Obwohl ich untergetaucht war und die Umgebung ringsum aufmerksam ins Visier nahm, um vor einem möglichen weiteren Angriff von Kyan gewappnet zu sein, konnte ich an nichts anderes denken als an Gordys Lippen auf Aimees Mund.
Natürlich ahnte ich, warum er es tat, und anders als es mir in der Situation mit Frederik möglich gewesen wäre, hatte Gordian offensichtlich gar keine andere Wahl.
Ein Nixenkuss war immer mehr als nur ein Kuss. Das wusste ich, seitdem ich Gordy kannte. Trotzdem hatte ich einige Zeit und mehrere böse Erfahrungen gebraucht, um das wirklich bis ins Tiefste meiner Seele zu begreifen.
Elodie, riss Gordys Stimme mich aus meinen Grübeleien. Es war die einzige Möglichkeit, sie vergessen zu lassen, was hier passiert ist und wer daran beteiligt war.
Im nächsten Moment kam er auf mich zugeglitten, zog mich hinter einen hohen, aus dem Wasser herausragenden Felsen und durchbrach mit mir die Meeresoberfläche.
»Und du bist sicher, dass ein Kuss von dir …?«
Ja, das bin ich, unterbrach er mich sanft. Aimee war … Er ließ mich los und senkte den Blick. Sie ist … Sie wird … also, sie war Elliots Mädchen. Und jetzt ist sie … meins.
»Was?«, stieß ich hervor. Aber ich bin doch … Ich dachte es nicht zu Ende, denn ich wollte nicht, dass er es in meinen Gedanken las.
Dummerweise fing ich stattdessen so heftig an zu zittern, dass die Wasseroberfläche Wellen schlug.
»Woher wusstest du überhaupt, dass Kyan mir auflauern und versuchen würde, mich …?«, begann ich, doch Gordy fiel mir sofort ins Wort.
»Es ist die ganze Zeit über sein Plan gewesen, dich vor meinen Augen zu lieben und zu töten«, sagte er und hatte offensichtlich Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten.
»Du hast ihn also belauscht?«
»Nein, er hat diesen Gedanken immer wieder so laut ausgesendet, dass ich ihn gar nicht überhören konnte«, erwiderte Gordy. »Er wollte mich provozieren … und zermürben, indem er nie etwas über einen möglichen Zeitpunkt verriet. Er hat damit gespielt, dass mich allein die Vorstellung, er könnte dir etwas antun, innerlich zerreißt.«
»Dann ist alles, was hier eben geschehen ist, also nur ein schreckliches Missverständnis?«, fragte ich ungläubig.
»Keine Ahnung, Elodie.« Gordy schüttelte den Kopf. »Ich wusste natürlich, dass Olivia, Joelle und Aimee sich seit ein paar Tagen auf Herm trafen. Und ich wusste auch, dass Kyan, Niclas, Pine und Liam dort an Land gegangen sind … Bisher hatten sie kein Mädchen getötet, und soweit ich das beurteilen kann, hatten sie auch bis zum heutigen Tag keinen Kontakt zu Rubys Freundinnen … Ich hätte niemals nach Lübeck kommen dürfen«, fuhr er stockend fort. »Ich weiß auch nicht …« Er brach ab. »Ich wollte dir nicht wehtun«, flüsterte er dann.
»Das wollte ich nie …«
»Aber?« Mein Herz schlug fest und schnell, und mein Atem flatterte, als ich Luft einsog.
»Wir können nicht zusammen sein, Elodie. Das muss dir inzwischen doch ebenso klar sein wie mir.«
Und wenn man uns das nur einzureden versucht?
Gordy sah mich überrascht an. »Das ist Unsinn, Elodie. Wir beide hätten einander beinahe umgebracht!«
»Ja … beinahe«, betonte ich. »Wir haben es aber nicht getan. So wie ich auch Frederik letztendlich nicht getötet habe. Wir können es kontrollieren.«
Können wir nicht!
Ich schloss die Augen und rang um Selbstbeherrschung, denn am liebsten wäre ich auf ihn losgegangen, um diese hartnäckigen Zweifel ein für alle Mal aus ihm herauszuschütteln.
»Gordy, ich werde ganz sicher niemals mehr jemanden küssen …«, begann ich, während ich meine Lider langsam hob, »es sei denn, er muss seine Erinnerung verlieren …«
Ein kaum merkliches Grinsen huschte über Gordians Gesicht. »Das kannst du gar nicht«, sagte er. »Du bist kein Delfinnix. «
Für eine Sekunde war ich irritiert. Dann hob ich die Schultern und fuhr leise und mit ein wenig zittriger Stimme fort: »… oder ich möchte ihm damit zeigen, wie sehr ich ihn liebe.«
Gordys Pupillen sprangen auf und einen Moment lang war sein Blick dunkel und samtig. Doch nur einen Atemzug später hatte er seine Gefühle bereits wieder im Griff. Seine Iris leuchtete in einem kühlen Türkis und seine Körperhaltung straffte sich.
