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Meine Knie waren puddingweich und mein Puls raste wie verrückt, als ich die Straße überquerte und auf die Bushaltestelle zulief. Auch hier traf ich Gordy nicht an. Natürlich nicht! Keine Ahnung, was er gesehen hatte, letztendlich spielte das im Detail wohl auch kaum eine Rolle, Tatsache war: Ich hatte ihn einfach stehen lassen und eine Zeit lang sogar völlig vergessen. Allein das war schon schlimm genug. Dass ich vermutlich mit einem Hainix gesprochen hatte und dazu noch fast überfahren worden wäre, setzte der Sache jedoch die Krone auf. Ich ahnte, was in Gordy vorging, und konnte nur hoffen, dass er mir auch diesmal verzieh. Mein Herz hielt dieses ständige Auf und Ab nicht mehr aus. Ich ertrug es nicht, ihn immer wieder zu verlieren. Und ich wollte alles, wirklich ALLES dafür tun, damit es nicht noch einmal passierte.

Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis der Bus der Linie 7 kam. Ich setzte mich auf einen Einzelplatz in der Nähe der Vordertür und fuhr bis zum Vazon Bay Café. Mein Fahrrad lehnte noch an der Festungsmauer. Jemand hatte die Klingel abgeschraubt und die Luftpumpe fehlte ebenfalls, aber sonst schien alles in Ordnung zu sein.

Meine Finger zitterten, als ich den winzigen Schlüssel ins Schloss fädelte. Hoffentlich ist Cyril nicht hier, war das Einzige, was ich denken konnte. Ich wollte ihm nicht begegnen, nicht jetzt, am besten gar nicht mehr, sondern ihn vergessen, und bei Gott, das würde ich. Wenn ich nur Gordy nicht verlor!

Ich schob das Rad bis zur Straße und sauste los. Links von mir rasten Häuser und bunt blühende Büsche vorbei, zu meiner Rechten glitzerte das Meer. Von Westen her lockerte sich der Himmel allmählich auf, hier und da brachen Sonnenstrahlen hervor und tauchten einzelne Anwesen in ein helles, warmes Licht. Ich konnte nur hoffen, dass Gordy es nach Grace’s High geschafft hatte, ohne dass seine Besonderheiten jemandem aufgefallen waren.

Ich brauchte keine zehn Minuten bis zum Grundstück, wo ich das Fahrrad auffällig am Schuppen abstellte, damit Tante Grace es ja nicht übersehen konnte. Atemlos huschte ich auf das Haus zu, schlüpfte durch die weit offen stehende Tür und warf einen Blick in die Küche. Auf der Spüle lag ein großer Fisch, der darauf wartete, ausgenommen zu werden, von meiner Großtante fehlte allerdings jede Spur.

»Tante Grace!«, rief ich gerade mal so laut, dass sie mich hören musste, wenn sie im Haus war, nicht aber, wenn sie sich im Garten aufhielt.

Als ich keine Antwort bekam, rannte ich in langen Sätzen die Treppe hoch und riss die Tür zu meinem Zimmer auf.

Gordy stand am Fenster. Er war klatschnass und trug nichts als seine Delfinhaut um die Hüften. Seine Jeans, das Sweatshirt und die zugeknoteten Einkaufstüten lagen neben ihm auf dem Boden in einer Pfütze, die sich um seine Füße gebildet hatte.

»Du bist geschwommen!«, entfuhr es mir. Es war so ziemlich das Idiotischste, was ich in dieser Situation überhaupt sagen konnte.

Gordy presste die Lippen aufeinander. Sein Gesicht war bleich und ohne jeden Schimmer und seine Augen lagen tiefgrün in dunklen Höhlen. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er jemals so elend ausgesehen hatte.

»Was ist passiert?« Noch so eine dumme Bemerkung, schließlich wusste ich sehr gut, was passiert war!

»Elodie«, sagte er nur. Und dann: »Ich ertrage das nicht.«

Mein Puls schnellte in die Höhe. »Was?«

»Dich zu verlieren und zurückzugewinnen und wieder zu verlieren …« Er brach ab und senkte den Blick.

»Aber du«, stammelte ich, »… aber ich … du hast mich nicht verloren«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Zu keiner Zeit.« Langsam gewann ich meine Fassung zurück. »Glaub mir, ich halte das genauso wenig aus wie du.«

Gordy sah mich an und nickte, machte jedoch keine Anstalten, sich mir zu nähern. Er war tief verletzt, das spürte ich, und es hatte ganz sicher nicht nur damit zu tun, dass ich so kopflos fortgerannt war, als ich Javen Spinx entdeckte.

