Inzwischen war der Abend hereingebrochen. Der Wind hatte nachgelassen, die Wolken hingen nicht mehr so tief und auch das Meer war ein wenig zur Ruhe gekommen.
Seit einer geraumen Weile saßen Javen Spinx, Jane und ich nun schon auf den Klippen, und einer dumpfen Ahnung zum Trotz war mir noch immer nicht klar, was sie nun eigentlich wirklich von mir wollten.
Ich warf einen Blick zu den Cottages hinauf und registrierte, dass in beiden Häusern Licht brannte. Tante Grace war also offenbar nach wie vor mit dem Herrichten der Gästewohnungen beschäftigt.
»Warum haben Sie in St Peter Port so getan, als würden Sie mich nicht kennen?«, fragte ich.
»Du«, sagte Javen Spinx.
Ich sah ihn stirnrunzelnd an.
»Warum hast du in St Peter Port so getan …« Er lächelte.
»Entschuldigung.« Keine Ahnung, wieso, aber es fiel mir einfach schwer, ihn zu duzen.
Javen Spinx hob die Hände. »Kein Problem. Du wirst dich schon noch daran gewöhnen.«
»Wollten Sie mich warnen? Oder gibt es einen anderen Grund? Hatte es vielleicht sogar mit meiner Mutter zu tun?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Du siehst ihr übrigens nicht besonders ähnlich.«
»Dann komme ich wohl mehr nach meinem Vater«, sagte ich schulterzuckend.
»Mag sein.« Um Javen Spinx’ Mundwinkel zuckte es. »Jedenfalls ist deine Mutter eine ganz wundervolle Frau. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich damals so viel Zeit mit ihr verbringen durfte.«
»Waren Sie in sie verliebt?«, rutschte es mir über die Lippen.
»Oh ja!« Seine Augen leuchteten auf und um seine Pupillen bildete sich ein sonnengelber Strahlenkranz. »Sehr sogar.«
Ich war so perplex, dass ich ihn ein paar Sekunden lang nur anstarrte
»Aber sie hat mir gesagt, dass Sie in dieser Hinsicht überhaupt kein Interesse an ihr gezeigt hätten«, platzte ich schließlich heraus.
»So, hat sie das?« Ein tiefes Lächeln grub sich in Javen Spinx’ Augenwinkel. »Na ja, ein Hai weiß sich eben zurückzuhalten.« Plötzlich verhärteten sich seine Züge, und er kam mir so nah, dass sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten. »Wir kennen unsere Grenzen, Elodie«, sagte er sehr leise, dafür aber umso schärfer. »Und wir übertreten sie nicht.«
Er hatte seine Hand auf meinen Unterarm gelegt, und ich spürte die gleiche Kälte auf meiner Haut, die ich schon in Lübeck bemerkt hatte – damals sogar durch meine dicke Canvasjacke hindurch.
Ich schluckte schwer, denn ich ahnte, was jetzt kam. Er wollte mir Gordy nicht ausreden – oh nein, er wollte, dass ich mich aus freien Stücken gegen ihn entschied. Doch zu meiner Überraschung knüpfte Javen Spinx nun an meine ursprüngliche Frage an.
»In St Peter Port waren andere Hainixe in der Nähe«, erklärte er, »und ich kann es mir nicht leisten, mit einem Delfinnix in Verbindung gebracht zu werden. Dadurch würde meine Autorität untergraben. Es tut mir wirklich leid, wie ich mich dir gegenüber verhalten habe. Schließlich war es ganz allein meine Schuld. Ich war einfach nicht umsichtig genug, eigentlich hättest du mich gar nicht entdecken dürfen«, fügte er etwas milder hinzu.
Das kann nicht stimmen, dachte ich, denn natürlich fielen mir sofort Bos Worte wieder ein. Er hatte behauptet, dass es Javen Spinx bei allem, was er tat, nie um ihn selbst ginge, sondern einzig und allein darum, Schaden von einzelnen Individuen seiner Art abzuwenden. Wenn der Hainixjunge recht hatte, war Javen Spinx’ Erklärung also eine Lüge.