»Elodie, bitte«, flehte er, »die Lage hat sich geändert. Wir können nicht …«
Ich ließ ihn nicht ausreden. »Sag mir die Wahrheit«, forderte ich ihn auf. »Warum bist du nach Lübeck gekommen?«
»Das weißt du doch.«
»Nein, das weiß ich eben nicht!« Als ich das Traveufer verlassen wollte, hast du nach mir gerufen! Du hast mich gezwungen, mich umzudrehen.
Ich wollte sehen, ob meine Bisse dich entstellt haben.
Das ist doch Unsinn, Gordy! Ich bin eine Halbnixe. Bei mir verheilen Wunden dieser Art ohne Komplikationen. Ich glaube, ich habe nicht einmal eine Narbe zurückbehalten.
Gordian berührte flüchtig meine Wange und schluckte schwer.
Das stimmt nicht ganz …, entgegnete er, und ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut.
»Es ist nichts gegen das, was du mir gerade antust«, flüsterte ich, woraufhin Gordian schuldbewusst den Blick senkte. »Also, bitte, gib mir eine Erklärung, die ich nachvollziehen kann«, drang ich weiter in ihn. »Warum bist du nach Lübeck gekommen? Wie hast du mich überhaupt dort gefunden?«
Er schwieg, und wieder einmal konnte ich aus seiner Miene nicht herauslesen, was in ihm vorging. Plötzlich streckte er seine Hand aus und umfasste meinen Oberarm.
Ich verspreche dir, ich werde dir alles erklären, sagte er in beschwörendem Tonfall. Später. Die Mädchen am Strand haben gesehen, was ich bin. Außerdem werden Kyan und die anderen Delfinnixe nicht hinnehmen, dass deine Artgenossen drei von ihnen getötet haben. Ich kann hier nicht bleiben … Sein Blick tauchte so tief in mich ein, dass mir schwindelig wurde. Und du auch nicht.
Wir schwammen den ganzen Nachmittag bis spät in den Abend hinein, als das kräftige Orange der untergehenden Sonne sich längst verloren hatte und die hereinbrechende Nacht das Meer allmählich in Dunkelheit tauchte. Gordian hielt sich konstant eine Schwanzlänge voraus, er suchte die Deckung der Riffe, mied aber die Nähe des Meeresgrunds.
Vor vielen Jahren haben die Menschen in diesem Gebiet Fässer mit strahlendem Abfall versenkt, erklärte er mir, nachdem wir ein Riff überquert hatten, das mich von der Form her an eine riesige Flosse erinnerte.
Atommüll?, fragte ich ungläubig.
Ich habe keine Ahnung, wie sie es nennen, erwiderte Gordy. Er wartete kurz, bis ich zu ihm aufgeschlossen hatte, dann fasste er meine Hand und zog mich eilig weiter. Für die Delfinnixe war es nicht leicht, Informationen darüber zu bekommen. Die Menschen scheinen nicht gern darüber zu sprechen.
Klar, dachte ich für mich. Sie hoffen einfach, dass es schon irgendwie gut geht.
Tut es aber nicht, sagte Gordian. Ein großer Teil der Fässer ist mittlerweile aufgebrochen. Nixe, die sich in unmittelbarer Nähe aufgehalten haben, sind krank geworden. Viele Mädchen hatten Fehlgeburten, andere Nixe verloren an Kraft und gingen langsam und qualvoll zugrunde.
Aber das betrifft die Haie doch auch!, stieß ich aus.
Natürlich! Allerdings können sie dem viel besser ausweichen und sich an Land ebenso gut bewegen wie im Wasser.
Ja, und anstatt sie darum zu beneiden, solltet ihr euch zusammenschließen …
Ich gehöre inzwischen ebenfalls zu denen, die beneidet werden, weil ich an Land gehen kann, wann immer ich will, fuhr Gordy dazwischen. Ich bin ein Plonx und deswegen haben die Delfinnixe mich ausgestoßen. Hast du das schon vergessen?
Nein, aber vielleicht könntest du … wollte ich einwenden, aber Gordy ließ mich gar nicht richtig zu Wort kommen.
