Die ganze Busfahrt über saß Gordian stocksteif neben mir und starrte mit angespannter Miene vor sich hin. Ganz offensichtlich war ihm diese Art der Fortbewegung alles andere als geheuer.
Außerdem fielen bei jedem Stopp, sobald die Türen sich öffneten und neue Fahrgäste einstiegen, sämtliche Blicke sofort auf ihn. Die Leute musterten ihn verstohlen bis neugierig und immer spiegelten ihre Mienen so etwas wie Erstaunen oder Überraschung wider.
»Auch hier glotzen dich alle an«, raunte ich Gordian ins Ohr, als wir eine gute Stunde später in der High Street von St Peter Port vor einem Schaufenster haltmachten, in dem eine riesige Kugelbahn ausgestellt war. »Wirklich alle.«
Inzwischen hatten wir schon vier Klamottenläden abgeklappert und überall hatten die Verkäuferinnen sich geradezu darum geschlagen, uns zu bedienen, immer wieder neue TShirts, Pullis und Jeans herbeigeschleppt und Gordy ausgiebig bewundert – was ihn zu meiner Beruhigung jedoch völlig unbeeindruckt gelassen hatte. Im Gegenteil, die vielen Komplimente und das ständige Umziehen schienen ihm sogar mächtig zugesetzt zu haben. Selbst jetzt, nachdem wir uns wieder an der frischen Luft befanden, war er noch immer ziemlich blass um die Nase.
»Ich finde es anstrengend«, sagte er leise. »Es fühlt sich an, als wollten sie mir mit ihren Blicken meine Energie stehlen.«
»Keine Sorge«, erwiderte ich. »Sie sonnen sich nur in deiner Ausstrahlung.«
»Genau«, brummte er. »Anstatt sich um sich selbst zu kümmern und ihre eigene …« – er sah mich fragend an – »… Ausstrahlung … zu pflegen.«
»Du hast recht«, gab ich nach. »Wir sollten besser zurückfahren. «
»Genügend Sachen habe ich ja nun auch.« Gordy schlenkerte mit den Einkaufstüten, dann küsste er mich flüchtig auf die Schläfe. »Ich weiß gar nicht, wie ich das jemals gutmachen soll.«
»Red keinen Unsinn«, winkte ich ab. »Es hat mir Spaß gemacht, dir die Sachen zu kaufen …«
»Ja, aber so viele! Eine Jeans, zwei T-Shirts und noch einen Pullover!«
»Zwei«, korrigierte ich ihn. »Du hast den schwarzen mit dem türkisfarbenen Aufdruck vergessen. Der steht dir übrigens besonders gut. Er passt ganz toll zu deinen Augen.«
»Ach, Elodie«, seufzte er und schlang seinen Arm um meinen Nacken. »Du bist wirklich süß. Aber selbst wenn du mir zehn Pullover kaufst … meinen Schatten wirst du mir damit auch nicht zurückgeben können.«
Wieder einmal spürte ich einen feinen Stich im Herzen, der sich noch vertiefte, als ich ihm in die Augen sah. Gordians Iris hatte ihren schönen Glanz verloren und seine Haut wirkte matt, fast ausgetrocknet.
»Du sehnst dich ins Meer zurück, stimmt’s? Dorthin, wo ich nicht leben kann«, sagte ich stockend.
Gordy nickte. »Ja, es ist wahr, ich sehne mich nach dem Meer. Ich vermisse meine Familie und meine Freunde. Aber dich, Elodie, dich vermisse ich bereits, wenn du neben mir stehst. Ich vermisse dich jeden Augenblick so sehr, dass es wehtut. «
»Aber so will ich das nicht«, stammelte ich. »Ich wünsche mir, dass du glücklich bist.«
»Das bin ich doch auch.« Liebevoll strich er mit seiner Nasenspitze über meine. »Ich bin glücklich und traurig«, sagte er leise. »Genau wie du.« Ich schüttelte den Kopf, denn im ersten Moment verstand ich nicht, wie er das meinte. »Wir haben einander gewonnen, Elodie, aber wir haben auch einen Teil unserer Vergangenheit verloren. Du sogar noch etwas mehr als ich. Meine Eltern und Geschwister leben noch. Es geht ihnen gut, und ich kann sie besuchen, wenn mir danach ist. Dein Vater jedoch kommt nie mehr zu dir zurück.«
Seine letzten Worte erwischten mich eiskalt. Ich fasste es nicht, wie er mir das auf eine solche Weise sagen konnte. Augenblicklich brannten meine Wangen vor Zorn und meine Augen vor Schmerz und dann fing ich an zu heulen. Mit aller Kraft versuchte ich, Gordy von mir wegzudrücken, aber er hielt mich einfach umschlungen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, und schließlich küsste er mir die Tränen aus dem Gesicht, ehe sie meine Wangen hinunterrollen konnten. Unter seinen weichen Lippen und der vertrauten Wärme, die von ihm ausging, schmolzen mein Schmerz und meine Wut dahin wie Butter in der Sonne.
