Einen Moment lang war es so still, dass man das Meer in der Ferne rauschen hören konnte. Cyril, Jane und der Junge starrten Gordy und mich an, als wären wir das achte Weltwunder. Schließlich war es Jane, die als Erste ihre Sprache wiederfand.
»Du hast ein sehr außergewöhnliches Talent. Vielleicht könntest du Cyril ebenfalls helfen …?« Sie formulierte diese Frage sehr vorsichtig.
Gordy atmete tief durch. Das Türkisgrün seiner Iris war dunkler als sonst und er wirkte ein wenig abwesend. Fast unmerklich schüttelte er den Kopf.
»Bitte«, sagte ich leise.
»Nein. Er kann in den Teich zurückgehen und …«
»Gordy«, raunte ich. »Er leidet Höllenqualen. So kann er uns nicht helfen.«
»Vielen Dank für deinen Einsatz«, presste Cyril zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Aber ich lege wirklich keinen Wert darauf, von einem Delfin geküsst zu werden.«
»Du bist ein Dummkopf!«, zischte ich.
In Cyrils schwarzen Augen blitzte es. Zornig sah er mich an.
Doch das beeindruckte mich nicht. Hier und jetzt ging es um mehr als um seine Eitelkeit oder seinen verletzten Stolz.
»Es ist alles andere als tapfer, freiwillig zu leiden«, sagte ich zu ihm. »Außerdem hast du etwas gutzumachen, also stell dich nicht so an.«
Cyril schüttelte den Kopf. »Selbst wenn es so wäre …«
»Verdammt noch mal!«, blaffte ich. »Wie kann man nur so störrisch sein!«
»Schluss jetzt!« Ein wenig unsanft schob Gordian mich zur Seite und trat vor Cyril hin. »Ich könnte versuchen, die Schmerzen zu lindern. Dafür müsste ich dich aber berühren.«
»Ganz sicher nicht.« Cyril wich einen Schritt zurück, dann drehte er sich um.
»Du gehst jetzt nicht wieder in den Teich!« Bevor ich überhaupt eine Reaktion zeigen konnte, war Jane ihm in den Weg gesprungen. »Er meint es ehrlich und er kann dir helfen, also nimm sein Angebot gefälligst an.«
»Ehrlich?« Cyril grinste abfällig. »Dass ich nicht lache! Du weißt ebenso gut wie ich, wie hinterhältig Delfine sind.«
»Sein können«, ging ich dazwischen. »Gordian hätte dich auch bewusstlos auf dem Meeresgrund liegen und verfaulen lassen können.«
Cyrils Augen wurden schmal. »Damit hätte er mir zumindest diese Qualen erspart.«
Jane stöhnte auf. »Das kann unmöglich dein Ernst sein.«
»Bitte, Cyril!« Die glockenhelle Stimme des Hainixjungen ließ mich herumfahren und Gordy wandte sich ebenfalls zu ihm um. Flehend hielt der Junge seinen Blick auf Cyril gerichtet. »Ich glaube auch, dass der Plonx okay ist.«
Cyril rührte sich nicht. Er schien fest entschlossen, sich nicht helfen zu lassen. Offensichtlich konnten ihn nicht einmal die Worte eines Kindes erweichen.
»Verdammt noch mal, Cyril!«, knurrte ich. »Es geht hier nicht nur um dich!«
Er wirbelte herum und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch ich hatte nicht vor, ihn zu Wort kommen zu lassen.
»Bist du denn wirklich so verblendet, dass du dir nicht denken kannst, was Kyans, Liams und Zaks Angriff für Folgen haben könnte? Oder ist es dir etwa gleichgültig, wenn jetzt ein Krieg zwischen Hainixen und Delfinnixen ausbricht?«
»Du bist auch eine Hainixe, Elodie«, entgegnete er. »Du gehörst zu uns.« Dass er sich derart besitzergreifend über mich äußerte, machte mich nur noch zorniger.
»Ich gehöre zu Gordy«, sagte ich. »Zu sonst niemandem.«
Cyril schwieg. Und mit jeder Sekunde, die verging, stieg die Spannung zwischen uns, bis ich sie in jeder Zelle meines Körpers zu spüren glaubte.
Plötzlich trat Jane zur Seite. »Wenn du es nicht anders willst, dann geh, vergrab dich im Sand und komm erst wieder zurück, wenn du gesund bist.«
Sie hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, da war Cyril bereits in den Teich abgetaucht.
