Erstes Kapitel
Traum und Wirklichkeit verschmolzen zu einem wogenden Strom von Gedanken und Empfindungen, zu einem Fluss ohne Anfang und Ende, der von unzähligen Quellen gespeist wurde und keinem Ziel entgegenstrebte, sondern sich mal hierhin und mal dorthin bewegte.
Die Wiege.
Sie war wieder ein Kind, das in dem sonnendurchfluteten Zimmer ihres Elternhauses in der Wiege lag. Ihre Nanny sang sie in den Schlaf, während sie die Wiege sanft hin und her pendeln ließ.
Aber nein, sie saß auf der Schaukel im Garten hinter dem Haus. Auf und ab schwang die Schaukel mit ihr, höher und höher. Sie wollte dem Himmel entgegenfliegen, der voller Vögel und Stimmen war, und die Baumkronen tanzten mit ihr in einem munteren Rhythmus.
Ein Schiff trug sie über das Meer. Es ritt über die mächtigen Wogen. Wie ein Korken tanzte es auf und ab, schoss hinunter in tiefe Wellentäler, erkletterte im nächsten Moment die schäumende Spitze der nächsten Woge und streckte den Bug dem Himmel entgegen. Segel blähten sich und der Wind sang in der Takelage.
Das Bild zersprang. Ein Kaleidoskop von Farben stürzte auf sie ein, ging in eine Explosion von grellem Licht über und wurde zu einem schwarzen Meer, das sie hinab in die Tiefe zog, in der nicht einmal mehr eine Ahnung von Licht existierte.
Andrew!
Andrew?
Wer schrie da?
Wo war sie?
Die Schwärze riss auf wie Morgennebel im Sonnenlicht. Gestalten wie Wesen aus dem Schattenreich tauchten um sie herum auf. Hände griffen nach ihr.
War sie wieder im Kerker von Newgate? Wollte man ihr das letzte warme Kleidungsstück nehmen? Ohne ihren warmen Umhang würde sie den Winter in diesem eisigen, stinkenden Loch niemals überleben.
Doch warum brannte auf einmal die Erde unter ihr?
Und wieder der Schmerz. Wie flüssiges Feuer schoss er durch ihren Körper.
Ekelhafte Gerüche stiegen ihr in die Nase. Trinken, ja, trinken. Wohlige Wärme. Die Wellen des Schmerzes zogen sich zurück. Sie lag wieder in der Wiege.
Ja, schaukel mich, Nanny.
Schweben. Leicht wie eine Feder. Losgelöst vom eigenen Körper. Schweben durch die Nacht. Ohne Angst und ohne Schmerzen.
Feuer in der Dunkelheit.
Gesänge.
Ein tiefes Brummen unter klaren Sternen.
Dingos!
Nein, nicht! Tut mir nichts!
Grässliche Fratzen umkreisten sie. Abscheuliche Wesen. Gesichter mit roten, weißen und gelben Bemalungen beugten sich zu ihr hinunter. Ein durchdringender Geruch stach ihr in die Nase.
Andrew, hilf mir!
Warum nur war ihr so kalt?
Sie haben mich angeschossen, aber ich darf nicht aufgeben. Ich muss weiter. Sie dürfen mich nicht finden! Wo ist Greg Halston? Zehn Schritte. Immer nur bis zehn zählen. O Gott, stehe mir bei! Dieser Schmerz, dieser wahnsinnige Schmerz. Noch einen Schritt. Andrew. Andrew. Andrew.
Nicht mehr gehen. Nur noch wiegen.
Ein Bett aus Moos.
Schlafen.
Nur noch schlafen.
Kein Schmerz. Keine Angst. Eine Nacht so weich wie Samt.
Ja, wiege mich, Nanny, wiege mich in den Schlaf.
Stille. Dunkel. Frieden.