»Du bist ein Schwein«, sagte ich schluchzend, während ich mich fest in sein Sweatshirt krallte, weil ich irgendetwas brauchte, das mir Halt gab.
»Alles, was du willst«, murmelte Gordy.
»Ts!« Jetzt musste ich unter Tränen lachen.
»Was ist das überhaupt – ein Schwein?«, fragte er stirnrunzelnd.
»Ein dickes, rosafarbenes Tier, das grunzt und Abfall frisst«, sagte ich und stupste ihn in den Bauch.
»Klingt nett«, meinte er. »Und nützlich.«
»Ist es auch.« Ich wischte mir die restlichen Tränen fort und kramte ein Papiertaschentuch hervor, um mir die Nase zu schnäuzen.
»Okay«, sagte Gordy. »Fahren wir nach Hause.«
»Hm ja.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Gute Idee.«
»Hast du eine Ahnung, wie lange es dauert, bis dieser Bus kommt?«, fragte er.
»Nein«, gab ich schulterzuckend zurück. »Wir müssen ja auch noch mein Fahrrad vom Strand holen. Wenn ich es vergesse, reißt mir Tante Grace bestimmt den Kopf ab.«
»Glaub ich nicht«, erwiderte Gordian mit ernstem Gesicht. »So etwas Grausames wird sie ganz gewiss nicht tun.«
Ich drückte ihm meinen Ellenbogen in die Seite. »Das war doch nur ein Scherz«, kicherte ich. »Aber sie wird auch nicht gerade erfreut sein, wenn ich ohne das Fahrrad heimkomme. Ich habe ihr nämlich erzählt, dass ich es Cyril geliehen habe und …«
Ich brach ab, weil ich spürte, wie Gordy zusammenzuckte.
»Du kriegst ihn einfach nicht aus dem Kopf, was?«
Ich wollte ehrlich sein und deshalb sagte ich: »Nein.«
Dabei stimmte es gar nicht. Jedenfalls nicht so. Denn eigentlich dachte ich kaum noch an Cyril. Insofern war er auch nicht in meinem Kopf. Vielmehr hatte er sich in einer winzigen, verwinkelten Ecke meines Herzens eingenistet, und dort hockte er nun wie ein kleines flirrendes Licht, das schmerzhafte Funken versprühte. Ich wollte ihn hassen, aber ich bekam es nicht hin, und noch weniger wusste ich, wie ich das Gordy erklären sollte.
»Es ist nur … ich möchte einfach bloß wissen, warum er mir das antut«, stammelte ich.
»Das ist doch ganz einfach, Elodie«, zischte Gordy. »Er hat sich in dich verliebt … Was ich ihm nicht einmal verübeln kann. Und weil ich nicht nur sein Konkurrent, sondern auch noch sein Feind bin, tut er alles, um mir zu schaden und uns auseinanderzubringen.«
»Nein«, sagte ich, selbst ganz überrascht von meiner Entschiedenheit. »Das ist mir zu einfach. Ich bin sicher, dass noch etwas anderes dahintersteckt.«
Etwas, das Cyrils destruktives Verhalten rechtfertigte, das mehr war als pures Besitzdenken oder Eifersucht. Ich wünschte mir so sehr, mich nicht in ihm getäuscht zu haben, und noch viel mehr wünschte ich mir, dass Gordy und er irgendwann Frieden schließen könnten. Natürlich war mir klar, dass das naiv war, eine völlig illusorische Vorstellung. Und trotzdem: Ich wollte die Hoffnung auf ein gutes Ende nicht aufgeben. – Noch nicht.
»Und was, bitte, soll das sein?«, fragte Gordy harsch.