Außerdem ist inzwischen kaum noch an eine Übereinkunft zwischen unseren beiden Arten zu denken, setzte er hinzu. In wenigen Tagen wird Kyan sich zurückverwandeln. Ab dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis es sich bis weit in den Ozean hinaus herumgesprochen hat, dass die Haie drei Delfinnixe umgebracht haben.
Aber das ist doch nur passiert, weil sie ein Menschenmädchen töten wollten, wandte ich ein. Die Haie sind Aimee zu Hilfe gekommen.
Gordian nickte. Und dir.
Ja, vielleicht, gestand ich ein. Aber das ändert doch nichts daran, dass die Delfinnixe …
Elodie! Gordy stoppte seine Schwimmbewegung mit einem abrupten Flossenschlag. Er ließ meine Hand los und umfasste nun meine Schultern. In seinem Blick spiegelte sich eine äußerst beunruhigende Mischung aus Wut, Angst und Verzweiflung. Hast du denn noch immer nicht verstanden? Den Delfinnixen sind die Landbewohner gleichgültig. Ein Menschenleben bedeutet ihnen nichts.
Aber Cyril, sagte ich mehr zu mir selbst.
Was?
Ich schaute betreten auf seine Brust. Javen Spinx hat gesagt, dass Cyril die Menschen liebt. E-er ist übrigens sein Vater.
Was? Gordys Griff um meine Schultern wurde fester und seine Schwanzflosse wogte nervös auf und ab.
Cyril ist der Sohn von Javen Spinx, wiederholte ich und richtete meinen Blick nun fest in Gordians Augen. Das hat er mir gemailt, als ich in Lübeck war.
Gordy presste die Lippen aufeinander. Was noch?, wollte er wissen.
Nichts, antwortete ich. Nur, dass er mir wünscht, ich würde stark und … unabhängig werden.
Unabhängig?
Ja, so wie ein Hainix eben. Unabhängig von allen.
Dabei hat er allerdings eine Kleinigkeit vergessen, erwiderte Gordy.
Mein Herz machte einen Satz. Ich hoffte so sehr, dass er jetzt endlich sagen würde, dass er mich noch liebte und wir für immer zusammengehörten, aber er tat es nicht, sondern sah mich nur finster an.
Du bist zur Hälfte ein Mensch, Elodie. Und Menschen haben viel tiefere Gefühle als Nixe.
Seine Stimme klang sanft, trotzdem versetzten mir seine Worte einen schmerzhaften Stich.
Gilt das auch für dich?, fragte ich zögernd. Ist es vielleicht so etwas wie eine neue Erkenntnis, die du hattest, während wir voneinander getrennt waren?
Gordian schob die Augenbrauen zusammen und um seine Mundwinkel zuckte es.
Was ich … für dich … empfinde, spielt keine Rolle mehr, sagte er schließlich.
Doch, das tut es!, gab ich aufgebracht zurück. Für mich ist es sogar entscheidend.
Gordy sah mich an. Ich spürte die Wärme seiner Hände auf meinen Schultern und wünschte mir so sehr, dass er mich endlich in seine Arme zog.
Ich werde dich zurückbringen, sagte er stattdessen.
Ich wollte nicht glauben, was ich da hörte.
Du solltest zu deiner Großtante gehen und mit Cyril Kontakt aufnehmen.
Ich schüttelte energisch den Kopf. Das konnte unmöglich sein Ernst sein!
Er, Tyler, Jane und Javen Spinx können besser auf dich aufpassen als ich.
Das musst du doch gar nicht, protestierte ich. Vorhin hast du mich auch nicht …
Gordy unterbrach mich, indem er mit seinem Finger kurz meine Lippen berührte. Du weißt genau, warum ich dir bei den Haien nicht zur Seite gestanden habe.
Ja, das wusste ich. Aimee wäre ertrunken, hätte Gordian sich nicht um sie gekümmert. Außerdem wäre die Situation höchstwahrscheinlich eskaliert, wenn er versucht hätte, mich gegen meine Artgenossen zu verteidigen.
Dir war klar, dass sie mir nichts tun würden, sagte ich. Und was jetzt?, fragte ich, nachdem Gordy mich nur schweigend ansah. Was willst du jetzt tun?
Ich suche meine Eltern.
Aber du wolltest sie doch aus dieser Sache heraushalten!
Wie ich schon sagte: Die Dinge haben sich geändert, entgegnete Gordian. Ich glaube nicht, dass sich ein Krieg zwischen Haien und Delfinen nun noch aufhalten lässt. Du und ich allein werden es jedenfalls nicht schaffen. Wir brauchen den Rat und die Hilfe anderer. Vielleicht können wir zumindest noch verhindern, dass auch die Menschen mit hineingezogen werden.