»Du kennst ihn doch, stimmt’s?«, fragte ich leise.

»Nein, aber ich habe ihn erkannt. Er ist ein Hai. Und nicht nur das.«

»Was meinst du damit?«

»Er gehört einer besonderen Spezies an«, sagte Gordy. »Bisher habe ich das nur für eine Geschichte gehalten, eine dieser Legenden.« Er verdrehte die Augen. »Haie mit besonderen Begabungen, mächtiger als alle übrigen Meeresbewohner, die irgendwann in den vergangenen Jahrzehnten aufgebrochen sind, um auch die Landbevölkerung zu beherrschen.«

Eine leichte Übelkeit stieg in mir auf und setzte sich hartnäckig unter meinem Zwerchfell fest. Ich wollte nicht glauben, was Gordy da behauptete, aber zugleich hatte selten etwas so einleuchtend für mich geklungen.

Und warum hat er mich gerettet?, schrie alles in mir. Nur um zu demonstrieren, wie mächtig er ist? Hatte er keine Angst, dass ich anderen Menschen davon erzählen würde?

Diese Fragen brannten mir wie Feuer auf der Seele, und ich hoffte sehr, dass ich möglichst bald eine Antwort darauf bekommen würde. Mit Gordy wollte ich das allerdings nicht erörtern.

»Er ist also anders als Cyril«, hauchte ich und beeilte mich hinzuzufügen: »Ich weiß, du willst diesen Namen nicht mehr hören, aber ich muss es einfach wissen.«

»Ich habe keine Ahnung, Elodie«, wisperte Gordian. Er räusperte sich und fuhr dann etwas lauter fort: »Kein Meereswesen kann sich uns gegenüber so perfekt tarnen wie ein Hainix. Bis vorhin in St Peter Port habe ich ja nicht einmal gewusst, dass das, was man sich im Meer über sie erzählt, tatsächlich der Wahrheit entspricht. Javen Spinx verfügt über die Fähigkeit, Dinge zu entschleunigen. Du wärst jetzt tot, wenn er nicht eingegriffen hätte«, fügte er stockend hinzu.

»Du hast es also gesehen!«

»Ich war ja genau hinter dir.«

»Und die Menschen am Hafen?«, fragte ich. »Was ist mit denen? Haben sie es auch gesehen?«

Gordy zuckte mit den Schultern. »Das Ganze ging so wahnsinnig schnell. Natürlich haben dich alle angestarrt, ich glaube aber nicht, dass sie wirklich begriffen haben, was da passierte.«

»Hoffentlich«, sagte ich und sank auf die Bettkante. »Und hoffentlich bist du niemandem aufgefallen.«

»Ich denke, nicht. Als ich sicher sein konnte, dass dir nichts zugestoßen war, habe ich die Gelegenheit genutzt, bin zum Fährableger gelaufen und ins Wasser hinabgetaucht.« Gordian sah mich unschlüssig an. Aus seinen Haaren rann immer noch Wasser. Es perlte über sein Gesicht, seinen Hals und seinen Oberkörper. Es war ein atemberaubender Anblick.

»Willst du dir nicht erst mal trockene Sachen anziehen?«, sagte ich und deutete auf die Tüten.

»Es macht mir nichts aus, nass zu sein«, meinte er schulterzuckend.

»Aber mir macht es etwas aus, dich die ganze Zeit so zu sehen«, entgegnete ich. »Und nicht berühren zu dürfen«, fügte ich etwas leiser hinzu.

Er reagierte nicht, und weil ich sein Schweigen nicht gut aushielt, sprang ich vom Bett auf und lief ins Bad, um ein Handtuch für Gordy und eines für den Fußboden zu holen.

Als ich zurückkam, stand er noch an derselben Stelle. Seine Miene hatte sich ein wenig entspannt und seine Augen leuchteten wieder in ihrem normalen Türkisgrün.

»Aber ich bin immer so«, sagte er. »Du kennst mich doch gar nicht anders.«

»Es stimmt, ich habe dich so kennengelernt«, bestätigte ich, während ich langsam auf ihn zuging. Ich ließ ein Handtuch in die Pfütze fallen und drückte das andere gegen seine Brust. »Aber genau wie dir fällt es auch mir leichter, mich zu beherrschen, wenn du etwas anhast.«

Ausdruckslos starrte Gordy mich an. Er machte keine Anstalten, das Handtuch zu nehmen, sondern hielt mich einfach nur mit seinem Blick gefangen, und wieder einmal wusste ich nicht, was ich tun sollte. Also begann ich, ihm die Wassertropfen von der Brust zu wischen, rieb seine Schultern, seinen Hals und seine Haare trocken.