»Ich werde es tun.«
Janes Stimme holte mich ins Hier und Jetzt zurück. Mein Blut pulsierte noch unter der Hitze meiner Wut, ich war fassungslos über Cyrils geradezu zerstörerischen Trotz.
»Ich werde an Cyrils Stelle ins Meer tauchen und mit den Haien reden«, sagte sie. »Außerdem werde ich versuchen, Javen Spinx zu finden. Am Ende ist er vielleicht der Einzige, der das Schlimmste verhindern kann.«
Ich blickte von ihr zu Gordy und spürte eine dumpfe Angst in mir, die über die Befürchtung, Haie und Delfine könnten sich einen Kampf liefern, weit hinausging. Für einen kurzen Moment dachte ich an Cecily Windom und ihre irren Prophezeiungen, und mit einem Mal kam mir das, was sie über den Untergang der Kanalinseln gesagt hatte, gar nicht mehr abwegig vor.
»Wer bist du?«, fragte ich. »Ich meine, wer bist du wirklich?«
»Eine Hainixe«, erwiderte Jane. »Na ja …« Sie lachte kurz auf. »Mittlerweile bin ich wohl eher eine Landratte. Ich war schon ewig nicht mehr im Meer. Ab und zu leiste ich Bo im Teich Gesellschaft, aber das ist es auch schon.«
»Ist dein … ähm …Fuß der Grund dafür?«, tastete ich mich vor.
Jane nickte kurz. »Mein Bein … ja. Aber das ist ganz allein meine Sache.« Sie sah Gordy an. »Und es hat nicht das Geringste mit den Delfinen zu tun.«
»Aber mit deinem Jungen?«
»Bo ist nicht mein Junge«, entgegnete Jane. »Er lebt lediglich bei mir. Das ist alles, was ich dir im Moment dazu sagen kann«, fügte sie hinzu, ehe ich nachhaken konnte.
Dann gehört er wohl zu Cyril, dachte ich. Bo ist nicht nur Janes, sondern auch sein Geheimnis. Sobald er den Teich hier verlassen konnte, würde er mir dazu Rede und Antwort stehen müssen. Von Jane erhoffte ich mir jedoch, noch ein paar andere Dinge zu erfahren.
»Was ist mit meiner Großtante?«, fragte ich. »Weiß sie tatsächlich nicht, wer du bist?«
»Nein.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Wir Haie leben schon so lange auf diesen Inseln. Wir wissen, wie wir uns tarnen können.«
»Das stimmt nicht ganz«, widersprach ich sofort. »Cyril und Javen Spinx …« Ich brach ab, denn erst jetzt fiel mir eine Besonderheit auf, die ich eigentlich schon längst hätte bemerken müssen. »Wieso hat er einen Nachnamen und Cyril beispielsweise nicht?«
Wieder lächelte Jane. »Du hast auch einen, Elodie Saller.
Dabei brauchst du ihn im Grunde genauso wenig wie die meisten von uns.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wie meinst du das?«
»Wir alle verfügen über das gleiche Talent. Es gehört zu unserer Tarnung.« Sie machte eine flüchtige Geste vor ihrer Stirn. »Bilder löschen.«
»Aber …?«
»Javen steht mit vielen Menschen in Kontakt«, kam Jane meiner Frage zuvor. »Jeden Tag trifft er neue Leute. Wissenschaftler, Politiker, Journalisten … Für das, was er sich vorgenommen hat, ist es notwendig, dass sie sich an ihn und alles, was er tut und sagt, erinnern. Mit der Fähigkeit, Dinge vergessen zu lassen, kommt er da natürlich nicht weit. Anders als die meisten von uns verfügt Javen zum Glück aber auch noch über andere Talente, die er einsetzen kann, sollte es einmal brenzlig werden.«
Unwillkürlich kam mir die Szene am Hafen von St Peter Port in den Sinn. War es womöglich in irgendeiner Weise gefährlich für ihn gewesen, mich dort zu treffen? Es schien mir absurd, und trotzdem: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich von mir finden lassen wird«, murmelte ich.
Jane sah mich verständnislos an. »Wie kommst du denn darauf? «
»Er hat mir gegenüber schon einmal so getan, als würde er mich nicht kennen.«
»Das macht er nur, um uns nicht zu schaden«, meldete sich Bo überraschend zu Wort.