Sein Tonfall traf mich hart.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Es ist nur so ein Gefühl.«
Gordian nickte. »Hm, du weißt es also nicht. Aber du bist entschlossen, es herauszufinden. Habe ich recht?« Er sah mich durchdringend an, so als versuche er, hinter meine Stirn zu schauen und meine Gedanken zu lesen.
»Ja, vielleicht.«
»Und warum kannst du diese Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen?«, fragte er gepresst.
»Weil Cyril keine Sache ist«, entgegnete ich zornig. »Er hat mir immerhin mal etwas bedeutet und …«
»Er bedeutet dir immer noch was!«, fuhr Gordy dazwischen.
»Ja, verdammt!«, brach es aus mir hervor. »Das tut er! Aber es ist doch nicht das Gleiche, was ich für dich empfinde! Es ist nicht einmal annähernd das Gleiche!«
Gordy schluckte, dann wandte er sich ab, starrte auf die Pflastersteine und murmelte: »Ich könnte es ertragen, wenn du dich in einen Menschen verliebst … Wenn du dich eines Tages dafür entscheidest, dass es besser ist, nicht mit mir zusammen zu sein.«
»Gordy, bitte hör auf damit«, flehte ich ihn an und nahm zögernd seine Hand, darauf gefasst, dass er sie mir sofort wieder entziehen würde. Aber er tat es nicht. »Ich will nur dich. Niemanden sonst. Und ich will dich für immer. Hast du das nicht verstanden?« Die Stimme brach mir weg, und ich hatte Mühe, den Satz zu Ende zu sprechen. »Ich möchte auch nicht mit dir streiten. Bitte, ich will das alles nicht.«
Gordian drückte zaghaft meine Hand und nickte. »Schon gut«, sagte er leise. »Tut mir leid.«
Seine Lider flackerten, was mich zutiefst beunruhigte. Er war nicht überzeugt, er zweifelte, das war ihm deutlich anzusehen, und ich verfluchte meine Gedankenlosigkeit, Cyril überhaupt erwähnt zu haben.
»Komm, bitte. Ich möchte keine Sekunde länger hierbleiben. Die vielen Menschen, die Stadt, ich glaube, das alles tut uns nicht gut«, sagte ich und Gordian folgte mir bereitwillig.
Vielleicht ist es auch einfach die verkehrte Seite der Insel, schoss es mir durch den Kopf. Die Nähe zu Sark und damit zu Cyril – und zu den beiden ermordeten Mädchen.
Unwillkürlich glitt mein Blick zum Hafenbecken. Es war Niedrigwasser, nur die Spitzen der Segelmasten ragten hinter der Kaimauer auf. Das Meer wogte dunkelgrau und die Festung reckte ihre Zinnen trotzig gegen einen unsichtbaren Feind in den ebenso grauen Himmel. Sark war nur als Schemen zu erkennen, der in weiter Ferne den Horizont durchbrach, unfassbar und unheimlich, aber so deutlich, als besäße diese kleine Insel die Macht, sich auf Guernseys Küste – auf mich! – zuzubewegen.
Ein Feuer raste meine Schenkel hinauf, so heiß und glühend wie kaum jemals zuvor, und einen Atemzug lang hatte ich das Gefühl, ohnmächtig zu werden.
Und dann bemerkte ich ihn!
Zügig schritt er zwischen den parkenden Autos der Hafenarbeiter hindurch auf Castle Cornet zu. Seine Bewegungen waren so geschmeidig gleitend, wie ich sie in Erinnerung hatte, sehr viel eleganter noch als die von Cyril, Gordy oder einem der anderen Nixe, doch erst der flüchtige Blick auf sein scharf geschnittenes Profil und das dichte dunkelblonde Haar räumten jeden Zweifel aus. Der Mann dort war unverkennbar Javen Spinx!
Es war wie ein Reflex. Ohne nachzudenken, um mich zu schauen oder mich um Gordian zu kümmern, rannte ich los.
Ich vernahm das aufgeregte Hupen, die kreischenden Bremsgeräusche und das Quietschen blockierter, über den Asphalt rutschender Autoreifen, doch ich war schlicht nicht in der Lage, meinen Lauf zu stoppen.
Auf der schmalen, nur durch weiße Linien abgegrenzten Straßeninsel kam ich ins Stolpern. Ich hörte Gordy hinter mir schreien, und ich registrierte, dass Javen Spinx sich umgedreht hatte und nun wie hypnotisiert zu mir herüberstarrte.