Ich hatte genau gehört, was er gesagt hatte, und ich hatte jedes einzelne Wort und auch deren Bedeutung verstanden. Mir war klar, welche Gefahr uns allen drohte, dennoch zählte für mich nur eins.
Du hast wir gesagt.
Ich kann dich schließlich nicht zwingen, auf den Kanalinseln zu bleiben, gab Gordy zurück. Es ist deine Entschei…
Ich komme mit dir!, unterbrach ich ihn. Egal, wohin du schwimmst.
Gordian schloss die Augen und seufzte.
Hast du etwas anderes erwartet?
Nein, sagte er leise. Ich wünschte nur …
Was?
Gordy antwortete nicht gleich, sondern sah mich wieder nur an.
Plötzlich streckte er seine Arme nach mir aus und legte seine Hände um mein Gesicht. Seine Stirn ruhte auf meiner, und sein Blick war so intensiv, dass mir der Atem stockte.
… dass du vernünftiger wärst.
T-tut mir leid, stammelte ich.
Ja, mir auch.
Ich bildete mir ein, ein Lächeln in seinen Augen zu sehen. Doch ehe ich ihm meine Arme um den Hals schlingen konnte, hatte er mich auch schon wieder losgelassen.
Wenn wir Glück haben, finden wir meine Familie vor der Küste Portugals, sagte er.
Und wenn nicht?
Müssen wir bis Madeira oder sogar bis zu den Kapverdischen Inseln schwimmen. Für diese Strecke brauchen wir mehrere Tage.
Kapverdische Inseln … In Gedanken versetzte ich mich in meine Schulzeit zurück. Es schien mir eine Ewigkeit her zu sein, dass ich das letzte Mal im Erdkundeunterricht gesessen hatte, tatsächlich waren seitdem erst zwei Monate vergangen.
Und ich dachte, sie leben irgendwo mitten im Atlantik …
Soweit ich mich erinnerte, lagen die Kapverdischen Inseln aber in unmittelbarer Nähe der afrikanischen Westküste.
Nicht, seitdem ich hier an Land gegangen bin, erwiderte Gordy. Wir haben verabredet, dass sie in der Nähe dieser Inseln auf mich warten … für den Fall, dass etwas Unvorhergesehenes passiert.
Aber wieso?, fragte ich. In Landesnähe ist es meistens besonders laut und dreckig. Das leuchtete mir nun wirklich nicht ein. Und du … du brauchst doch überhaupt kein Land. Wieso … ?
Gordys Miene verschloss sich so plötzlich, dass ich irritiert abbrach.
Nein, ich nicht, sagte er. Aber damals, als ich mit Cullum und Ozeane gesprochen habe, konnte ich schließlich noch nicht ahnen, dass du …
Jetzt geriet er ins Stocken. Und mir ging vor Freude das Herz auf.
Willst du damit sagen, du hättest mich … damals … auf deinem Rücken bis Madeira getragen?, hauchte ich.
Wenn es nötig gewesen wäre, hätte ich dich auf meinem Rücken durch alle Ozeane dieser Welt getragen. Gordians Blick wurde für einen Augenblick ganz warm und weich, ehe er wieder einen ernsten Ausdruck annahm. Ab jetzt wirst du es allein schaffen müssen.
Diesmal schwamm Gordy eine Schwanzlänge hinter mir, um den rückwärtigen Meeresbereich im Auge zu behalten, und wies mir über seine Gedanken den Weg. Je weiter wir uns von den Kanalinseln entfernten, umso ruhiger und klarer wurde das Wasser. Der Meeresgrund lag tief unter uns und war nur noch selten von Riffen durchzogen. Unzählige Fischschwärme zogen an uns vorbei und hin und wieder kreuzte ein Fuchshai, ein Schweinswal oder eine Delfinschule unseren Weg. Es wunderte mich allerdings, dass wir keinem einzigen Nix begegneten.
Mich nicht, murmelte Gordy. Ich empfange ihre Signale und sorge dafür, dass wir nicht in ihre Nähe geraten.
Natürlich! Wie dumm von mir! Wäre ich allein unterwegs, hätte ich wahrscheinlich bereits einen ganzen Schwarm von Nixen als Gesellschaft.
Hättest du nicht, entgegnete Gordy. Jedenfalls nicht, solange du keine Selbstgespräche führst. Und wir sollten uns besser auch nur über die absolut notwendigsten Dinge austauschen, ermahnte er mich. Zumindest solange wir uns im Meer aufhalten.
Schwimmen wir etwa die ganze Strecke an einem Stück?, fragte ich und zog einen kräftigen Schwall Wasser durch meine Lungen.
