image

Du hast dich vollkommen umsonst von ihm getrennt, war alles, was ich denken konnte.

Ich vergaß Mam, Sina, Javen Spinx und Jane, ich dachte nicht einmal darüber nach, dass meine Haihaut daheim in meinem Kleiderschrank ganz unten in der Sockenkiste lag, und ich achtete auf nichts und niemanden, sondern entledigte mich wie in Trance meiner Kleidung und stürzte mich kopfüber in die Trave.

Süßwasser strömte in meine Lungen und meine Beine schlossen sich wie selbstverständlich zu einer Flosse zusammen. Die Verwandlung geschah automatisch, meine alte Haihaut brauchte ich offenbar gar nicht dazu. Ich legte meine Arme an den Körper und bewegte mich mit schnellen, kräftigen Flossenschlägen dorthin, wo das Rot der untergehenden Sonne durch die Wasseroberfläche sickerte.

Das recht flache Flussbett lag gestochen scharf unter mir, und ich hatte den Eindruck, mehrere hundert Meter weit sehen zu können, doch von Gordy fehlte jede Spur. Da ich aber wusste, dass die Trave sich erst nach dem Klughafen auf die Ostsee zuschlängelt, konnte es nur die richtige Richtung sein.

Gordy!, rief ich, während ich durch das Schleusentor und dann entlang der Fahrrinne durchs Wasser schoss. Warte!

Je näher ich der Mündung kam, umso dunkler wurde es um mich herum, doch mein Sehvermögen passte sich umgehend an die veränderten Lichtverhältnisse an.

Und plötzlich tauchte Gordian vor mir auf. Noch mindestens einen halben Kilometer von mir entfernt, verharrte er in der Fahrrinne und blickte mir entgegen.

Schwimm wieder heim!

Vergiss es!, erwiderte ich. Ich komme mit dir.

Wozu?, fragte er eisig und augenblicklich kehrte der Schmerz in meine Brust zurück.

Ich will bei dir sein, sagte ich tapfer.

Aber ich … ich will das nicht, hörst du!

Gordians Pupillen waren nun fast so schmal wie die einer Katze, wenn sie ins Licht schaut. In seiner Miene spiegelte sich kalte Ablehnung.

Fassungslos starrte ich ihn an, während sich in meinem Kopf die Gedanken überschlugen. Ich wollte einfach nicht glauben, dass sich innerhalb dieser wenigen Wochen so viel zwischen uns verändert hatte!

Delfinnixe sind die perfekten Schauspieler. Das hatte Cyril am Strand in der Cobo Bay gesagt und damals hatte ich diesen Worten kaum Gewicht beigemessen. Jetzt allerdings bekamen sie für mich eine völlig neue Bedeutung. Entweder hatte Gordy mir die ganze Zeit etwas vorgemacht oder … er tat es jetzt!

Ein leiser Zorn stieg in mir hoch. Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, dass er ein verdammter Mistkerl sei und nicht viel besser als seine alten Freunde, doch wahrscheinlich hätte ich damit diese quälende Situation nur verschärft. Aus einem unerfindlichen Grund hatte Gordy eine Mauer zwischen uns errichtet, und die konnte ich ganz sicher nicht durchdringen, indem ich ihm Vorwürfe oder gar eine Szene machte.

Es ist nicht allein deine Schuld, dass Kyan an Land gehen und noch ein paar seiner Freunde mitnehmen konnte, sagte ich zögernd und suchte in seinem Blick verzweifelt nach einer Erklärung für sein abweisendes Verhalten.

Gordian rührte sich nicht, also machte ich einige entschlossene Flossenschläge auf ihn zu.

Das alles wäre nicht passiert, wenn ich nicht nach Guernsey gekommen wäre, fuhr ich mit klopfendem Herzen fort. Ich habe dich aus dem Meer gelockt.

Gordy presste seine Lippen fest aufeinander. Ganz sicher nicht, gab er zurück. Noch nie ist es einem Menschenmädchen gelungen, einen Delfinnix an Land zu ziehen.

Ich bin aber kein Menschenmädchen, wisperte ich. Ich bin eine Halbnixe. Ein Hai.

Bei meinen letzten Worten zuckte er heftig zusammen, und schon bereute ich es, sie überhaupt ausgesprochen zu haben.

Die sind erst recht nicht dazu in der Lage, stieß er zischend hervor.

Gordy, flehte ich, woher willst du denn das so genau wissen? Kannst du so weit in die Vergangenheit zurückschauen? Oder Wahrheit von Legende unterscheiden?

In seinen Augen blitzte etwas auf und seine Kiefermuskeln traten deutlich hervor. Ich sah, wie sehr er mit sich kämpfte. Vielleicht wollte er mich hassen, aber er schaffte es nicht.

Es war also doch noch nicht alles verloren.

Ich glaube nicht, dass ich dir plötzlich gleichgültig bin, sagte ich stockend. Wäre es so, hättest du keinen Grund gehabt, den weiten Weg hierherzukommen und mich um Verzeihung zu bitten.

Ich habe dich nicht um Verzeihung gebeten, entgegnete Gordian kühl. Ich habe mich lediglich für die Wunden, die ich dir zugefügt habe, entschuldigt.

Der Schmerz in meiner Brust breitete sich aus und nahm mir den Atem. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und betete inständig, dass dies alles ein Albtraum wäre, aus dem ich jede Sekunde erwachen würde. Doch als ich die Lider wieder hob, hatte sich nichts verändert – außer, dass Gordy sich abgewandt hatte und zügig weiter in Richtung Ostsee schwamm.