Gordian stand vollkommen reglos da und verströmte einen hinreißenden Duft nach Meer und Wind, Salz und nach ihm selbst, so frisch und gleichzeitig so warm und betörend, dass ich gar nicht anders konnte, als mein Gesicht an seine Brust sinken zu lassen.

Gordys Herz schlug gegen meine Stirn, kräftig und voller Verlangen. Das Handtuch war mir längst aus den Händen geglitten, nun strichen meine Finger sanft über seine Schultern, seine Arme und seinen Bauch. Gordys Duft intensivierte sich mit jeder Berührung.

Ich hörte mich seufzen und fing an, seine wundervolle weiche Haut zu küssen. Zärtlich wanderten meine Lippen über seinen Körper, und endlich spürte ich auch seine Hände, die unter mein T-Shirt glitten und sich an meinem Rücken hinauftasteten.

»Gordy«, murmelte ich und schmiegte mich eng an ihn. Ich fühlte seine Erregung, das Pulsieren in seinen Lenden, und konnte es kaum erwarten, dass er mich küsste.

»Nein, Elodie, nein.«

Ich konnte nicht glauben, was er da sagte, und ich wollte nicht, dass es schon wieder vorbei war. Sanft legte ich meine Arme um ihn, strich mit der Nasenspitze über seine Brustwarze und schloss schließlich zögernd meine Lippen darum.

Gordy stöhnte und im nächsten Moment ergoß sich ein Schwall warmes Wasser über meinen Kopf. »Hör auf, Elodie, bitte! Ich weiß nicht, was ich tue, wenn du weitermachst.«

»Es ist mir egal, was du tust«, murmelte ich. »Du hast keine Ahnung, wie sehr ich mich danach sehne …«

»Elodie.« Seine Hände fuhren in meine Haare und bogen meinen Kopf zurück. Dann küsste er mich so wild und leidenschaftlich, dass ich das Gefühl hatte, jeden Augenblick zu ertrinken. Ich keuchte und schnappte nach Luft, aber Gordy hörte nicht auf, und mit einem Mal konnte ich dagegenhalten und all das erwidern. Ich küsste ihn zurück, genauso unbändig und wild, und mit jeder Sekunde glaubte ich, mich mehr und mehr in ihm aufzulösen. Wir waren nur noch Hände, Lippen und Herzschlag.

»Komm her«, wisperte Gordy, obwohl ich schon ganz dicht bei ihm war. Wieder glitten seine Hände unter mein T-Shirt, und diesmal zögerte er nicht, jedes Fleckchen meiner nackten Haut zu berühren. Ein wohliges Seufzen glitt zugleich über seine und meine Lippen, und um ihm zu zeigen, dass er genau das Richtige tat, presste ich meinen Unterleib gegen seinen, aber leider bewirkte ich damit genau das Gegenteil dessen, was ich mir erhofft hatte.

Gordys Hände zogen sich zurück. Er küsste ein letztes Mal meinen Mund, dann schob er mich von sich. »Bitte verzeih mir. Ich hatte mich für einen Moment nicht unter Kontrolle.«

»Aber das sollst du doch auch gar nicht!«, rief ich. »Ich will es ja. Ich will es so sehr!«

»Ich hätte dich ertränken können«, sagte er finster. »Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn wir es tatsächlich getan hätten.«

»Gar nichts.« Kopfschüttelnd nahm ich seine Hand und zog ihn zum Bett hinüber. »Außer, dass es wunderschön gewesen wäre.«

»Du irrst dich. Du ahnst ja nicht …«

»Nein, du ahnst nicht«, unterbrach ich ihn. »Ich bin stark. Viel stärker, als du denkst. Du kannst mich nicht töten. Nicht, wenn du mich liebst.«

Zaghaft legte ich ihm meine Hand auf den Rücken. Gordy zuckte unter meiner Berührung zusammen, und ich war schon im Begriff, die Hand wieder zurückzuziehen, da merkte ich, wie sich sein Körper zögernd gegen meine Finger schmiegte.

»Du hast Angst«, flüsterte ich. »Du sehnst dich nach mir und gleichzeitig hast du Angst. Wovor? Dich zu verlieren?«

Gordian schüttelte kaum merklich den Kopf. »Das habe ich ja längst. Mich … meine Vergangenheit und meine Zukunft …«

Er machte Anstalten aufzustehen, doch ich hielt ihn sachte am Arm zurück. »Bitte … Es tut mir leid.«

Er nickte und hielt seinen Blick eine Weile auf den Fußboden gerichtet. Schließlich wandte er sich wieder mir zu und sah mir tief in die Augen.