Seine Stimme war überaus bezaubernd. Hell und klar, aber ohne sich kindlich anzuhören. Überhaupt war seine ganze Erscheinung einfach hinreißend. Bo hatte eine zarte, feingliedrige Statur, seine kupferroten Haare standen in rosettenförmigen Wirbeln, die wie Blumen aussahen, von seinem Kopf ab, und seine leicht schräg gestellten blauen Augen leuchteten wie Saphire. Ich hatte noch nie einen hübscheren Jungen gesehen. Wäre ich ein kleines Mädchen gewesen, hätte ich ihn garantiert für einen Elfen gehalten.
»Du kennst ihn?«, fragte ich verwundert.
»Natürlich.« Bo grinste schief. »Jeder von uns kennt ihn.«
»Und du denkst, dass es mir geschadet hätte, wenn Javen Spinx und ich uns in St Peter Port miteinander unterhalten hätten?«
Bo nickte, und Jane, die wieder hinter ihn getreten war und ihren Arm um ihn geschlungen hatte, sagte: »Javen tut nichts ohne Grund. Er arbeitet ungeheuer effizient.«
»Vielleicht liegt es daran, dass er so viele besondere Talente besitzt«, erwiderte ich schulterzuckend.
»Schon möglich.« Jane warf einen kurzen Blick auf Gordy, der vollkommen reglos neben mir stand und ziemlich nachdenklich wirkte. »Unsere besonderen Fähigkeiten bilden sich individuell nach Bedarf aus«, fuhr sie schließlich wieder an mich gewandt fort. »Sie richten sich nach dem Ziel, das wir anstreben. Und da Javen besonders verantwortungsvolle Aufgaben zufallen, wird er auch über besonders viele Talente verfügen. «
»Heißt das etwa, sobald man vor einem Problem steht, fällt die entsprechende Gabe einfach vom Himmel?« Ich konnte mir nicht helfen, aber das klang einfach zu fantastisch.
»So ist es ganz und gar nicht«, meinte Jane auch gleich. »Im Gegenteil: Das Meer gibt uns diese Fähigkeiten nur dann, wenn es allen dient. Unsere persönlichen Probleme oder gar Wünsche spielen dabei überhaupt keine Rolle. Außerdem sind diese Talente nur Leihgaben, mit denen man äußerst sorgsam umgehen sollte«, schloss sie mit ernstem Unterton.
Abermals schaute ich auf ihren Fuß und ertappte mich bei der Frage, ob dieses Handicap wohl eine Art Strafe gewesen war, weil Jane eines ihrer Talente für eigennützige Zwecke eingesetzt hatte. »Das Hinken ist sehr nützlich«, sagte sie augenzwinkernd, als sie meinen Blick bemerkte. »Keiner der Inselbewohner ist jemals auf die Idee gekommen, dass ich kein Mensch sein könnte.«
»Cyril hat angedeutet, dass mehrere von euch hier …«, setzte ich an, doch Jane ließ mich nicht ausreden.
»Von uns«, betonte sie. »Du gehörst auch dazu.«
Ja. Ich seufzte leise. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis ich es verinnerlicht hatte, dass ich kein normales Menschenmädchen, sondern eine Hainixe war.
»Also, er meinte, dass ich bereits einige kenne …«, fuhr ich zögernd fort, in der Hoffnung, dass Jane mir vielleicht verraten würde, wer sie waren.
»Einige wohl nicht«, entgegnete sie. »Den einen oder anderen aber schon.«
»Und woran liegt es, dass ich sie bisher nicht erkannt habe?«, fragte ich weiter. »Ich meine, sowohl bei Javen Spinx als auch bei Cyril ist mir ja sofort aufgefallen, dass sie irgendwie anders sind.«
Jane zuckte die Achseln. »Dann war das wohl beabsichtigt.«
Ich runzelte die Stirn. »Tut mir leid, aber das verstehe ich nicht.«
Jetzt musste sie lachen. »Was gibt es daran denn nicht zu verstehen?«
Ich sah von ihr zu Gordy und wieder zu ihr. Tatsächlich dauerte es ein paar Sekunden, bis mir endlich ein Licht aufging.
»Oh, sie haben mich erkannt!«
Verschmitzt grinsend reckte Bo seinen Daumen in die Höhe.