Die lange Reise von Lübeck nach Herm und der Kampf mit Kyan und den Haien hatten mich müde gemacht. Mein Kopf fühlte sich schwer an, meine Schwanzflosse bewegte sich von Minute zu Minute langsamer und kraftloser, und allmählich begannen Zweifel an mir zu nagen, ob ich den weiten Weg bis Madeira, geschweige denn bis zu den Kapverden tatsächlich bewältigen konnte. Trotzdem bemühte ich mich, weiter das recht hohe Tempo zu halten, und kämpfte tapfer gegen das flaue Gefühl in meiner Magengrube und die Schwere in meinen Gliedern an.
Das Meer um uns herum wurde immer stiller und dunkler und plötzlich glitt Gordy an meine Seite und legte seinen Arm um mich.
Du bist müde.
Ja, sagte ich und schmiegte mein Gesicht erschöpft in seine Halsbeuge.
Dann ruh dich eine Weile aus. Sein Griff wurde fester und er drückte sogar einen flüchtigen Kuss in mein Haar. Ich halte dich.
Es war einfach wunderbar, endlich wieder seine vertraute Wärme zu spüren. Ein stilles Glück durchströmte mein Herz und im nächsten Moment war ich bereits von einer tiefen Ruhe umfangen.
Als ich die Augen aufschlug, sah ich die Sterne funkeln. Am nachtblauen Himmel, direkt über einem hellen Streifen am Horizont, stand die schmale Mondsichel, so zart und durchscheinend, als wäre sie aus Spitzenstoff.
Mit einem Ruck setzte ich mich auf und stellte fest, dass ich mich auf einem schmalen Sandstrand befand. Rund um mich herum ragten schroffe, von unzähligen hellen Vogelkörpern besetzte Felsen auf.
Gordian konnte ich nirgends entdecken, und schon bereute ich es, dass ich mich in seinen Armen so vertrauensselig dem Schlaf überlassen hatte.
Es war das einzig Richtige, hörte ich ihn antworten und einen Atemzug später glitt er unmittelbar vor mir aus dem Wasser. Er schlang sich die Delfinhaut um, machte einen Schritt auf mich zu und hielt mir zwei Sprotten entgegen. Jetzt musst du nur noch etwas essen.
»Nein, jetzt möchte ich endlich erfahren, warum du nach Lübeck gekommen bist«, erwiderte ich.
Gordy seufzte leise, und als ich keine Anstalten machte, ihm die Fische abzunehmen, legte er sie vor meine Füße und ließ sich neben mich in den feuchten Sand fallen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er zu reden begann.
»Ich wollte es nicht«, sagte er schließlich. »Nachdem wir … also, nach dieser Sache zwischen uns war ich fest entschlossen, den Ärmelkanal für immer zu verlassen.«
Warum?
Weil ich dir nie wieder wehtun wollte.
Gordian hatte die Beine angewinkelt und starrte angespannt aufs Meer hinaus. Die Ellenbogen ruhten auf seinen Knien, und er rieb nervös mit den Fingern der einen Hand über die Knöchel seiner anderen, die er fest zur Faust geballt hatte.
»Es hat mich innerlich fast zerrissen, als ich mir eingestehen musste, dass ich nicht besser bin als Kyan«, presste er voller Bitterkeit hervor. »Ich war genauso süchtig nach dir wie er nach Lauren oder einem der anderen Mädchen.«
Ich schüttelte den Kopf. Wieder und wieder, weil ich einfach nicht fassen wollte, wie er so etwas denken konnte. »Du hast mich nicht getötet. Du hast nicht mal mit mir geschlafen! «
»Ich wollte es … Aber das ist ja wohl gründlich danebengegangen. «
»Es ist nicht allein deine Schuld gewesen.«
»Mag sein«, sagte er leise.
»Ich habe dich auch nicht getötet«, wisperte ich. »Obwohl ich damals einen ganz starken Impuls verspürt habe, es zu tun.«
Gordy nickte. Ich auch. Das ist es ja, was mich so erschreckt hat.
»Ich glaube, das muss es nicht«, sagte ich. »Mittlerweile bin ich sogar überzeugt davon, dass es wichtig für uns war, diese Erfahrung zu machen. Verstehst du, bevor es passiert ist, war ich felsenfest davon überzeugt, dass du mir nicht gefährlich werden könntest. Inzwischen verstehe ich dich und deine Zurückhaltung, deine ständigen Bedenken und deine Angst viel besser.«
Gordian rieb sich über die Augen und wandte sich mir dann mit ernster Meine zu. Und wenn es wieder passiert?