Verdammt noch mal, nicht nur du hast mich gebissen!, schrie ich ihm nach. Meine Stimme bebte, und ich zitterte am ganzen Körper, sodass ich keinen kontrollierten Flossenschlag tun konnte und kaum vom Fleck kam. Ich habe dir ebenfalls wehgetan. Wir hatten uns beide nicht unter Kontrolle. Aber ich bin sicher, dass …

Gordian wirbelte herum und jetzt war sein Gesicht voller Abscheu.

Wir sind Feinde, Elodie, fuhr er mich an. Nur deshalb ist es so weit gekommen. Es wird Zeit, dass du das endlich, endlich begreifst.

Seine Worte stachen so tief in mein Herz, dass ich unwillkürlich aufstöhnte.

Warum bist du zurückgekommen?, stieß ich hervor. Wie hast du mich überhaupt gefunden? … Ich hatte mich doch gerade von dir verabschiedet … Ich hatte dich gehen lassen, verstehst du? Ich starrte ihn weiter an und wartete auf eine Antwort, irgendeine Reaktion, und ich glaubte schon, ein Zucken seiner Lider zu bemerken, einen Anflug von Bedauern um seine Mundwinkel, aber vielleicht irrte ich mich auch. Hätte es nicht gereicht, mir hinterherzuschauen?, fuhr ich kraftlos fort. Wären wir an Land gewesen, wäre mir spätestens jetzt der Boden unter den Füßen weggebrochen. Aber das Wasser war nicht das Land. Es hielt mich fest und ließ nicht zu, dass ich aufgab. Du hast doch sehen können, dass meine Wunden geheilt sind! Du hast mich nicht gehen lassen.

Gordy senkte den Blick.

Ich kann dich nicht daran hindern, das zu denken, wisperte er. Aber die Wahrheit ist: Ich habe mich nur davon überzeugen wollen, dass es dir gut geht.

Das tut es aber nicht! Gordy. Es geht mir nicht gut, brüllte ich ihn an. Es ist die Hölle, dich zu sehen und nicht …

Es tut mir leid, unterbrach er mich harsch. Ich sehe ein, dass ich einen Fehler gemacht habe. Aber das ändert nichts daran, dass es vorbei ist, Elodie. Ich – will – dich – nicht – mehr – bei – mir – haben.

Jedes einzelne Wort war wie ein Messerstich. Ich hätte losheulen können, aber mein Stolz verbot es mir, ihm meinen Schmerz zu zeigen. Tief verletzt wandte ich mich ab und schwamm zurück. Gordian hatte alles kaputt gemacht, indem er mir nun auch noch meine glücklichen Erinnerungen an ihn nahm. Das war tausendmal schlimmer als jeder Verlust, schlimmer sogar noch als der Tod.

Denn jetzt hatte ich nichts mehr.

Nur noch mich selbst.

Ich war Elodie Saller, halb Mensch, halb Hainixe.

Ja, verdammt, Cyril, dachte ich. Genau das bin ich. Eine Hainixe. Stark und unabhängig.

Mit geballten Fäusten und kräftigen Flossenschlägen stob ich durch das Schleusentor – und wurde urplötzlich abgebremst. Aus einem für mich völlig unerfindlichen Grund verlor ich an Geschwindigkeit. Es war weder ein Schiff in der Nähe, dessen Antriebsschrauben eine Gegenströmung auslösten, noch irgendetwas anderes, das dieses unsichtbare Hindernis verursachen konnte. Leise fluchend legte ich die Arme so eng wie möglich an meinen Körper, schlug meine Schwanzflosse kräftig hin und her und kämpfte mit aller Entschlossenheit dagegen an. Doch so sehr ich mich auch mühte, ich kam keinen einzigen Meter mehr voran. Im Gegenteil: Das Flusswasser drängte mich vehement zum Schleusentor zurück.

Eine kraftvolle Unterströmung drehte mich um hundertachtzig Grad und zog mich mit ganzer Macht in Richtung Ostsee.

Erschöpft rang ich nach Atem, sog einen großen Schwall Wasser in meine Lungen und bildete mir ein, hier, mitten in der Trave, den Geschmack von Salzwasser auf der Zunge zu spüren.

Also gut, dachte ich, du willst es nicht anders.

Was auch immer mein Schicksal war, ich würde mich fügen. Denn das Meer hatte offenbar seine eigenen Pläne. Es zwang mich, Gordy zu folgen.

Gordian musste mich schon ein gutes Stück hinter sich gelassen haben, denn so schnell ich auch schwamm, ich konnte ihn weder sehen noch den kleinsten Gedankenfetzen von ihm erfassen. Wahrscheinlich war es gar nicht mehr möglich, ihn überhaupt noch einzuholen, aber darüber dachte ich nicht nach.

Mit jedem Meter, den sich die Trave verbreiterte, wurde das Wasser salziger, aber auch schmutziger. Die dunklen Schatten riesiger Schiffsleiber tauchten über mir auf. Sie füllten mein Gehör mit dem durchdringenden Brummen ihrer Motoren, und ihre Antriebsschrauben wirbelten stinkende Schwaden auf, die einen beißenden Schmerz in meinen Atemwegen verursachten.