Javen Spinx, Cyril und offensichtlich auch Jane und dieser kleine Junge wussten mehr über mich als ich selbst. – Ein seltsames Gefühl! Allerdings erklärte es vielleicht, warum ich mich von allen dreien sofort angezogen gefühlt hatte.
»Du solltest dir übrigens auch deinen alten Gang wieder angewöhnen«, meinte Jane. »Nur so als Tipp … wegen der Tarnung. «
Wieder verstand ich nicht gleich.
»Du bewegst dich geschmeidiger als vorher«, half Jane mir auf die Sprünge. »Und schneller. Achte mal drauf.«
Schon verrückt. Ich hatte diese Veränderung an mir gar nicht wahrgenommen, aber jetzt, da sie es erwähnte, spürte ich es sofort. Die Luft um mich herum fühlte sich anders an als früher, viel feiner und trotzdem präsenter. Ähnlich wie das Wasser im Meer konnte ich sie zur Fortbewegung nutzen. Keine Ahnung, ob ich es überhaupt hinbekam, mich wieder wie ein normaler Mensch zu bewegen.
»Schön, dass ihr nicht immer nur im Haus hockt«, rief Tante Grace uns von der Veranda aus zu, als Gordy und ich uns eine gute Viertelstunde später dem Cottage näherten.
Sie hatte ein paar ihrer Sofakissen auf der Bank verteilt und es sich dort mit einer Tasse Tee und der Tageszeitung bequem gemacht.
»Und?«, fragte ich mit leichter Ironie. »Gibt es etwas Neues über die Mörderbestie?«
»Tja, stellt euch vor …«, sagte meine Großtante und legte die Zeitung zur Seite, »nun soll es plötzlich gar keine Bestie gegeben haben, sondern ein ganz normaler Delfin gewesen sein, den sie aus dem Meer gefischt haben.«
»Du weißt genauso gut wie Gordy und ich, dass das nicht stimmen kann«, entgegnete ich. »Ich habe auch schon mit Ruby darüber gesprochen. Sie versteht es ebenso wenig.«
Und was das Merkwürdigste daran war: Offenbar hatte ganz Guernsey diese Geschichte einfach so geschluckt. Nicht einmal die Presse schien Nachforschungen angestellt zu haben.
Um Tante Gracies Mundwinkel zuckte es.
»Ihr wisst, wer es getan hat«, sagte sie, während ihr Blick forschend zwischen Gordy und mir hin und her glitt, »und ihr wisst auch, wie Lauren und Bethany gestorben sind. Hab ich recht?«
Ich schluckte schwer.
»Ja, hast du«, gab ich zögernd zu. Zwar signalisierte Gordy mir mit einer unwilligen Geste, dass er ein solches Geständnis für keine gute Idee hielt, aber ich fühlte mich einfach besser damit, wenn ich meine Großtante nun, nachdem sie ihn und mich in unser großes Familiengeheimnis eingeweiht hatte, nicht weiterhin anlog. »Wir vermuten, dass ein Delfinnix die Mädchen ertränkt hat.«
»Einer, den Sie kennen?«, wandte sie sich an Gordian.
Er nickte und Tante Gracie sog scharf Luft ein.
»Aber es ist nicht der, den die Fischer gefangen genommen haben?«, fragte sie nach einer kurzen spannungsvollen Pause weiter.
»Nicht einfach bloß gefangen genommen«, sagte ich rau.
»Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie Elliot erschlagen haben.«
Tante Grace wurde aschfahl im Gesicht. Ihr Mund ging auf und wieder zu, mit dieser Eröffnung hatte ich sie ganz offensichtlich so sehr überrascht, dass sie nicht wusste, was sie dazu sagen sollte.
»Gordy hat ihn gut gekannt«, fuhr ich also fort und deutete auf die Zeitung. »Und jetzt tun alle so, als ob es ihn nie gegeben hätte.«
»Aber wenn … wenn er die Mädchen auf dem Gewissen hat …« Wieder richtete Tante Grace ihre Augen auf Gordy.
»Halten Sie es für möglich, dass die Delfine sich dafür rächen werden?«
»Das wissen wir nicht genau«, antwortete ich an seiner Stelle.
»Seit Gordian an Land gekommen ist, hat er keinen Kontakt mehr zu ihnen. Wir glauben es aber eher nicht«, beeilte ich mich hinzuzusetzen, woraufhin Gordy mich mit einem finsteren Blick bedachte.