»Tut es nicht.«
»Was macht dich so sicher?«
Ich weiß es einfach …, sagte ich leise. Mein Herz hat es mir zugeflüstert.
Gordy schwieg, und wieder einmal schaffte ich es nicht, seine Gedanken zu ergründen.
Nach einer Weile wies er auf die Sprotten vor meinen Füßen.
»Wie lange willst du noch warten? Bis du verhungert bist?«
Meine empörte Geste beeindruckte ihn nicht.
»Ich bin nicht deine Großtante«, sagte er. »Ich besitze weder einen Herd noch eine Pfanne. Außerdem sind diese Tiere gern für dich gestorben.«
Ungläubig sah ich ihn an.
»Nixe lieben die Jagd«, erklärte er mir. »Aber sie jagen nur dann, wenn sie Hunger haben, und ausschließlich das, was sich ihnen freiwillig anbietet. Also sei den Fischen dankbar und bemühe dich wenigstens darum, sie mit Genuss zu verzehren … Sie haben es verdient.«
Ich schluckte. Die Art und Weise, wie Gordian das Leben achtete, imponierte mir immer mehr. Es gab so vieles, was für ihn selbstverständlich war, über das ich mir noch nie Gedanken gemacht hatte.
»Heißt das, ihr redet mit den Fischen, bevor ihr sie fangt?«, fragte ich vorsichtig.
»So ähnlich.« Gordy zuckte mit den Schultern. »Du wirst schon noch dahinterkommen.«
Ich ließ meinen Blick über das dunkle Meer gleiten, hörte das Rauschen der Wellen, die auf den Strand rollten und sich rechts und links von uns an den Klippen brachen.
»Was bleibt mir denn auch anderes übrig?«, erwiderte ich ein wenig sarkastisch. »Ich nehme an, bis zu den Kapverdischen Inseln gibt es weit und breit nichts anderes als rohen, lebendigen Fisch.«
»Stimmt«, sagte Gordy und lachte leise.
»Warum bist du trotzdem nach Lübeck gekommen?«, fragte ich, nachdem ich eine der Sprotten aufgehoben und eine Weile unschlüssig betrachtet hatte.
Gordians rechter Arm rutschte von seinem Knie herunter, und er begann, mit dem Finger Kringel in den Sand zu zeichnen.
»Weil ich dich sehen wollte. Ich musste sicher sein, dass du unverletzt bist … und dass du dein Leben ohne mich…« Er brach ab und barg das Gesicht in seinen Händen.
»Ich hätte es geschafft«, wisperte ich. »Irgendwie … Ich hätte mich damit getröstet, dass das Meer eine größere Aufgabe für dich bereithält.«
»Für einen Plonx?«
Er sah mich kurz an und wandte sich kopfschüttelnd wieder ab.
»Hör auf damit«, sagte ich nachdrücklich. »Hör endlich auf, dich so klein zu machen! Du bist wundervoll, Gordy. Nicht nur für mich. Jane glaubt auch, dass du so etwas wie eine Ausnahme bist. Es sind ausschließlich eure Legenden, die davon sprechen, dass ein Plonx ein Ausgestoßener ist …«
»Aber das bin ich doch auch!« Gordys Pupillen zogen sich zu schmalen Ellipsen zusammen. »Niemand will mehr etwas mit mir zu tun haben. Meine ehemaligen Freunde sind zu meinen Feinden geworden. Sie jagen mich …«
»Nicht Idis«, wandte ich sofort ein. »Und auch deine Eltern stehen noch immer zu dir. Vielleicht ist in Wahrheit alles ganz anders. Vielleicht bist du …«
»Was?«
»Ich weiß es doch auch nicht.« Mutlos ließ ich die Schultern sinken. »Es ist nur so eine Ahnung. Etwas, das ich nicht greifen kann. Wie soll ich es dir da erklären?«
Gordian musterte mich stirnrunzelnd.
»Vielleicht ist es ja auch bloß dein Wunsch«, sagt er leise.
Nein, Gordy, es ist mehr als das. Und ich hoffe so sehr, dass wir das herausfinden. Möglicherweise wissen deine Eltern mehr, als sie bisher preisgegeben haben. Oder sie kennen jemanden, der mit diesen Legenden vertraut ist.
Gordian schwieg.
»Erinnerst du dich noch, was ich mal über Zak gesagt habe?«, fragte er schließlich.
»Hm?« Ich hob die Schultern. »Dass er Kyan nicht als Anführer anerkennt?«
»Ja, und was noch?«
Angestrengt kramte ich in meinem Gedächtnis. »Dass er Kontakt zu anderen Allianzen sucht?«
Gordy sah mich an. Seine Augen schimmerten verführerisch, und ich begann, mich im so vertrauten Türkisgrün zu verlieren.