Trotz alledem hatte ich mich inzwischen ein wenig erholt. Meine Schwanzflosse bewegte sich nun wieder in schnellem Rhythmus hin und her und schon bald erreichte ich das offene Meer. Es tat gut, endlich reines Salzwasser atmen zu können, denn es machte den Schiffslärm und das Durchqueren der unzähligen von Giftstoffen verunreinigten Bereiche um einiges erträglicher.

Obwohl ich nicht sonderlich auf meine Umgebung achtete, fiel mir auf, dass es Zonen gab, in denen merklich weniger Fischschwärme unterwegs waren.

Also versuchte ich, diese Gebiete zu meiden. Ich orientierte mich an der Klarheit des Wassers und der Intensität des Salzduftes, der mich durchströmte, und stellte mir vor, wie ich den Großen Belt und den Skagerrak durchquerte und zwischen der britischen Küste zu meiner Rechten und der niederländischen zu meiner Linken auf die Kanalinseln zuhielt.

Die ganze Zeit über gingen mir Bilder von Gordy und den anderen Delfinnixen, von Cyril, Jane und Javen Spinx, Ruby und Ashton und von Tante Grace durch den Kopf, hin und wieder drängte sich auch das Gesicht meiner Mutter dazwischen. Wahrscheinlich würde sie durchdrehen, wenn sie feststellte, dass ich verschwunden war. Ich musste so bald wie nur irgend möglich ein Lebenszeichen von mir geben, und bis dahin blieb mir nichts als die Hoffnung, dass man meinen Rucksack und meine Klamotten am Traveufer fand und Mam die richtigen Schlüsse daraus zog.

Ich hatte das Gefühl, bereits eine Ewigkeit unterwegs gewesen zu sein, als die Dunkelheit vor mir von Lichtreflexen durchbrochen wurde. Der Sog der Strömung, der mich meinem Ziel entgegentrug, hatte sich schon vor einer geraumen Zeit deutlich abgeschwächt. Mittlerweile schmerzten meine Muskeln vor Erschöpfung, ich musste meine Augen fast gewaltsam offen halten und von Gordy war noch immer nichts zu sehen.

Einem inneren Impuls folgend, ließ ich mich nach oben treiben. Kurz bevor ich die Oberfläche durchbrach, presste ich sämtliches Wasser aus meiner Lunge, und der nächste Atemzug füllte sie mit morgenfrischer Seeluft.

Ich befand mich mitten im Meer, über mir der klare Himmel, auf dem im Westen noch die dunkelblaue Erinnerung an die vergangene Nacht lag. Unmittelbar vor mir erkannte ich die bizarre Felsenküste Guernseys und gleich dahinter schob sich die Sonne empor.

Für einen kurzen Moment wurde mir ganz warm und leicht ums Herz.

Ich war wieder daheim, dort, wo ich hingehörte. Warum auch immer sie es getan hatten, aber Javen Spinx und Jane hatten mich auf eine falsche Fährte gelockt. Vielleicht hatten sie es nicht besser gewusst, möglicherweise war es aber auch mit voller Absicht geschehen. Doch all das interessierte mich nicht mehr. Ich wollte nur noch wissen, warum Gordian sich so verändert hatte und welche Aufgabe das Meer für mich bereithielt.

Also tauchte ich wieder unter und steuerte nun direkt die Westküste Guernseys an. Es war mir egal, wo ich ankommen würde, ich schwamm einfach geradeaus – und plötzlich sah ich ihn: Gordy!

Er schoss hinter dem Vorsprung eines Riffs hervor, stob auf mich zu und packte mich am Handgelenk. Mit wenigen energischen Flossenschlägen zog er mich hinter sich her zurück zum Riff und drückte mich in einen breiten Spalt.

Verdammt noch mal, was machst du hier?, fuhr er mich an. Hab ich dir nicht gesagt, dass ich dich nicht dabeihaben will?

Du hast eine ganze Menge gesagt, erwiderte ich. Zum Beispiel auch, dass du mich nicht mehr anfassen würdest.

Er wich ein Stück von mir ab und schüttelte unwillig den Kopf. Wie konntest du nur ohne Deckung auf die Insel zuschwimmen!, blaffte er.

Keine Ahnung. Ich hab’s einfach getan, sagte ich und überlegte, ob ich ihm von der Strömung erzählen sollte, die mich aus der Trave ins Meer hinausgezogen hatte, doch dann bemerkte ich das panische Flackern in seinen Pupillen und ließ es sein.

Was ist hier los, Gordy?, fragte ich scharf.

Du solltest nicht hier sein, das ist los!, gab er zurück, und schon durchzuckte mich der wahnwitzige Gedanke, dass er mit Jane und Javen Spinx unter einer Decke steckte.

Gordian schob die Augenbrauen zusammen. Für eine Sekunde wirkte er irritiert, dann schüttelte er abermals den Kopf.

Du solltest nicht hier sein, wiederholte er überraschend sanft.

Ich schluckte, dann fing ich an zu zittern.

Du willst mich nicht dabeihaben, stimmt’s? Wobei auch immer, fügte ich im Stillen hinzu.

Gordy nickte.

Aber das bedeutet nicht, dass du mich gar nicht mehr willst, oder?

Diesmal nickte er nicht, aber er schüttelte auch nicht den Kopf, sondern sah mich nur an.

Versprich mir, dass du in dieser Felsspalte wartest, bis ich zurückkomme, sagte er schließlich.

Unschlüssig erwiderte ich seinen Blick. Warum?

Versprich es mir einfach!

Ich registrierte das Flehen in seinen Augen.

