstunden«, wandte Abby ein, nun voller Sorge um ihren Mann.
»Wir haben fast Vollmond und der Himmel ist heute Nacht sehr klar. Ich werde gut vorankommen, besser jedenfalls als am Tag, wenn die Hitze unerträglich ist. Du kannst sicher sein, dass ich noch vor Sonnenaufgang wieder zurück bin«, beruhigte er sie.
»Lass mich mit dir reiten.«
»Dafür besteht keine Notwendigkeit und kommt daher auch gar nicht in Frage, mein Liebling.«
»Andrew, ich werde dich begleiten!«
»Nein, wirst du nicht, und das ist jetzt mein letztes Wort in dieser Sache!«
Zwanzig Minuten später verließen Andrew und Abby Seite an Seite den Hof und ritten im hellen Licht des Mondes durch das Buschland nach Nordosten.
Knappe drei Stunden später holten sie in Windsor Timothy MacMaster aus dem Schlaf. Sie blieben auf eine Tasse Tee, den die Frau des ehemaligen Schiffschirurgen rasch aufgesetzt hatte, und machten sich dann wieder auf den langen Rückweg.
Sie trafen mit dem Laudanum auf Yulara ein, als der Glutball sich im Osten vom Horizont löste und seinen Aufstieg am Himmel begann.
Jonathan Chandler und Melvin standen auf der Veranda, als Abby und Andrew sich aus den Sätteln schwangen und dem Stallknecht die erschöpften Pferde überließen. Travis Burlington, der ihnen beim Satteln der Pferde zur Hand gegangen war, hatte den Farmer offenbar schon davon unterrichtet, wohin sein Sohn und seine Schwiegertochter mitten in der Nacht geritten waren.
»Musste das sein, Andrew?«, fragte Jonathan scharf und warf Abby einen gereizten Blick zu, der vielleicht besser als ein Dutzend Worte seine ganze Missbilligung ausdrückte.
»Sich wegen einer Schwarzen die Nacht zu Pferd um die Ohren zu schlagen, auf so eine Idee muss der Mensch erst einmal kommen«, bemerkte Melvin spöttisch.
Andrew verzog das Gesicht zu einem fröhlichen Grinsen. »Es lag wohl am Vollmond, Bruderherz. Wir konnten nicht einschlafen und dachten, dass uns ein kleiner Ausritt ganz gut tun würde.«
»Ein Ausritt, der euch zufällig nach Windsor geführt hat und von dem ihr auch zufällig mit zwei Flaschen Laudanum zurückkehrt!«, sagte Jonathan Chandler scharf und grimmig und es klang wie eine Anklage. Wieder fixierte er seine Schwiegertochter zurechtweisend.
Abby schlug nicht die Augen vor seinem ärgerlichen Blick nieder. Ihr Gesicht brannte jedoch und ihr Herz pochte heftig. Sie bedauerte seinen Groll erregt zu haben, war jedoch nicht gewillt sich zerknirscht zu zeigen und sich für etwas zu entschuldigen, das sie für richtig empfand.
Andrew rettete die Situation, indem er demonstrativ einen Arm um die Schulter seiner Frau legte und ebensowenig daran dachte, eine Entschuldigung anzubieten. Im Gegenteil, er bot seinem Vater die Stirn.
»Dieser Ausritt war allein meine Idee und ich sehe keine Veranlassung, mich dafür rechtfertigen zu müssen. Ich habe es für richtig gehalten und eine dementsprechende Entscheidung getroffen - wie ich sie auch in allen anderen Dingen zu treffen gewohnt bin, die Yulara angehen«, sagte er herausfordernd und spielte darauf an, dass ein Großteil der Verantwortung für die Farm auf seinen Schultern lag.
Jonathan Chandler sah ihn verblüfft an und Melvin wandte seine Aufmerksamkeit plötzlich seinen auf Hochglanz polierten Stiefeln zu.
Um seinen Worten die Schärfe zu nehmen, fügte Andrew nun mit einem versöhnlichen Lächeln hinzu: »Wenn man es richtig betrachtet, ist Rosanna mal wieder als Siegerin aus der ganzen Geschichte hervorgegangen. Sie hat mich davon überzeugt, dass wir nicht genug Laudanum im Haus haben, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Ich musste also klein beigeben und selbst dafür sorgen, dass wir nun über mehr als nur eine eiserne Reserve verfügen. Ich denke, dagegen kann man wohl nichts haben, oder?«
Jonathan Chandler ging nicht darauf ein, jedenfalls nicht direkt. »Wir haben einen langen Arbeitstag vor uns. Ich hoffe, ich kann mit dir rechnen, Andrew!«
Dieser schenkte ihm ein entwaffnendes Lächeln. »Wie wär’s mit einer kleinen Wette, welcher Chandler heute auf dem Feld die Hacke zuerst aus den Händen legt?«
»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte sein Vater und ein widerwilliges Lächeln zeigte sich in seinen Mundwinkeln. »Ich verliere zudem nicht gerne.«
Damit war die Krise gemeistert.
Abby atmete auf.
Melvin verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, wonach euch der Sinn steht, aber ich gehe jetzt frühstücken. Wie ich das so sehe, werde ich eine besondere Stärkung heute mehr denn je brauchen.«
Melvin und sein Vater wandten sich um und gingen ins Haus.
Abby strahlte Andrew an. »Das hast du wunderbar gemacht!«, raunte sie ihm zu. »Du hast ihnen glatt den Wind aus den Segeln genommen.«
»Das habe ich mir von dir abgeguckt«, antwortete er vergnügt und berührte kurz zärtlich ihre Wange. »Und jetzt sieh zu, dass du mit dem Laudanum zu deiner Wilden kommst.«
Das brauchte er ihr nicht zweimal zu sagen. Abby wusste, wie das Opiat zu dosieren war. Vorsichtig flößte sie der Kranken das mit Wasser verdünnte Laudanum ein und wartete, dass es seine Wirkung tat.
Die Betäubung setzte rasch ein. Das schmerzerfüllte Wimmern verstummte allmählich und das verzerrte Gesicht der Schwarzen entspannte sich. Ihr Körper musste den Kampf gegen das Fieber weiterführen, doch die Qual der Schmerzen hatte ein Ende. Eine friedliche Stille, die Hoffnung auf Genesung machte, breitete sich in der kleinen Kammer aus.
Abby saß noch am Krankenbett, als Clover und Rosanna schon längst den Frühstückstisch abgeräumt hatten. Sie lauschte dem gleichmäßigen Atem der Schwarzen und fühlte sich selbst wie von einem tiefen Schmerz befreit.