Zwölftes Kapitel

Abby lenkte das Fuhrwerk, und mit jeder Stunde, die verging, wuchsen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Zu ihrer Rechten saß Craig. Er hatte die Flinte quer über dem Schoß liegen und hielt den Lauf ständig auf sie gerichtet. Links saß Stuart, der die Klinge seines Messers an einem flachen Stein schärfte. Dabei pfiff er unmelodisch vor sich hin. Gelegentlich sah er auf, warf ihr einen lüsternen Blick zu, machte eine vulgäre Bemerkung, spuckte dann auf den Stein und nahm seine stumpfsinnige Beschäftigung wieder auf.

Das langsame, schabende Geräusch von Metall über Stein zehrte an Abbys Nerven, während es Craig nicht das Geringste auszumachen schien. Stumm wie ein Fisch behielt er sie und die karge, menschenleere Landschaft vor ihnen im Auge. Selten einmal gab er ihr eine Anweisung, welchen Weg sie nehmen sollte.

Stundenlang, den ganzen glutheißen Nachmittag hindurch, hatte sie sich das Gehirn nach einem rettenden Ausweg aus dieser tödlichen Gefahr zermartert. Ohne jeden Erfolg. Solange Greg Halston gefesselt zwischen den Fässern lag und Craig die Flinte auf sie gerichtet hielt, war jeder Fluchtversuch ausgeschlossen.

Die Sonne versank hinter den Bergen. Abby wusste, was sie erwartete, sobald Craig und Stuart einen Lagerplatz gefunden hatten.

»Da hinüber!«, befahl Craig und deutete auf eine Senke, die von zwei buschbestandenen Hügelgruppen umschlossen wurde.

Abby lenkte das Gespann hinunter in die Senke. Schweiß brach ihr aus und ihr Herz hämmerte wie wild, als wollte es ihre Brust sprengen. In Gedanken flehte sie Gott um ein Wunder an.

»Halt an!«, sagte Craig scharf und griff ihr mit links in die Zügel. »Genug für heute. Hier schlagen wir unser Nachtlager auf.«

»Ein hübsches Plätzchen, das du ausgesucht hast«, bemerkte Stuart, gähnte und reckte sich. Dann wandte er sich Abby zu, drückte ihr die Messerspitze spielerisch unter das Kinn und sagte spöttisch. »Da können einem ja direkt romantische Anwandlungen kommen. Ich gehe jede Wette ein, dass du diese Nacht nicht vergessen wirst!«

Abby erstarrte.

»Alles schön der Reihe nach, ja?«, mahnte Craig scharf und sprang vom Wagen.

Stuart grinste und zog sein Messer zurück. »Du weißt doch, dass du auf mich zählen kannst, Craig?«

Craig nickte und forderte Abby auf: »Komm runter! Es gibt Arbeit für dich!«

Abby kletterte vom Kutschbock und fühlte sich so entsetzlich kraftlos, als hätte tagelanges, hohes Fieber ihren Körper geschwächt.

Sie taumelte gegen das Hinterrad, hielt sich mit einer Hand an einer der Speichen fest und übergab sich. Heiß und bitter schoss es ihr aus dem Mund. Ihr war, als stülpe sich ihr Inneres nach außen.

Sie hörte Stuart lachen und Craig stimmte in das Lachen ein. »Das hast du jetzt davon. Ich fürchte, die Kleine ist für ’ne Weile zu nichts zu gebrauchen. Also zieh los und sammel ein bisschen trockenes Holz zusammen, bevor es zu dunkel ist.«

Stuart protestierte, doch was er sagte, bekam Abby nicht mit. Denn in diesem Augenblick hörte sie Greg Halstons gedämpfte Stimme. Sie drang aus der Ritze zwischen zwei Längsbrettern gleich neben ihrem Kopf. Der Farmer musste auf dem Boden liegen und seinen Mund ganz nahe am Bretterspalt haben.