»Jetzt überwinde dich endlich«, knurrte er ungeduldig und deutete auf die Sprotte in meiner Hand. »Durch das lange Herumliegen werden sie auch nicht besser.«
Leise seufzend führte ich den Fisch an meine Lippen und löste vorsichtig ein Stück von der zarten Außenhaut ab. Sie schmeckte gar nicht mal so schlecht, und Gordian starrte mir auf den Mund, als würde er die Sprotte um ihr Schicksal beneiden.
Mein Herz polterte los. Ich war drauf und dran, den Fisch fallen zu lassen und Gordy in meine Arme zu ziehen, doch ehe ich mich überhaupt rühren konnte, hatte er sich schon wieder abgewandt.
»Wie Kyan ist auch Zak in der Lage, Land zu betreten und andere Nixe mitzunehmen«, sagte er finster. »Ich halte es mittlerweile nicht einmal mehr für ausgeschlossen, dass exakt das zu Kyans Plan gehört. Ich glaube, ich habe ihn unterschätzt. Er ist viel ausgefuchster, als ich dachte.«
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
»Es ist gut möglich, dass Kyan Zak dazu gebracht hat, sich von ihm und der Gruppe zu lösen. Er will, dass Zak irgendwo anders an Land geht. Verstehst du, Elodie, irgendwo auf der Welt.«
Ich nickte beklommen.
»Dummerweise habe ich mich nicht weiter um Zak gekümmert und irgendwann seine Signale verloren«, fuhr Gordy fort. »Und ich fürchte, Kyan hat genau darauf gesetzt. Er konnte sicher sein, dass ich die Westküste Guernseys nicht verlassen würde.«
»Na ja«, wandte ich ein. »Trotzdem solltest du ihn auch nicht überschätzen. Schließlich hat er weder etwas von meiner Verwandlung mitgekriegt noch davon, dass ich nach Lübeck zurückgereist bin.«
»Gereist?« Gordy lachte auf. »Du meinst wohl, geflohen! Vor mir geflohen …«
Nein, nicht vor dir, sagte ich zögernd. Javen Spinx und Jane haben mir eingeredet, dass es besser für das Schicksal der Menschen und der Nixe ist, wenn wir zwei … wenn du und ich … nicht weiter zusammenbleiben.
Sie haben dich aufgesucht?, gab Gordy überrascht und auch ein wenig verärgert zurück.
So ähnlich, antwortete ich ausweichend.
Was heißt das?
Willst du das wirklich wissen?
»Natürlich!«
Ich bin dir gefolgt, flüsterte ich. In der letzten Neumondnacht … nachdem das zwischen uns passiert war … Javen Spinx und Jane haben mich abgefangen!
Die Erinnerung daran machte mich zornig. Ich schlug meine Zähne in den Fisch, den ich noch in der Hand hielt, riss ein großes Stück heraus, kaute es gründlich durch und schluckte es hinunter. Mit jedem Bissen fand ich mehr Gefallen daran, und als ich kurz darauf beide Sprotten verspeist hatte, empfand ich tatsächlich so etwas wie Dankbarkeit dafür, dass sie ihr Leben gegeben hatten, damit ich satt wurde.
»Und du hast dich so leicht überzeugen lassen?«, fragte Gordian. Gleich darauf machte er eine unwillige Geste. »Ach, verdammt! Ich werfe dir das nicht vor, Elodie. Es ist nur …«
»Ich habe es aus dem gleichen Grund getan wie du«, unterbrach ich ihn. »Die Last, möglicherweise schuld am Verlust unzähliger Menschen- und Nixenleben zu sein, hätte ich nicht tragen können, und noch weniger wollte ich sie dir zumuten. Aber all das zählt nun nicht mehr, weil es anders gekommen ist, als wir gehofft haben. Kyan und seine Freunde sind ohne dich an Land gegangen. Niemand konnte es verhindern. Und es nützt auch niemandem auf dieser Welt, wenn wir aufeinander verzichten, Gordy, hörst du … Niemandem!« Während ich auf ihn einredete, legte ich meine Hand auf seine Brust, drückte ihn in den Sand hinunter und beugte mich über ihn. »Außerdem hat das Meer verhindert, dass ich in Lübeck bleiben konnte. Es hat sich mir sozusagen … entgegengestellt.«
Gordian kniff die Augen zusammen. Irritiert sah er mich an.