Herausfordernd sah ich ihn an, doch er dachte offenbar gar nicht daran, auf meine Gedanken einzugehen.
»Haie und Delfine passen nicht zueinander«, sagte er hart. »Was nicht heißt, dass sie sich nicht ineinander verlieben können. Wahrscheinlich ist eine Verbindung zwischen ihnen sogar von ganz besonderer Leidenschaft geprägt. Aber ihre Liebe füreinander bedeutet am Ende immer den Tod des einen.«
Am liebsten hätte ich mir wie ein kleines Mädchen die Hände auf die Ohren gepresst und trotzig signalisiert, dass ich keine Lust hatte, mir das noch weiter anzuhören. Ich öffnete den Mund, um aufs Heftigste zu widersprechen, aber Javen Spinx brachte mich mit einer einzigen Geste zum Schweigen.
»Schau in den Spiegel«, fuhr er fort. »Dann siehst du es mit deinen eigenen Augen. Und das ist erst der Anfang, Elodie … erst der Anfang.«
»Und was ist mit Gordy? I-ich kann ihn doch nicht ….« Alles in mir lehnte sich auf. Ich wollte diesen Satz nicht mal zu Ende denken.
Javen Spinx’ Blick verdunkelte sich. »Er muss fort von hier.«
»Aber er ist ein Plonx«, stammelte ich. »Er hat keine Freunde mehr … er wird es nicht überleben!«
Besser, er stirbt im Kampf mit einem Feind als beim Liebesakt mit dir!!!
Keine Ahnung, ob das mein eigener Gedanke war oder der von Javen Spinx. Ohnehin hätte ich nicht sagen können, ob und wie ein Echo zwischen uns Haien funktionierte, und mittlerweile interessierte mich das auch nicht mehr.
Javen Spinx und Jane verlangten, dass ich mich freiwillig von Gordian trennte, sie wollten, dass ich auf die Liebe meines Lebens verzichtete – genauso gut hätten sie mir auch ein Messer ins Herz stoßen können.
»Ich bin mir sicher, dass Gordy nicht einfach nur ein Plonx ist«, drang Janes leise Stimme in mein Ohr. »Irgendetwas an ihm erinnert mich an einen Wal.« Sie zögerte ein paar Sekunden, bevor sie umso eindringlicher fortfuhr: »Hat er dir gegenüber vielleicht mal erwähnt, dass einer seiner Vorfahren ein Wal gewesen ist?«
»Nein.« Ich hielt den Kopf gesenkt, damit sie und Javen Spinx nicht mitbekamen, dass ich zu weinen angefangen hatte. Lautlos rollten die Tränen meine Wangen hinunter, und ich versuchte, so viele wie möglich mit meiner Zunge aufzufangen, ehe sie auf meine Hände und die Haihaut tropfen konnten. »Soweit ich weiß, gibt es nichts Außergewöhnliches in seiner Familie … außer dass seine Eltern sich nicht mit anderen Nixen paaren.«
Ich spürte, dass die beiden einen Blick tauschten. Die angespannte Stille zwischen ihnen sank wie ein eisiger Nebelschauer auf mich herab.
»Es ist sehr wahrscheinlich, dass Gordy ein ähnliches Schicksal in sich trägt«, sagte Jane schließlich. »Mag sein, dass es ihm noch nicht bewusst ist, früher oder später aber wird es ihn rufen … und dann wird er gar nicht mehr anders können, als ihm zu folgen.«
Als ich eine gute Stunde später in der Abflughalle des Guernseyer Flughafens saß und darauf wartete, dass mein Flieger ausgerufen wurde, konnte ich mich kaum mehr daran erinnern, wie ich mich von Javen Spinx und Jane verabschiedet hatte. Ich wusste nur noch, dass ich nahezu blind vor Tränen über die Klippen und die Gartenterrassen zum Haus hinaufgestolpert war und mich mit einer Selbstverständlichkeit über das Geländer auf den Balkon hinaufgeschwungen hatte, als wäre dies schon immer meine Art gewesen, ein Haus zu betreten.