»Abby, versuche das Erbrechen so lange wie nur möglich hinzuziehen«, raunte er ihr zu. »Ich muss dir etwas Wichtiges sagen und wir dürfen nicht eine Sekunde vergeuden. Sag ›O Gott, hilf mir!‹, wenn du mich verstanden hast!«

»O Gott, hilf mir!«, stieß Abby aus tiefster Seele hervor und erbrach sich erneut.

»Hör mir genau zu«, zischte der Farmer ihr zu. »Ich habe mich von meinen Fesseln befreien können. Habe die Seile an der scharfen Kante eines Fassringes durchgescheuert. Keiner von den Kerlen ahnt, dass ich mich frei bewegen kann. Das ist unsere Chance. Ich zähle gleich bis zehn, dann springe ich von der Ladefläche und laufe nach links. Du rennst nach rechts in den Busch. Und bleibe nicht stehen, was immer auch passiert!«

»Unmöglich!«, keuchte Abby. »Sie werden...«

»Keine Diskussionen!«, fiel Greg Halston ihr ins Wort. »Sie werden uns beide töten, wenn wir diese Chance nicht beim Schopfe packen, und das weißt du so gut wie ich. Gleich ist es dunkel und sie haben nur ein Gewehr. Mit ein bisschen Glück kann es zumindest einer von uns beiden schaffen.«

»Das ist Wahnsinn!«, sagte Abby unter Würgen.

»Ja, aber nichts zu tun bedeutet das eigene Todesurteil!«, entgegnete Greg Halston. »Gott schütze dich, mein Kind. Und sollte ich es nicht schaffen, kümmert euch um April und Heather.«

»Mister Halston, bitte!«, flüsterte Abby beschwörend.

»Ich werde springen, Abby, und wenn du nicht auch im selben Moment losrennst, wird das mein sicherer Tod sein. Also lauf, um Gottes willen, bei zehn!«

Craig näherte sich, den Flintenlauf lässig über die rechte Schulter gelegt. »Jetzt reicht es ja wohl langsam.«

»Eins ... zwei ... drei...«, begann der Farmer zu zählen.

Abby drehte sich halb zu Craig um. Greg Halston ließ ihr keine andere Wahl. Sie musste den Fluchtversuch mit ihm wagen, wenn sie auch nur den Hauch einer Chance haben wollten. Wo war Stuart?

»... vier ... fünf ... sechs ...«

Craig trat noch einen Schritt auf sie zu. »Reiß dich gefälligst zusammen!«, herrschte er sie an. »Spann die Pferde aus und gib ihnen zu saufen!«

»... sieben ... acht ... neun ...«

Abby stieß sich vom Hinterrad ab und wankte scheinbar völlig entkräftet auf Craig zu. In Wirklichkeit gab ihr das Wissen, dass der Zeitpunkt zum Handeln gekommen war, jene Stärke zurück, die ihr die Stunden der Angst und Ungewissheit genommen hatten.

»Mach mir hier bloß nicht...«

»Zehn!« Greg Halston schrie die Zahl wie einen Kriegsschrei hinaus und sprang im selben Augenblick zwischen den Fässern auf.

Fassungslos starrte Craig an Abby vorbei auf den Farmer, der mit einem Satz über die Seitenwand hechtete. Er packte die Flinte und wollte sie in Anschlag bringen.

In dem Moment stürzte sich Abby mit ausgetrecktem Zeige- und Mittelfinger auf ihn. Der Sträfling brüllte vor Schreck und Schmerz auf, als sich die Finger in seine Augen bohrten. Er ging zu Boden, doch ihre Hoffnung, ihm die Flinte entreißen zu können, erfüllte sich nicht. Craig hielt sie mit beiden Händen fest gegen seine Brust gepresst.

»Lauf!«, schrie Greg Halston. »Lauf um dein Leben, Abby!«

Craig schlug mit der Flinte wild um sich und traf Abby mit dem Kolben. Schnell ließ sie von ihm ab und rannte vom Fuhrwerk weg in den Busch.