Von rechts raste der dunkle Schatten eines Lkws auf mich zu, auf der Spur daneben schoss ein roter Renault vorbei, dem weitere Wagen folgten. Ich riss die Arme hoch und versuchte, einen Schritt rückwärts zu machen, aber ich hatte einfach noch zu viel Schwung und taumelte weiter nach vorn auf die Fahrbahn. Ich bildete mir bereits ein, den Aufprall meines Körpers auf Metall zu spüren, da veränderte sich innerhalb eines Sekundenbruchteils die Umgebung. Stimmen und Geräusche verschmolzen zu einem einzigen lang gezogenen, dumpfen Ton, und die Autos kamen plötzlich nur noch so langsam voran, als hätte man sie in den Zeitlupenmodus versetzt. Bloß ich bewegte mich noch in meiner gewohnten Geschwindigkeit.
Im Nu war ich vor dem Lkw weg- und zwischen einem Ford und einem weißen Transporter hindurchgehuscht und hatte die andere Straßenseite erreicht.
Javen Spinx wandte sich ab und hinter mir lief der Verkehr normal weiter.
»Mein liebes Kind«, sagte eine alte Dame neben mir. Ihre Stimme bebte und der Schreck hatte sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht weichen lassen. Zögernd streckte sie ihre schmale faltige Hand aus und betastete mich, als müsste sie sich davon überzeugen, dass ich noch lebte. »Da haben Sie aber eine ganze Armee von Schutzengeln gehabt!«
»Ja«, sagte ich und warf einen Blick in Richtung Festung.
Javen Spinx war weitergegangen. Ich murmelte der alten Dame eine Entschuldigung zu und raste los.
»Hey! Bitte! Mister Spinx!«, brüllte ich. »Warten Sie doch!«
Alle drehten sich zu mir um, nur Javen Spinx beachtete mich nicht. Ich fluchte, schließlich stoppte ich und beugte mich keuchend über das weiße Geländer des Hafenbeckens. Gut zwölf Meter unter mir lagen die Jachten und Boote wie beinlose Käfer im feuchten Schlamm. »Verdammt noch mal, was soll denn das!«, schimpfte ich, da stand er auf einmal neben mir.
»Kennen wir uns?«
Ich hob den Kopf und sah ihn an. Seine Augen schimmerten in einem Farbton, der mir völlig fremd und irgendwo zwischen Blaugrün und Flieder anzusiedeln war. Der Wind spielte mit einer Locke, die ihm elegant in die Stirn fiel, und seine Haut war genauso glatt und makellos wie damals, als ich ihn am Lübecker Flughafen getroffen hatte.
»Natürlich«, sagte ich. »Wir haben doch nebeneinandergesessen, vor ungefähr fünf Wochen im Flieger von Gatwick nach Guernsey.«
Mister Spinx hob die Augenbrauen. »Ach, tatsächlich?«
»Ja, vielleicht erinnern Sie sich: Ich bin dieses verrückte Mädchen, das Angst vor Wasser hat, und Sie haben sich doch noch darüber gewundert, dass ich trotzdem sechs Monate auf dieser Insel hier verbringen will.«
»Hm«, machte er und kratzte sich mit seiner freien Hand an der Schläfe. In der anderen trug er einen flachen dunkelbraunen Lederkoffer. »Wissen Sie, ich fliege jeden Tag, da passiert es schon mal, dass ich ein Gesicht vergesse.«
Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Ein Gesicht vergaß man vielleicht, wenn man ständig mit vielen verschiedenen Menschen zu tun hatte, aber eine gemeinsame Fahrt mit dem Taxi und anschließendem Flug inklusive einer Unterhaltung, die alles in allem über eine Stunde gedauert hatte – nein, das konnte ich einfach nicht glauben. Ich war sicher, dass er mich erkannt hatte. Und nicht nur das! Keine Ahnung, wie, aber er hatte dafür gesorgt, dass ich nicht von einem der Autos erfasst wurde, als ich eben über die Straße rannte. Javen Spinx hatte mir das Leben gerettet.