Tante Grace schob die Unterlippe vor und musterte mich skeptisch. »Wie könnt ihr euch da so sicher sein?«
»Weil es wahrscheinlich längst passiert wäre«, gab ich hastig zurück.
Meine Großtante stand von der Bank auf, rieb ihre Handflächen gegeneinander und machte ein paar unruhige Schritte hin und her. Schließlich blieb sie stehen und sah zum Meer hinunter, das tief und dunkel in der Perelle Bay lag.
»Ich weiß nicht, ob es richtig ist …«, murmelte sie. »Einfach nichts zu tun …« Sie wandte sich wieder uns zu. »Es wäre doch durchaus möglich, dass die Nixe etwas Größeres planen.«
Ihr Blick klebte jetzt auf Gordian, der ihn schweigend erwiderte. Ich bemerkte den Anflug von Panik in Tante Gracies Augen, und im selben Moment wurde mir klar, dass Gordy es auch nicht schaffen würde, ihr die Unwahrheit zu sagen.
Die Sache drohte aus dem Ruder zu laufen, und ich verfluchte mich dafür, dass ich überhaupt mit diesem Thema angefangen hatte. Im Grunde gab es jetzt nur noch eine einzige Möglichkeit.
Du wirst dieses Gespräch vergessen.
Meine Großtante sah mich irritiert an.
»Was wollte ich noch gleich …? Ach ja … Ihr solltet euch besser vorsehen. Ich meine, falls ihr vorhabt, ins Meer hinunterzutauchen. «
Gordians Miene entspannte sich.
»Keine Sorge, wir passen schon auf uns auf«, versicherte ich ihr und folgte Gordy, der bereits ein paar Schritte über die Gartenterrassen in Richtung Klippen gegangen war.
»Ich hatte schon befürchtet, du machst es nicht«, warf er mir über die Schulter hinweg zu.
»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Ich hatte gedacht, es wäre gut, wenn sie in alles eingeweiht ist.«
»Es ist am besten, wenn so wenige Menschen wie möglich darüber Bescheid wissen«, entgegnete er heftig.
»Aber sie müssen sich doch verteidigen können«, hielt ich dagegen. »Ich meine, falls …«
Gordy fuhr zu mir herum. »Das können sie gar nicht …
Verstehst du, Elodie, wenn es zum Äußersten käme … Wenn es den Delfinnixen am Ende tatsächlich gelänge, an Land zu kommen …«
Nein. Das mochte ich mir lieber nicht vorstellen.
»Hoffen wir, dass es nicht passiert. Und hoffen wir auch, dass Jane Javen Spinx findet und es ihm gelingt, die Haie zu beschwichtigen.«
Gordy nickte, dann drehte er sich um und ging weiter, bis er unsere Stelle erreichte.
Ich lief ihm hinterher und fasste ihn am Arm. »Sag mal, was ist da eigentlich eben zwischen dir und Jane passiert?«
»Das kann ich dir auch nicht genau erklären«, erwiderte er ausweichend.
»Du magst sie«, sagte ich. »Du mochtest sie sofort, obwohl sie eine Hainixe ist.«
»Du bist auch eine Hainixe.« Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. »Und ich mag dich ebenfalls.«
»Ja, aber doch nicht so!«
»Stimmt.« Er schlang seinen Arm um meinen Nacken und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. »Zugegebenermaßen mag ich dich sogar noch ein kleines bisschen lieber als Jane.«
»Blödmann«, sagte ich und stupste ihm meinen Ellenbogen in die Seite. »Außerdem weichst du ständig aus.«
»Du übertreibst«, gab er gespielt grimmig zurück. »Bisher habe ich dir immer alles sofort erzählt.«
»Na ja, fast«, entgegnete ich und küsste sein Kinn. »Und was Jane betrifft …«, sagte ich zögernd. »Ihr habt euch angeschaut, als würdet ihr euch schon ewig kennen.«
»Dem ist aber nicht so«, versicherte Gordy mir. »Okay, ich gebe zu, dass sie mir irgendwie vertraut ist«, lenkte er ein, »doch ich schwöre dir: Ich habe sie nie zuvor gesehen.«
»Aber sie dich ja vielleicht …«
»Das glaube ich nicht«, sagte Gordy. »Viel eher hatte ich das Gefühl, dass sie in mich hineingeschaut hat. Verstehst du, auf eine andere, sehr viel tiefer gehende Weise, als ich es kann.« Er kniff die Augen zusammen und blickte aufs Wasser, das in unruhigen Wellen gegen die Felsen klatschte. »Sie scheint etwas in mir gesehen zu haben, das ich nicht …« Er brach unvermittelt ab, schüttelte den Kopf und sagte dann: »Ihr Haie seid den Delfinen überlegen. Ist dir das eigentlich klar?«
Natürlich hätte ich sehr viel lieber noch weiter mit ihm über Jane gesprochen, aber ich spürte, dass Gordy das, was heute zwischen ihnen beiden vorgefallen war, erst einmal selber begreifen musste, und so nahm ich den Themenwechsel widerspruchslos hin und fragte: »Inwiefern?«
»Delfine werden mit ihren Talenten geboren. Sie können keine weiteren ausbilden.«
»Dafür kommen sie ihnen aber auch nicht abhanden, oder?«, hielt ich dagegen.