Sie hörte hinter sich einen lästerlichen Fluch und Stuarts wütende Stimme. »Du hast dich von diesem Weiberrock übertölpeln lassen. Los, gib mir die verdammte Flinte. Ich knöpf sie mir vor. Lauf du dem Alten nach!«

Abby rannte, so schnell sie konnte. Zweige peitschten ihr Gesicht. Gehetzt sah sie sich um. Stuart war ihr auf den Fersen. Ihr Vorsprung betrug nicht mehr als ein paar Schritte. Trotz der rasch hereinbrechenden Dunkelheit konnte sie deutlich sehen, wie er durch die Sträucher brach.

Sie schaute wieder nach vorn und die Angst mobilisierte ungeahnte Kräfte in ihr.

»Lauf dir nur die Zunge aus dem Hals, du Bastard! Ich kriege dich schon!«, brüllte Stuart hinter ihr her.

Sie rannte einen Hügel hoch, stolperte, überschlug sich, war im nächsten Moment wieder auf den Beinen und schlug einen Haken nach rechts, wo sich die Silhouetten von Eukalyptusbäumen wie schwarze Kohlestriche auf einer immer dunkler werdenden Leinwand ausnahmen. Ihr war, als könnte sie jenseits der Bäume ein großes Dickicht sehen. Wenn sie das erreichte, hatte sie vielleicht eine Chance, Stuart zu entkommen.

Abby befand sich zwei, drei Schritte vor dem ersten Baum, als Stuart ihre Absicht erkannte, stehen blieb und auf sie schoss.

Im ersten Moment verspürte Abby überhaupt keinen Schmerz, sondern nur einen mächtigen Schlag rechts im Rücken, der sie zu Boden riss. Sie wusste, dass die Kugel sie getroffen hatte. Im Augenblick des Schocks kam ihr dieser Gedanke jedoch wie etwas, das gar nicht ihr galt.

Sie rappelte sich auf und wollte weiterrennen, als wäre nichts passiert. Doch da setzte der Schmerz ein. Ein glühendes Messer schien sich unter ihrem rechten Schulterblatt in ihren Körper zu bohren.

Stöhnend taumelte sie auf das Dickicht zu. Der Boden wurde leicht abschüssig. Der Schmerz machte sie blind. Vor ihren Augen verschwamm alles. Dennoch zwang sie sich weiterzulaufen. Plötzlich schien ihr jemand den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Ihr war, als stürzte sie in einen gähnenden Abgrund. Doch dieser Abgrund musste unter dichtem Gestrüpp verborgen liegen, wie ihr Unterbewusstsein noch im Sturz registrierte. Denn Zweige klatschten ihr ins Gesicht.

Sie fiel und schlug dann hart auf.

Abby wollte sich bewegen, doch ihr Körper versagte ihr den Dienst. Wie gelähmt lag sie in der Dunkelheit und hörte eine wütende Stimme näher kommen. Doch sie wusste nicht, was es mit dieser Stimme auf sich hatte.

Andrew?

Ihre Lippen formten seinen Namen, doch kein Ton entrang sich ihrer Kehle. Sie wollte ihm sagen, dass er den feurigen Dorn aus ihrem Rücken ziehen sollte, mit dem man sie gepfählt hatte.

Wer hatte sie gepfählt? Und wofür überhaupt? Sie hatte nicht mehr Salbe als nötig verbraucht! Nangalas Amulett gehörte ihr und niemand durfte es ihr abnehmen. Jawohl, die Hufe der Schafe waren alle sorgfältig beschnitten und sie würde auch pünktlich zu den Mahlzeiten erscheinen.

Merkwürdig, dass Clover das Tischgebet sprach, und warum zielte Melvin mit der Flinte auf sie?

Für einen flüchtigen Moment lichteten sich ihre wirren Gedanken und die bewusste Erinnerung flackerte so kurz wie ein Zündholz in stürmischer Nacht auf. Die Kugel hatte sie getroffen, und ob Stuart und Craig sie nun fanden oder nicht, machte keinen großen Unterschied.

Der Tod im Busch war ihr gewiss. Und mit diesem Gedanken versank Abby in einer bodenlosen Schwärze, in der nichts mehr von Bedeutung war.