Wie lange wird es dauern?, fragte ich.

Das kann ich dir nicht sagen.

Dann kann ich dir auch nicht versprechen, dass ich dir nicht weiter folgen werde.

Er presste die Lippen aufeinander und sein Blick wurde noch eindringlicher. Elodie, bitte!

Erklär mir wenigstens, wieso!

Anstelle einer Antwort sah Gordy mich nur weiter an, und mit einem Mal wurde mir klar, was in ihm vorging: Er hatte Angst um mich!

Diese Erkenntnis durchflutete mein Herz wie eine warme Welle und machte mich innerlich so weich, dass ich ihm alles versprochen hätte.

Also gut, gab ich nach.

Gordian atmete sichtlich auf. Er nickte mir zu, dann drückte er sich vom Felsen ab und glitt mit bedächtigen, aber kräftigen Flossenschlägen weiter auf die Küste zu.

Wenn es nicht zu lange dauert …, schickte ich ihm in Gedanken hinterher.

Es dauerte zu lange – viel zu lange.

Ich hatte schon mindestens hundertmal gegen den Reflex angekämpft, mein Versteck zu verlassen. Inzwischen lag die Meeresoberfläche wie ein lichtdurchfluteter Spiegel über mir, was darauf schließen ließ, dass die Sonne ihren Höchststand erreicht hatte, es also auf Mittag zuging.

Ich gebe dir noch fünf Minuten, dachte ich und schloss die Augen. Auf einmal hörte ich meinen Namen. Aber es waren nicht Gordys Gedanken, die ihn formten.

Ich werde dich besitzen, Elodie, so wie alle anderen.

Kyan!, schoss es mir durch den Kopf. Wer sollte es sonst sein?

Mein Herz trommelte los, und instinktiv drückte ich mich tiefer in die Felsspalte. Ich versuchte herauszuhören, wie weit der Nix von mir entfernt war, und kam fast um vor Angst, weil ich nicht einschätzen konnte, wie viel ich dadurch über meinen eigenen Standort preisgab.

Ich werde dich küssen, Elodie. – Danach. Du wirst in meinen Armen sterben und dieser elende Plonx wird dir dabei zuschauen.

Plötzlich sah ich mich selbst – von hinten, mitten im Meer schwimmend. Anstelle eines Haischwanzes hatte ich Beine. Meine dunklen Haare folgten mir wie eine Schleppe, die auf der Wasseroberfläche trieb. Mit gleichmäßigen Zügen hielt ich auf einen langen Sandstrand zu. – Und dabei kam ich mir selbst immer näher.

Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Was hatte ich da wahrgenommen? Etwa ein Ereignis in der Zukunft? Aber wieso hatte ich Beine, obwohl ich doch im Meer schwamm? Und welcher Strand war das überhaupt? – Er kam mir vollkommen unbekannt vor.

Sicher war bloß: Es mussten Kyans Gedanken sein, die ich auffing. Nur er hatte einen Grund, mir schaden zu wollen. Er verfolgte mich … und die Bilder, die ich sah, sah ich durch seine Augen … So musste es sein!

Mit einem Schlag wurde mir klar, was hier gerade passierte, und einen Sekundenbruchteil später hatte ich die Felsspalte bereits verlassen und schoss in dieselbe Richtung davon, in die auch Gordy heute Morgen verschwunden war.

Mein Herz raste vor Angst, dass ich zu spät kam oder die Stelle, an der es gerade geschah, gar nicht fand. Alles in mir sträubte sich dagegen, mich noch einmal auf Kyans widerliche Fantasien zu konzentrieren, doch im Moment waren sie die einzige Spur, der ich folgen konnte.

Nur Geduld, Elodie, gleich ist es so weit.

Ich stöhnte innerlich auf vor Verzweiflung, als ich sah, wie nah er Aimee inzwischen gekommen war. Kyans gieriger Blick glitt über ihre Waden, an ihren Schenkeln hinauf und verweilte lüstern auf ihrem Po.

Verdammt noch mal, sie musste doch merken, dass jemand hinter ihr war! Wenn sie sich umdrehte, wenn Kyan erkannte, dass er das falsche Mädchen im Visier hatte, würde er sie vielleicht verschonen. Aber Aimee wandte sich nicht um. Ahnungslos schwamm sie weiter auf den langen Sandstrand zu. – Herm!, durchzuckte es mich. Das musste Herm sein, die kleine Badeinsel, die zwischen Guernsey und Sark lag.

Ich stob durch endlos lange Riffe, ließ zahllose Abgründe und Untiefen hinter mir, bis das Wasser endlich abflachte.

Komm her, meine Schöne, komm …

Kyan streckte seine Arme aus und packte Aimee bei den Hüften. Mit einem Ruck zog er sie unter die Oberfläche, riss sie an seine Brust und presste seine Hand auf ihren Mund.

Nicht atmen, hörst du, bloß nicht atmen. Wir suchen uns ein lauschiges Plätzchen an Land. Auch du sollst keine Sekunde verpassen.

Ich spürte das Entsetzen, das Aimees Körper erschütterte, und ich spürte auch, wie ihre Panik Kyans Lust nur noch mehr anfachte.

Lass sie los!, brüllte ich. Sie ist nicht die, für die du sie hältst!

Kyan stutzte. Er hatte meinen Ruf also empfangen. Gleich würde er sich umschauen. Doch er lachte nur.