»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte er jetzt. »Sie sind ungewöhnlich hübsch und allein deshalb sollte ich mich eigentlich an Sie erinnern …«
»Sie kannten meine Mutter«, fiel ich ihm ungehalten ins Wort. »Sie waren mit ihr befreundet. Allerdings ist das schon ein paar Jahre her.«
Wieder bogen sich seine Brauen nach oben. »So? Wie heißt denn Ihre Mutter?«
»Rafaela. Rafaela Saller.«
Mister Spinx schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber diesen Namen habe ich nie gehört.« Er nickte mir kurz zu. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden …«
»Nein«, platzte ich heraus und eine leichte Irritation machte sich auf seinem Gesicht breit.
»Wie bitte?«, fragte er und jetzt umspielte ein Hauch von Belustigung seine Mundwinkel.
»Warum tun Sie das?«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Was meinen Sie?«
»Warum leugnen Sie, mich zu kennen?«, fuhr ich ihn an. »Mich und meine Mutter? Immerhin hatten Sie beide damals beinahe so etwas wie ein intimes Verhältnis!« In dem Moment, als es heraus war, hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen.
»Oh«, sagte Javen Spinx und nun lächelte er über das ganze Gesicht. »Umso beschämender, dass ich mich nicht an sie erinnere. Es ist mir wirklich schrecklich peinlich. Aber zu meiner Entschuldigung möchte ich anmerken, dass es hin und wieder vorkommen mag, dass sich die eine oder andere junge Dame in etwas hineinträumt, das nicht ganz den Tatsachen entspricht.«
Völlig konsterniert starrte ich ihn an. Für einen Augenblick glaubte ich tatsächlich, nicht richtig gehört zu haben. Der Javen Spinx, der hier gerade vor mir stand, war ein völlig anderer als jener, den ich auf meiner Hinreise kennengelernt hatte. Okay, er war genauso gut aussehend, smart und geheimnisvoll und auch ebenso freundlich – mit dem Unterschied jedoch, dass eben diese Freundlichkeit diesmal mit lauter Anmaßungen gespickt war.
Ehe ich etwas Passendes erwidern konnte, hatte er bereits »Verzeihen Sie, aber ich habe es ein wenig eilig« gesagt, mich mit einem weiteren, leicht frostigen Lächeln bedacht und sich abgewandt.
»Und warum haben Sie mir dann das Leben gerettet?«, rief ich ihm hinterher.
Ruckartig fuhr Javen Spinx herum.
»Ich möchte Sie höflichst bitten, junge Dame, mich nicht weiter zu belästigen.« Sein Tonfall war noch genauso einnehmend wie zuvor, doch seine Augen funkelten drohend, und ich kapierte allmählich, dass es keinen Sinn hatte, weiter in ihn zu dringen. Trotzdem wollte ich mich nicht so einfach abspeisen lassen.
»Meinetwegen können Sie behaupten, was Sie wollen«, sagte ich mit fester Stimme. »Ich weiß, wer Sie sind.« Und ich weiß auch, was Sie sind, fügte ich in Gedanken hinzu.
»Da sind Sie nicht die Einzige, junge Dame«, entgegnete er kühl. »Eine gewisse Prominenz bringt bedauerlicherweise immer auch gewisse Unannehmlichkeiten mit sich.«
Mit dieser Unverschämtheit verschlug er mir endgültig die Sprache. Wut kochte in mir hoch und legte sich glühend auf meine Wangen. Nur zu gerne wäre ich auf ihn zugesprungen und hätte ihn mit meinen Fäusten traktiert. Das letzte Mal, als ich in eine solche Situation geraten war, war mein Gegenüber Cyril gewesen, und schon da hatte ich mich eher lächerlich gemacht, als dass ich mit meinem Ausraster eine nennenswerte Wirkung erzielt hätte.
Nein, ich hatte wirklich nicht vor, mich in aller Öffentlichkeit zu blamieren, und so biss ich die Zähne zusammen und wandte mich ab.
Ich war mir absolut sicher, dass Javen Spinx sehr genau wusste, wer ich war. Er wollte mich nicht kennen. Und er wollte auch nicht erkannt werden. Dafür musste es einen Grund geben – allerdings einen, der nicht im Geringsten damit zu tun hatte, dass er ein prominenter Meeresbiologe und Umweltschützer war!
Wie benommen tappte ich auf die Kante des Bürgersteigs zu, richtete meinen Blick über die vorbeifahrenden Autos hinweg auf die gegenüberliegende Straßenseite und erstarrte.
Gordy war verschwunden.