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Nachdem ich geduscht hatte, schlich Gordy über den Balkon ins Gästehaus hinüber, und ich ging hinunter, um mit Tante Grace zu frühstücken. Sie hatte ausgesprochen gute Laune, lobte Gordians gute Erziehung und vergaß nicht zu erwähnen, wie begeistert sich auch Ruby und Ashton über ihn geäußert hatten.

»Ich würde mich freuen, wenn er in Zukunft immer mit uns zusammen isst«, eröffnete sie mir. »Eigentlich hätte ich gestern Abend schon daran denken sollen, ihn zum Frühstück einzuladen. «

»Oh, das ist kein Problem«, beeilte ich mich zu sagen, »Gordian geht morgens ziemlich früh schwimmen und frühstückt dann meistens im Vazon Bay Café.«

»Heute auch?«

»Ja.« Ich nickte. »Danach holt er mich ab. So um halb elf.«

»Gut.« Tante Grace zupfte an ihrem Silberohrring und versuchte, nicht allzu neugierig zu wirken. »Was habt ihr denn vor?«

»Ach, wir wollen bloß ein bisschen mit den anderen abhängen «, schwindelte ich, dabei wäre es eigentlich gar nicht nötig gewesen. Sie hätte ruhig wissen können, dass wir in Wahrheit nach St Peter Port fahren wollten, damit wir für Gordy noch ein paar Klamotten kaufen konnten.

Ein Anflug von Misstrauen huschte über Tante Gracies Gesicht. »Mit den anderen? Sind die denn gar nicht in der Schule beziehungsweise auf der Arbeit?«

Verdammt, das hatte ich nun davon, dass ich nicht in der Lage war, Wahrheit und Notlüge klug zu dosieren!

»Ähm, doch … natürlich«, erwiderte ich stockend. »Wir sehen sie ja auch erst später. Außer Cyril … Der hat heute frei und ist vielleicht jetzt schon dort.«

Dass ich diese vollkommen unnötige Information besser für mich behalten hätte, wurde mir in der Sekunde klar, als ich die Kinnlade meiner Großtante herunterklappen sah.

»Oh, Gordian, Cyril und du?«, bemerkte sie ironisch. »Das wird sicher spannend.«

»Wir haben uns ausgesprochen, Cyril und ich«, versicherte ich ihr.

»Ja, und da habt ihr euch praktischerweise gleich alle drei angefr…«

Ich ließ sie nicht ausreden. »Außerdem habe ich ihm mein Fahrrad geliehen. Er gibt es mir heute zurück.«

»Aaah.« Tante Grace hob die Augenbrauen. »In der Tat hatte ich mich schon gefragt, wo es wohl abgeblieben ist.«

»Tut mir leid«, sagte ich und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich wusste nicht, dass du es brauchst.«

»Keine Sorge«, entgegnete sie. »Ich habe es nicht gebraucht. Ich habe bloß gerne alles im Blick.«

Puh! Na klar! Wenn ich nicht wollte, dass meine Großtante dahinterkam, wer Gordian in Wahrheit war, sollte ich mich wohl schnellstens auf ihren Kontrollwahn einstellen. Eigentlich hatte ich das Fahrrad schlicht vergessen. Erst heute Morgen, als Gordy und ich unsere Pläne für den Tag schmiedeten, war mir siedend heiß eingefallen, dass es noch immer an der Befestigungsmauer in der Cobo Bay lehnte. – So nachlässig würde ich ganz bestimmt nie wieder sein!

»Tut mir leid«, wiederholte ich. »Das nächste Mal sage ich dir Bescheid.«

Tante Grace nickte. »Fein.« Ihr Blick signalisierte allerdings das genaue Gegenteil davon und ihre gute Laune schien sich in Luft aufgelöst zu haben. »Dann wird es wohl das Beste sein, ich packe euch einen Proviantkorb«, fuhr sie ein wenig unterkühlt fort. »Und eine warme Mahlzeit gibt es dann heute Abend. Eine Bekannte aus St Martin will mir nachher eine Seebrasse vorbeibringen. Weißt du, sie war so entzückt von dem Ballkleid, das ich ihrer Tochter genäht habe, dass sie es sich nicht nehmen lassen wollte, mir eine kleine Freude zu machen. «

»Das klingt gut«, sagte ich und bemühte mich, wenigstens ein bisschen enthusiastisch auszusehen. Ich konnte mir nämlich kaum vorstellen, dass sie diesen Edelfisch mit einer Panade aus Semmelbröseln versehen würde. »Gordian wird bestimmt total begeistert sein.«

Das zumindest hoffte ich. Aber leider war er es nicht. Weder von der Tüte mit den Broten vom Vorabend noch von dem Aprikosenkuchen und den Bananen, die Tante Grace mir eingepackt hatte, und schon gar nicht von der Aussicht, gekochten Fisch essen zu müssen.

Aber auch unabhängig davon war er nicht sonderlich gut drauf. Wieder lag dieser seltsame Ausdruck auf seinem Gesicht, und ich fragte mich, ob ihn unser Gespräch von heute früh wohl immer noch beschäftigte. Seine merkwürdige Stimmung übertrug sich schleichend auf mich, und die Angst, dass er mir womöglich etwas Wesentliches verschwieg, fraß sich erbarmungslos in mein Herz.

Inzwischen war es kurz nach elf. Wir saßen auf der Mauer, die zu einem hübschen, in einem zarten Gelb gestrichenen Privathaus gehörte, und warteten auf den Bus nach St Peter Port.