Vergiss es, Gordy. Ich gebe sie nicht mehr her. Ich werde mir nehmen, was mir zusteht, und dich anschließend den Haien überlassen.

Kyan hatte mich nicht erkannt. Natürlich nicht! Wie sollte er es auch für möglich halten, dass ausgerechnet ich ihm ein Gedankenecho schickte? Er ahnte ja nicht einmal, wer ich in Wahrheit war, eine Hainixe – sein Feind!

Explosionsartig wich meine Angst einem brennenden Zorn.

Wo zur Hölle bist du?, dachte ich voller Wut, und nur einen Atemzug später sah ich ihn, Kyan, der die sich windende Aimee umklammerte. Und ich erkannte nicht nur ihn, sondern auch Gordy, wie er nur wenige Körperlängen von den beiden entfernt im Wasser schwebte und von drei weiteren Delfinnixen in Menschengestalt in Schach gehalten wurde.

Gordian bäumte sich auf, wehrte sich mit einer Vehemenz, als verteidige er sein eigenes Leben, aber gegen die Übermacht der Nixe hatte er nicht die geringste Chance. Einer von ihnen hatte sich mit seinem ganzen Leib um seinen Schwanz gewunden, sodass jeder einzelne seiner verzweifelten Flossenschläge im Keim erstickt wurde. Die beiden anderen hielten ihn an den Armen fest, zerrten an seinen Haaren und zwangen ihn, seinen Blick auf Kyan und Aimee gerichtet zu halten.

Gordy, das bin nicht ich!

Elodie!

Mein Ruf schien ihn bis ins Mark zu erschüttern, und jetzt begriffen auch die anderen Nixe, dass hier offenbar etwas nicht nach ihrem Plan verlief. Die drei, die Gordian umfassten, drehten ihre Köpfe in meine Richtung, und auch Kyan wirbelte herum. Seine Hand verdeckte die untere Hälfte von Aimees Gesicht, nur ihre vor Panik geweiteten Augen blitzten mich an.

Ohne zu überlegen, schoss ich auf die beiden zu.

Lass sie los!, zischte ich.

Elodie, neiiin! Gordys Schrei zerbarst in meinem Schädel. Doch ich kümmerte mich nicht um ihn, ich sah nur Aimees Augen und war völlig beherrscht von dem Gedanken, dass sie an meiner Stelle sterben sollte.

Lass sie los, verdammt noch mal!, fauchte ich, riss meinen Mund auf und schlug meine Zähne in Kyans Arm.

Er brüllte auf vor Schmerz und Zorn und im nächsten Moment war Aimee frei. Ich versetzte ihr einen Stoß und sie trudelte langsam der Wasseroberfläche entgegen. Ihr Gesicht war aschfahl, und ich bemerkte zu meinem Entsetzen, dass sich ihre Lider schlossen, während sie rücklings abdriftete und unmittelbar auf ein großes Riff zutrieb.

Ich wollte ihr zu Hilfe eilen, doch Kyan hatte mich bereits gepackt. Seine muskulösen Arme umklammerten meine Taille.

Tut mir leid, dass ich dir den Spaß verderbe, zischte ich, fasste über meinen Kopf hinweg in seine schwarzen Haare und zerrte daran, so fest ich konnte.

Ich werde dich trotzdem töten, knurrte er. Eine seiner großen Hände tastete nach meinen Brüsten und drückte sie begierig. Und während er das tat, schwamm er langsam auf Gordy und die drei Delfinnixe zu, die ihn noch immer gefangen hielten.

Ich unterdrückte Ekel und Wut, versuchte die fremde Hand, die weiter provozierend meine Brüste knetete, zu ignorieren, und flehte innerlich zum Himmel, dass Aimee nicht das Bewusstsein verloren hatte und ertrank. Es fehlte nicht viel und ich würde durchdrehen.

Verzweifelt richtete ich meinen Blick in Gordys Augen und hoffte auf ein Lächeln, doch seine Iris flirrte vor Hass, und seine Pupillen zogen sich so schmal zusammen, dass sie in der leuchtenden Iris kaum noch zu erkennen waren. Noch nie hatte ich ihn so dermaßen außer sich vor Wut gesehen, ich war sicher, wenn er gekonnt hätte, hätte er Kyan und seine Freunde mit bloßen Händen zermalmt.

Umso überraschter war ich, als ich hörte, was er nun als Gedankenecho aussandte.

Wollt ihr die bezaubernde Elodie wirklich ihm allein überlassen?

Halt deine Klappe, Plonx!, fauchte Kyan. Noch ein Wort und ich grabe meine Zähne in ihr Fleisch.

Sei nicht töricht, sie ist nicht mehr das, wofür du sie hältst. Wenn ihr Blut ins Meer strömt, lockst du nur die Haie an, erwiderte Gordy seelenruhig. Niclas, Pine, fuhr er in einnehmendem Tonfall fort, spürt ihr den Duft des Menschenmädchens? Sobald sie tot ist, wird keiner von euch mehr seine Freude an ihr haben. Warum schnappt ihr sie euch nicht und …

Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da waren die beiden Nixe, die ihn an den Armen festgehalten hatten, bereits an Kyan und mir vorbeigeschossen.

Gordy, was tust du da?, rief ich erschrocken, da spürte ich einen Stoß in meinem Rücken, der mich ruckartig nach vorn warf. Kyans Griff lockerte sich, ich schlug kräftig mit dem Schwanz aus und traf ihn zwischen den Beinen an seiner empfindlichsten Stelle.