»Das kann nicht sein … Das musst du dir …«
Ich habe es mir nicht eingebildet, unterbrach ich ihn. Ich wollte zurückschwimmen. Ich war wirklich entschlossen, dich zu vergessen, aber das Meer hat mich nicht gelassen. Es war stärker als ich … Das musst du mir glauben. Es ist die Wahrheit.
Die Wahrheit?
Gordians Pupillen waren groß und rund. Die feine Mondsichel spiegelte sich darin und das Türkis seiner Iris lag wie ein Strahlenkranz darum. Sein Blick nahm mich vollkommen gefangen.
Ich nickte.
Du wolltest mich also vergessen?
Ganz ehrlich, schwor ich.
Aber das Meer hielt das für keine gute Idee?
»Nein«, sagte ich rau.
Mein Hals war wie zugeschnürt, und mein Puls rauschte mir so laut in den Ohren, dass er die Geräusche des Meeres übertönte.
Gordy lag völlig reglos da und sah mich nur an. Ich spürte seine Haut unter meinen Händen und seinen Atem in meinem Gesicht.
»Hörst du mein Herz, Elodie …?«, wisperte er. »Hörst du, wie es flüstert?«
Es flüstert und flüstert … und ich kann nichts dagegen tun.
Seine Hände strichen so zart wie ein Windhauch über meine Schultern und meinen Hals hinauf bis zu meinem Gesicht. Gordy streichelte mein Kinn und meine Wangen und zog die Linien meiner Brauen nach. Sein Blick folgte seinen Fingern, und in seinen Augen, die mich still betrachteten, lag ein Ausdruck von Erstaunen.
Langsam zog er mich zu sich herunter, tippte mit seiner Nasenspitze gegen meine und berührte meinen Mund sachte mit seinen Lippen.
»Was ist?«, fragte ich leise. »Worüber wunderst du dich …?«
Über das, was du mit mir machst.
Aber ich mache ja gar nichts.
»Doch, das tust du … indem du einfach … bist.«
Gordy schloss die Augen und ich küsste ihn zurück. Eine warme Welle der Zärtlichkeit durchflutete mich, und ich legte alles, was ich in diesem Moment empfand, in diesen einen zarten Kuss.
Gordian seufzte leise. Seine Lider hoben sich und ein Lächeln erhellte das Türkis seiner Iris. Liebevoll schob er mir eine Locke aus dem Gesicht – und dann küsste er mich so, als täte er es zum ersten Mal. Zögernd schmeckte er meine Lippen, sanft streichelte seine Zunge über meine. Seine Hände spielten mit meinen Haaren und tasteten sich dann langsam meinen Rücken hinunter.
Seine Berührungen ließen mich Kyan, die Hainixe und die unbestimmte Bedrohung, die unter der Meeresoberfläche schwelte, vergessen. Es gab nur Gordy und mich und dieses winzige Eiland irgendwo mitten im Atlantik.
»Und ich dachte schon, du tust es nie wieder«, sagte ich leise, als wir nach einer Ewigkeit unsere Lippen voneinander lösten und ich meinen Kopf selig in seine Halsbeuge sinken ließ.
»Ich war wirklich entschlossen …«, murmelte er. »Aber jetzt …«
Sein Atem wanderte über meine Stirn, und ich sog seinen vertrauten und doch so fremden Duft ein – herb und frisch und von einer Intensität, die mir schier die Sinne raubte.
Aber jetzt?
Gordian legte seine Hand in meinen Nacken und richtete langsam seinen Oberkörper auf, sodass ich sachte von seiner Schulter in den Sand hinunterglitt.
»Inzwischen ist es mir ein Rätsel, wie ich es so lange ohne dich ausgehalten habe«, wisperte er. »Vielleicht konnte ich es nur, weil ich wusste, dass ich dich noch einmal wiedersehen würde.«
»Da hattest du mir etwas voraus.«
»Ja.« Gordy beugte sich über mich. Seine Locken kitzelten mich auf der Wange.
»Du hast dich selbst belogen.«
»Hmm …« Er ließ seine Stirn auf meine sinken. Würde es dir etwas ausmachen, das Thema zu wechseln?
Kein Problem. Worüber möchtest du reden?
Seine Antwort war ein Kuss. So süß und so tief, dass ich das Gefühl hatte, unter ihm im Sand zu versinken. Ich spürte die Wärme seiner Haut auf meinem Körper und schloss meine Arme fest um ihn.
Ich wünsche mir so sehr …, hörte ich ihn flüstern.
Seine Stimme war in meinem Kopf, in meinem Herzen und in meiner Seele. Sie berührte jede Faser meines Seins.
Ich auch, Gordy. Ich auch!
Ich konnte mir keinen schöneren Ort vorstellen.