Ich hatte nicht einmal mehr darüber nachgedacht, ob es einen Ausweg gab und mir womöglich doch noch eine Wahl blieb.
Je länger du diese Trennung hinausschiebst, desto schmerzhafter wird sie sein.
Das waren vielleicht Janes letzte Worte gewesen, vielleicht auch Javen Spinx’ Gedanken – wie auch immer, sie beherrschten mich, seitdem ich mein Zimmer betreten hatte.
Ein flüchtiger Blick auf das zerwühlte, mit unzähligen Blutspritzern besprenkelte Bett, ein ebenso flüchtiges Streifen des Badezimmerspiegels, aus dem mir mein zerschundenes Gesicht entgegensah, ein hastiges Zusammenraffen meiner Sachen, und schon war ich abreisebereit gewesen.
Tante Grace, die urplötzlich im Apartment aufgetaucht war, hatte nicht eine einzige Frage gestellt, sondern schweigend Gordys Bisswunden in meinem Gesicht verarztet und mir danach geholfen, den Koffer und die Monsterreisetasche zu schließen und in den Flur hinunterzuschleppen.
Kurz darauf war das Taxi vorgefahren, und als wir wenig später den Flughafen erreichten, stellte sich heraus, dass an diesem Abend tatsächlich noch ein Flug nach London ging und ich von dort aus problemlos einen Anschlussflieger nach Hamburg bekommen würde. Zeitlich fügte sich eins so perfekt ins andere, als sollte es so sein – als wäre es vom Schicksal so gewollt.
»Du brauchst dich um nichts zu kümmern«, sagte Tante Grace und drückte mich so fest an sich, dass ich eigentlich auf der Stelle von Neuem hätte losheulen müssen. »Ich rufe deine Mutter an und sorge dafür, dass sie dich persönlich in Hamburg abholt.«
Ich war ihr unendlich dankbar, aber ich hatte das nicht zeigen können. Meine Augen sahen, was um mich herum geschah, und auch mein Hörsinn ließ mich nicht im Stich. Zuverlässig verwertete mein Gehirn sämtliche Informationen und sorgte dafür, dass ich mich auf dem kurzen Weg vom Check-in-Schalter zur Sicherheitszone nicht verlief und auch niemanden über den Haufen rannte, aber innerlich war ich wie tot.
Mein Hals fühlte sich vollkommen ausgetrocknet an, die Haut über meinen Lippen spannte, und mein Magen schmerzte vor Hunger, aber ich war außerstande, mir etwas zu essen oder zu trinken zu kaufen. Wie gerne hätte ich Javen Spinx und Jane gehasst, aber selbst dazu war ich nicht in der Lage.
Mein Kopf wollte nicht mehr denken und auch nichts mehr entscheiden, mein Körper verrichtete zwar seinen Dienst, doch meine Seele wäre am liebsten davongeflogen – irgendwohin, wo es keine Schmerzen, keine Trauer und keinen Verlust mehr gab.
Der gläserne Gang zum Gate, die Gangway, die freundlichen dunklen Augen des Stewards, der vor der Tür zum Cockpit stand und die Fluggäste begrüßte, die Leute, die an mir vorbeiliefen und ihr Gepäck verstauten, all das rückte immer weiter von mir fort. Gesichter verblassten, Stimmen verstummten, nicht einmal mehr das Brummen der Motoren nahm ich noch wahr.
Der Flieger rumpelte los und katapultierte mich in den Himmel. Er durchbrach die Wolkendecke und stieß mich in das grelle Licht der untergehenden Sonne. Meine Haut brannte von den Knöcheln bis zu meinem Scheitel hinauf und mein Herzschlag war ein einziger Schrei.
Hier wollte ich nicht sein.
Ich wollte überhaupt nicht mehr sein.