Ich vernahm ein kurzes schadenfrohes Keckern, dann stob plötzlich ein Schatten an mir vorbei genau auf Gordy zu – ein Hainix, dessen Außenhaut so schwarz war, dass ich nicht erkennen konnte, wer sich darunter verbarg.

Nein! Nicht ihn!, schrie ich. Er wollte dem Mädchen helfen!

Doch der schwarze Hai ließ sich nicht aufhalten. Mit voller Wucht rammte er sein Maul gegen den Nix, der noch immer Gordys Schwanz umklammert hielt. Und er tat es wieder und wieder, bis dieser losließ und zu fliehen versuchte. Da schoss der Schwarze ein letztes Mal auf ihn zu, riss sein Maul weit auf und hieb seine langen scharfen Zähne in die Flanke des Delfinnixes. Unmengen von Blut quollen hervor. Doch es war noch nicht vorbei. Mit dem Nix im Maul machte der Hai nun eine Kehrtwende, steuerte in rasendem Tempo auf das Riff zu und schleuderte den zappelnden Leib gegen einen mit Algen überwucherten Felsen.

Tief schockiert beobachtete ich dieses Schauspiel, unfähig, mich zu bewegen. – Bis ein zweiter Hai auftauchte.

Seine Außenhülle war ebenso schwarz und undurchdringlich wie die seines Artgenossen, und er bewegte sich so schnell, dass das Meerwasser um mich herum erbebte. In einem irrsinnigen Tempo jagte er einem der anderen Delfinnixe nach, der gerade hinter einem Riff verschwand.

Nicht einmal einen Atemzug später stieg dort eine riesige blutrote Wolke auf.

Panisch riss ich den Kopf hin und her, um das Geschehen zu verfolgen und nach Gordy Ausschau zu halten, da sah ich, dass er sich Aimee geschnappt hatte und mit ihr in Richtung Wasseroberfläche glitt.

Ich wollte ihm gerade hinterherschwimmen, als der größere der beiden Hainixe hinter dem Riff hervorpreschte und ebenfalls auf Gordian zusteuerte.

Neiiin!, brüllte ich. Gordy, pass auf! Hinter dir!

Im selben Moment durchzuckte ein mächtiger Impuls ähnlich dem eines Stromschlags die Muskeln meines Schwanzes. Ein einziger Flossenschlag genügte, um mich mehrere Meter voranschießen zu lassen.

Ich erwischte den Hainix knapp über dessen Hüfte, warf mit dem Mut der Verzweiflung meine Arme um seinen Leib und umklammerte ihn, so fest ich konnte.

Augenblicklich wirbelte er herum, drehte sich um die eigene Achse und schlug mit dem Schwanz kräftig hin und her. Er versuchte mit aller Macht, mich abzuschütteln, und ich drohte an seiner glatten Außenhülle herunterzurutschen.

Lass Gordy in Ruhe!, zischte ich. Er versucht doch nur, Aimee das Leben zu retten.

Aber der Hai reagierte nicht. Ob er mich nicht hören konnte oder es nur nicht wollte, vermochte ich nicht zu sagen. Außerdem erforderte es meine ganze Konzentration, ihn umschlungen zu halten. Meine Arme begannen zu zittern. Ich befürchtete, dass meine Kräfte mich schon bald verlassen würden, und so krallte ich reflexartig meine Finger in seine Haut.

Sofort erstarrte der Hainix in Bewegungslosigkeit. Sein Körper erschlaffte und wir sanken langsam nach unten auf den Meeresgrund zu.

Das wirst du nicht tun, Elodie, zischte warnend eine Stimme hinter mir – und kurz darauf erschien der zweite Hainix neben uns.

Sein Körperbau und sein breites Maul erinnerten mich an Javen Spinx. Zwar hatte ich dessen Hautfarbe deutlich heller in Erinnerung, womöglich gehörte das Einfärben der Außenhülle aber auch zu einem seiner vielen Talente.

Du weißt, welche Qualen du ihm zufügst, raunte er jetzt. Also, lass ihn los.

Nur, wenn ihr mir versprecht, dass ihr Gordy nichts antut, gab ich zurück.

Die Antwort war Schweigen.

Du stellst dich also gegen uns?, fragte er schließlich.

Ich stelle mich gegen niemanden, solange er Gordian nicht angreift, erwiderte ich.

Zwei dunkle Augen blitzten mich wütend an. Du machst einen großen Fehler, Elodie.

Das glaube ich nicht, presste ich hervor und bohrte meine Finger wild entschlossen noch etwas tiefer in die Haut des Hais. Ich wollte ihn nicht verletzen, aber ich hatte keine Wahl. Es war die einzige Möglichkeit, Gordy zu helfen.

Also gut. Ich verspreche dir, den Plonx diesmal in Ruhe zu lassen, sagte der Spinx-Hai. Im Gegenzug sorgst du bitte dafür, dass er den Kanal verlässt. Sonst kann ich für nichts garantieren.

Im Gegenzug verschone ich deinen Freund, betonte ich entschieden und löste zögernd meinen Griff.

Der Hai spannte blitzartig seine Muskeln an und befreite sich mit einem kräftigen Flossenschlag aus meiner Umklammerung. Er stob ein Stück von mir weg, drehte sich dann aber noch einmal um und funkelte mich wütend an, bevor er mit seinem Freund davonhuschte und schließlich mit der Dunkelheit der Küstenriffe verschmolz.