»Wolltest du mir heute Morgen nicht etwas über deine Vergangenheit erzählen?«, tastete ich mich zaghaft vor. Ich hielt es einfach nicht länger aus, darauf zu hoffen, dass er von sich aus damit begann.

Gordy schaute mich an. Dann richtete er seinen Blick über die Straße hinweg zum Meer. Es lag ruhig und petrolfarben da und der Himmel darüber war dicht mit grauen Wolken bedeckt. Wir brauchten uns also keine Gedanken darüber zu machen, irgendjemandem könnte auffallen, dass Gordy keinen Schatten warf.

»Ja«, sagte er zögernd.

»Das mit der Bestimmung ist also nicht alles gewesen?«

»Nein.« Er hob die Schultern. »Das hat ja im Grunde auch mit mir gar nichts zu tun.« Er sah mich noch immer nicht an.

»Abgesehen davon, dass es deine Eltern betrifft«, betonte ich.

Gordy nickte und schwieg.

»Entschuldigung«, sagte ich. »Ich wollte dich nicht unterbrechen. «

»Das hast du nicht«, erwiderte er. »Ich suche nur nach den passenden Worten.«

Wieder spürte ich diesen fiesen Stich in der Brust. Gordy wusste also nicht, wie er ES mir, was auch immer es war, beibringen sollte. Eine Kleinigkeit konnte es demnach nicht sein. Unruhig rutschte ich auf der Mauer hin und her, und dann fingen auch noch meine Knöchel an zu brennen, was ich am liebsten ignoriert hätte. Es nervte mich, dass ich mich mit diesem lästigen Phänomen, nachdem es für eine Weile völlig verschwunden schien, nun erneut herumschlagen musste, und das, obwohl ich meine Angst vor Wasser längst überwunden hatte.

»Sag es doch einfach«, forderte ich Gordian auf. Ich wollte es jetzt endlich wissen.

»Kannst du es dir nicht denken?«, fragte er so leise, dass ich es kaum verstand.

»Nein«, sagte ich ungeduldig. »Wenn du keine Freundin hattest, dann weiß ich auch nicht, was es sein könnte.«

»Na ja, ich hatte keine feste Freundin.«

»Also hattest du doch eine!«, stieß ich aus. »Wieso gibst du das denn nicht einfach zu?«

Das Brennen stieg an den Außenseiten meiner Unterschenkel hinauf und erreichte meine Knie. Meine Ungeduld drohte sich zu einem Wutanfall auszuwachsen.

»Weil es nicht bloß eine war«, sagte Gordy stockend. »Sondern mehrere. Um genau zu sein: viele.«

Ich warf den Kopf in den Nacken und schnaubte laut aus. Dann sprang ich von der Mauer hoch. Ich wollte ihm Vorwürfe machen, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Warum hatte er heute Morgen überhaupt davon angefangen? Hätte er diese Sache nicht für sich behalten können? Mit einem Mal schien das, was zwischen uns war, austauschbar und wertlos zu sein.

»Elodie«, wisperte Gordian. Er versuchte, mir in die Augen zu sehen, doch sein Blick glitt immer wieder zur Seite. Seine karamellfarbene Gesichtshaut war ganz fahl geworden, und um seinen Mund lag ein Zug, als ob er unter heftigen Schmerzen litt. »Wenn ich geahnt hätte, dass ich dich treffen würde … Ich hätte niemals …«

»Warum hast du es mir überhaupt gesagt?«, presste ich hervor. Meine Augen brannten nun fast so heftig wie meine Beine, aber ich kämpfte tapfer gegen die aufsteigenden Tränen an. Ich wollte nicht heulen. Nicht in aller Öffentlichkeit und schon gar nicht vor Gordy.

»Weil ich dir nichts verschweigen will, Elodie«, flüsterte er.

»Du sollst wissen, wer ich bin. Auch wenn ich mich dafür zu Tode schäme.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff. Und dann wäre ich selbst vor Scham fast im Boden versunken. Gordian merkte sofort, was mit mir los war, und zog mich in seine Arme. Ich sackte auf seinen Schoß, klammerte mich an ihn und hörte nicht auf, »Es tut mir leid, es tut mir so leid, bitte verzeih mir« zu murmeln.

»Ich habe dir nichts zu verzeihen«, sagte er leise an meinem Ohr. »Ich möchte nur, dass du verstehst, warum ich mich nicht … nicht so schnell … noch nicht mit dir vereinen kann. Es würde all das, was ich für dich empfinde …«

»Schsch!« Hastig legte ich ihm meine Finger auf die Lippen. »Schon gut. Ich habe dich doch längst verstanden.«

Gordy sah mich an und ich ließ mich von seinem türkisgrünen Blick gefangen nehmen. Noch immer raubte er mir damit den Atem, aber es glich keinem Ersticken mehr, sondern fühlte sich einfach nur richtig an. Ich spürte, dass ich zu ihm gehörte, dass es eine Schicksalsmacht sein musste, die uns zusammenhielt, und von einem Augenblick auf den nächsten war alles vergessen, was mir eben noch so tief ins Herz geschnitten hatte.

Sanft schob Gordy meine Hand zur Seite. »Du und ich, Elodie «, flüsterte er, während er seine Fingerkuppen langsam in meinen Nacken gleiten ließ. Sein Daumen strich über meine Wange und sein Blick ruhte weiter fest und voller Zärtlichkeit in meinem. »Nur du und ich.« Dann schloss er die Augen und küsste mich warm und tief. Und dieser Kuss war sehr viel mehr als ein Versprechen.