»Nein, sie behalten sie.« Gordy schob die Hände in seine Hosentaschen und ließ seinen Blick übers Meer gleiten.
Die Sonne hatte ihren Zenit mittlerweile überschritten und wanderte weiter nach Westen. Von dort zogen nun Wolken auf, außerdem wehte ein kühler Wind, der einen Wetterumschwung ankündigte.
Ich lehnte mich an Gordians Schulter und konzentrierte meine Gedanken auf einen anderen, ebenso wichtigen Aspekt. Jane hatte Cyrils Andeutung bestätigt, dass hier auf den Inseln noch weitere Hainixe lebten und ich den einen oder anderen bereits getroffen hatte. Und da ich außer den beiden, Javen Spinx, Bo, Tante Grace und den Leuten aus der Clique bisher niemanden näher kennengelernt hatte, hielt ich es für folgerichtig, genau dort anzusetzen, nämlich bei Rubys Freunden.
»Ich komme mit«, sagte Gordy, doch ich winkte sofort ab.
»Das ist keine gute Idee.«
»Ich bin sicher, du wirst hervorragende Arbeit leisten, und sie werden sich genauso wenig an mich erinnern wie alle anderen Menschen, die uns bisher begegnet sind.«
»Nicht, wenn ein Hai unter ihnen ist«, erwiderte ich. »Oder glaubst du, dass diese Talente auch innerhalb unserer Art wirksam sind?«
»Bei den Delfinen schon«, antwortete Gordian zögernd.
»Mit euch Haien kenne ich mich nicht so aus.« Seine Iris nahm einen kühlen bläulich schillernden Türkiston an und für einen kurzen Moment spürte ich ein Frösteln im Nacken. »Noch nicht«, setzte er ein wenig sanfter hinzu. »Ausprobieren würde ich es an deiner Stelle allerdings nicht. Hoffen wir einfach, dass genau wie Javen Spinx und Jane auch dieser Hai wissen wird, dass ich Cyril helfen wollte.«
»Und wenn nicht?« Es war nur ein Gefühl, aber der Gedanke, ihn Isaac, Jerome, Mike oder gar Tyler vorzustellen, behagte mir überhaupt nicht. »Hainixe sind Einzelgänger. Vielleicht hat sich das noch gar nicht unter ihnen herumgesprochen. «
»Schon möglich.« Gordy strich mir flüchtig übers Haar.
»Trotzdem. Ich lasse dich nicht allein, das weißt du doch. Und das ist mein letztes Wort.«
Ehe ich protestieren konnte, hatte er seine Lippen bereits auf meine gelegt, und diesmal küsste er mich so lange, so warm und so unendlich zärtlich, dass ich das Gefühl hatte, mich in ihm aufzulösen.
»Ich gehöre zu dir«, flüsterte er. »Spürst du das nicht? Elodie, spürst du wirklich nicht, was ich für dich empfinde?«
Doch, das tat ich. Ich spürte Gordians Liebe von den Haarwurzeln bis zu den Zehenspitzen, ich spürte sie in jeder Zelle meines Körpers und in der tiefsten Tiefe meiner Seele. Aber genau das machte mir Angst. Denn gerade diese Nähe ließ den Unterschied zwischen uns nur umso deutlicher hervortreten:
Gordy war ein Delfin und ich war ein Hai.
Allein bei der Vorstellung, welche Konsequenzen das möglicherweise irgendwann haben könnte, zog sich mir das Herz zusammen.