Zitternd vor Anstrengung und Entsetzen blieb ich zurück. In einer Felsspalte unter mir entdeckte ich den leblosen Körper des dritten Delfinnixes, nur von Kyan fehlte jede Spur.

Ich richtete meinen Blick nach oben und erkannte genau über mir Gordys Delfinschwanz und Aimees helle Beine, die schlaff ins Meer hinunterhingen.

Hastig drückte ich mich hoch, presste das Wasser aus meinen Lungen und durchstieß unmittelbar neben den beiden die Oberfläche.

Aimee ruhte in Gordians Armen. Ihr Gesicht wirkte geradezu winzig. Es war schrecklich bleich und unter ihren halb geschlossenen Augen lagen dunkle Schatten.

Lebt sie noch?, keuchte ich.

Gordy nickte. Was ist mit Kyan?, wollte er wissen.

Ich glaube, er hat sich aus dem Staub gemacht.

Und die anderen?, fragte er weiter. Haben die Hainixe sie …?

Ich senkte den Kopf.

Sie sind also tot?

Ja … Es tut mir leid, Gordy.

Mir auch. Er sah mich an und zum ersten Mal seit unserer Begegnung am Traveufer in Lübeck war seine Miene nicht abweisend oder gar feindselig. Es tut mir leid, dass ich dich da unten mit ihnen allein gelassen habe.

Schon gut, sagte ich leise. Ich bin ja klargekommen.

Hast du sie … erkannt?

Ich schüttelte den Kopf. Der eine, der dir geholfen hat, hat mich an Javen Spinx erinnert. Sicher bin ich mir aber nicht. Möglicherweise können einige von ihnen die Farbe ihrer Außenhaut verändern.

Gordy schob nachdenklich die Unterlippe vor. Und der andere? Der hat doch versucht, mich anzugreifen, oder?

Ja.

Und du hast ihn daran gehindert?

Ich zuckte mit den Schultern. Sieht ganz so aus. Allerdings wäre ich niemals mit ihm fertiggeworden, wenn der andere ihn gegen mich verteidigt hätte, setzte ich hastig hinzu.

Das hätte er wohl kaum getan, entgegnete Gordian. Du bist auch eine Hainixe, Elodie.

Ja. Allein bei dem Gedanken daran, dass ich mich gerade gegen meine eigene Art gestellt hatte, zogen sich mir die Magenwände zusammen. Noch weniger jedoch mochte ich mir vorstellen, was geschehen wäre, wenn ich gar nicht hier gewesen wäre.

Dann nämlich hätten die Haie Gordy garantiert nicht verschont. Sie hätten ihn ebenfalls getötet und Aimee selber an Land gebracht.

Aber das Meer hatte anders entschieden.

Es hatte mich hierhergeholt.

Komm, raunte Gordy. Jetzt kümmern wir uns erst mal um das Mädchen.

Aimee stöhnte leise. Noch immer waren ihre Lider halb gesenkt. Ich konnte nicht ausmachen, ob sie bei Bewusstsein war oder nicht.

»Hat sie Wasser in die Lunge bekommen?«, fragte ich besorgt.

»Ich hoffe, nicht.« Gordy stützte ihren Nacken und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.

Aimee lächelte und Gordian gab ein erleichtertes Seufzen von sich.

Hör zu, wandte er sich an mich. Sie ist ziemlich ausgekühlt. Wir nehmen sie zwischen uns und versuchen, sie zu wärmen, während wir sie an den Strand zurückbringen.

Okay. Ich nickte.

Wir legten uns Aimees Arme über die Schultern, und während wir uns langsam in Bewegung setzten, drängten wir unsere Körper dicht an ihren.

Ich ließ meinen Blick über die Küste von Herm gleiten. Zu beiden Seiten der Fähranlegestelle gab es ausgedehnte Strandabschnitte, und ich erkannte Joelle und Olivia, die mit einem weiteren Mädchen, das ich noch nie zuvor gesehen hatte, inmitten einer bizarr geformten Felsgruppe standen und zu uns herüberstarrten.

Du wirst dafür sorgen, dass sie sich nicht mehr erinnern, sagte Gordy. Weder sie noch Aimee.

Was?, hauchte ich. Ich glaube, das schaffe ich nicht.

Gordian schüttelte den Kopf. Das ist doch Unsinn, Elodie!

Ist es nicht, stammelte ich. Ich … ich … ich habe dieses Talent verspielt.

Ungläubig sah er mich an.

In Lübeck ist etwas geschehen … Nicht nur meine Stimme zitterte, mein ganzer Körper bebte, als ich mir dieses furchtbare Ereignis wieder in Erinnerung rufen musste. Ich habe Frederik beinahe zu Tode geküsst.

Augenblicklich stand Gordians Schwanzflosse still. In seinen Augen blitzte Wut auf – und was noch viel schlimmer war: Enttäuschung.

Er hat mich angefasst, begann ich, mich zu rechtfertigen. Ich wollte, dass er das ein für alle Mal sein lässt und Sina eine echte Chance gibt. Sie ist nämlich wirklich sehr verliebt in ihn.

Aimee, deren Kopf zur Seite gefallen war und nun schwer in meiner Halsbeuge ruhte, gab ein leises Glucksen von sich, und Gordy schwamm langsam wieder los.

Ich nehme an, dieser Mordversuch hat sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt, zischte er.

Aber das war doch kein …, stammelte ich, brach ab und biss mir auf die Unterlippe. Ich wusste ja selbst nicht, wie weit ich möglicherweise gegangen wäre, wenn ich nicht rechtzeitig zur Besinnung gekommen wäre. Frederik ist ohnmächtig geworden, erklärte ich stockend weiter. Und hinterher … also, nachdem ich ihn wiederbelebt hatte, ist er ziemlich sauer gewesen. Ich habe keine Ahnung, ob er sich noch an irgendwelche Details erinnern kann.

Gordy warf mir einen Blick zu, der Bände sprach.

Ich weiß, dass ich einen schrecklichen Fehler gemacht habe, brach es aus mir hervor und plötzlich konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Diese Sache mit Frederik, Gordys distanziertes Verhalten, der Kampf eben, der drei Delfinnixe das Leben gekostet hatte, und nicht zuletzt Aimees bewusstloser ausgekühlter Körper in meinem Arm … all das war einfach zu viel für mich. I-ich hätte Frederik aus dem Zimmer werfen müssen, fuhr ich schluchzend fort. Keine Ahnung, warum ich es nicht getan habe.

Ist ja gut, Elodie, wisperte Gordy. Ist ja gut.

Ich spürte die sanfte Berührung seiner Hand auf meinem Rücken und sah ihn überrascht an. Sein Lächeln war wie eine Erlösung. Das Blitzen in seinen Augen und den anschließenden kurzen Schwindel nahm ich kaum wahr. Eine wunderbare Ruhe durchströmte mich.

Wir reden später darüber, sagte Gordian. Sobald ich Aimee in Sicherheit gebracht habe. In Ordnung?

Ich runzelte die Stirn. Du willst allein zum Strand schwimmen?

Ich glaube, das ist das Beste, erwiderte er. Noch sind wir weit genug vom Ufer entfernt. Joelle und Olivia haben dich ganz sicher nicht erkannt und Aimee …

Weiter kam er nicht, denn in dieser Sekunde öffnete Aimee die Augen. Sie hob ihren Kopf und lächelte mich selig an. »Elodie! Wo kommst du denn her? Ich dachte, du bist längst wieder in Lübeck.«

»Nein … ähm«, stotterte ich. »Nein.«

»Du kannst hier nicht schwimmen«, murmelte sie. »Im Mai ist das Meer noch viel zu kalt.«

»Das gilt auch für dich«, entgegnete ich und musterte beunruhigt ihre blasse Haut und die blau angelaufenen Lippen.

Und deshalb musst du ganz schnell in warme Sachen, sagte Gordian, zog Aimee von meiner Schulter herunter und nahm sie fest in seine Arme.

Du solltest untertauchen, damit Rubys Freundinnen sich nicht darüber wundern, dass du es bei dieser Temperatur so lange im Wasser aushältst, ermahnte er mich.

Und was ist mit dir?, fragte ich. Wie willst du deinen Nixenschwanz vor ihnen verbergen? Und selbst wenn du es irgendwie hinbekommst … Was, denkst du, wird Aimee Joelle und Olivia erzählen?

Gar nichts, gab Gordian zurück. Wieder sah er mich an und diesmal hatte sein Blick etwas Flehendes. Bitte tauch jetzt unter!

Er legte sich auf den Rücken, zog Aimee auf seinen Bauch und neigte sich ihrem Gesicht entgegen.

Ungewöhnliche Ereignisse erfordern ungewöhnliche Maßnahmen, hörte ich ihn murmeln und dann rauschte er – seine Lippen auf denen von Aimee – in rasender Geschwindigkeit auf die Felsengruppe am Strand von Herm zu.

Der Schmerz in seinem Geschlecht hatte ihn für einige entscheidende Sekunden gelähmt und anschließend eine heftige Übelkeit in ihm ausgelöst. Kyan war nichts anderes übrig geblieben, als sich hinter einem Felsvorsprung zu verstecken. Von dort aus hatte er dann hilflos mit ansehen müssen, wie die schwarzen Hainixe Liam, Pine und Niclas töteten und sich wenig später – offenbar angelockt durch das viele Blut – ein einsamer Fuchshai neugierig genähert hatte.

Er hasste dieses Menschenmädchen, das ihm vorgegaukelt hatte, Elodie zu sein.

Er hasste die Hainixe.

Er hasste das Schicksal, das ihn und seine Art so ungerecht behandelte und sie während ihrer Landgängerzeit auch im Meer in ihre menschliche Gestalt zwang, die sie so verletzlich und leicht besiegbar machte.

Er hasste den gottverdammten Plonx.

Noch mehr als all das aber hasste er Elodie.

Sie war diejenige, die das Leben im Meer aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, und Kyan würde nicht eher ruhen, bis er diese minderwertige Kreatur aus Mensch und Hai vernichtet hatte.

Inzwischen hatte der Schmerz etwas nachgelassen. Die Hainixe, der Plonx und das Menschenmädchen waren verschwunden und der Fuchshai hatte sich ebenfalls getrollt.

Kyan warf noch einen allerletzten Blick auf seine toten Kameraden, dann stieß er sich vom Felsen ab, tauchte bis zum Grund hinunter und schwamm mit schnellen Zügen auf Crevichon zu, eine winzige Felseninsel, die Jethou vorgelagert war und die im Südwesten von Herm lag.

Hier würde er seine letzten Tage bis zu seiner Rückverwandlung in einen Delfinnix verbringen.

Seinen Hass auf Elodie würden vorerst andere ausbaden müssen. – Menschenmädchen!