»Anfangs wollte ich das auch … nur das.« Er schluckte. »Ich wollte es, obwohl ich ahnte, dass ich dich damit töten könnte. Es war ein so viel heftigeres Verlangen als das, das mich früher zu den Nixen getrieben hat … Verstehst du, Elodie, ich war wie von Sinnen, unkontrolliert und voller Gier, als ich dich damals über die Klippen auf mich zulaufen sah.«

»Ja, aber anders als Kyan hast du dich nicht davon leiten lassen«, sagte ich stockend.

»Nein!« Gordy wandte beschämt seinen Blick ab. »Es war mir zuwider«, flüsterte er. »Allerdings konnte ich nicht aufhören, an dich zu denken. Du warst ständig in meinem Kopf … und in meinem Herzen …. Selbst wenn ich mich viele Hundert Meter von der Küste entfernte, vernahm ich die Melodie deiner Gedanken. Ich spürte deine Traurigkeit, deine Furcht, aber auch deinen Mut, der so viel größer war, und dein unerschütterliches Vertrauen ins Leben.«

»Mein … unerschütterliches Vertrauen?«, flüsterte ich ungläubig.

»Ja, Elodie.« Ein zaghaftes Lächeln umspielte Gordians Mundwinkel. »Es ist schon ziemlich außergewöhnlich, wenn jemand, der eine solche Angst vor dem Meer hat, ausgerechnet auf diese kleine Insel kommt, findest du nicht?«

»Dann wusstest du also von Anfang an, dass ich mich vor Wasser fürchte!«

»Nein.« Sanft schob er seine Hände in meine. »Ich habe nie etwas Konkretes empfangen, sondern nur eine unbestimmte Furcht wahrgenommen.« Wieder senkte er den Blick. »Irgendetwas an dir hat mich tief berührt«, fuhr er leise fort. »Wenn ich nachts dort unten auf den Klippen lag und zu deinem Fenster hinaufsah, konnte ich vergessen, dass ich ein Plonx war.«

Augenblicklich schnellte mein Puls in die Höhe. Ich wollte etwas erwidern, doch Gordy ließ mich nicht zu Wort kommen.

»Und jetzt, Elodie …«, er hatte sich wieder mir zugewandt und sah mir fest in die Augen, »jetzt ist mein Verlangen nach dir immer noch da. Ich spüre es bei jedem Blick und jeder Berührung von dir. Doch das ist gar nichts gegen das Glück, das ich empfinde … einfach nur … weil es dich gibt.«

Um kurz vor sechs rief Tante Grace mich zum Essen herunter und beklagte sich ausgiebig darüber, dass Gordian nicht von ihrer Seebrasse kosten wollte.

»Das hätte er sicher gern, aber er ist schwimmen gegangen«, versuchte ich, sie zu besänftigen, was mir nicht leichtfiel, denn Gordys Worte hatten mich sehr aufgewühlt. »Abends trainiert er am liebsten, und es ist alles andere als gut, sich vorher den Bauch vollzuschlagen. Wir haben heute Mittag in Port gegessen «, schwindelte ich hastig weiter, als ich die kritische Miene meiner Großtante registrierte. »Er wird schon nicht verhungern. Schließlich hat er einen Kühlschrank und eine Kochgelegenheit in seinem Zimmer.«

»Dann hat er sich also etwas besorgt?«

Ich faltete die blütenweiße Serviette auseinander und legte sie auf meinen Schoß. Danach nahm ich das Fischbesteck auf und nickte. »Meistens isst er am späten Nachmittag noch Joghurt mit Haferflocken.«

Tante Grace schüttelte missbilligend den Kopf, und ihre silbernen Ohrgehänge klimperten, als sie sich auf ihrem Stuhl niederließ. »Hm, klingt gesund.«

»Es ist proteinreich.«

»Das ist Seebrasse erst recht«, hielt sie dagegen.

»Keine Sorge«, sagte ich. »Gordian isst viel Fisch. Eigentlich fast nur.«

»Wovon lebt er überhaupt?«, fragte Tante Grace. »Ich meine: Wie verdient er sein Geld? Hat er reiche Eltern?«

»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte ich, während ich ein wenig von dem zarten weißen Fischfleisch abtrennte und auf meine Gabel schob. »Er hat Sponsoren.« – Wie gut, dass mir das so schnell eingefallen war!

»Aha«, sagte Tante Grace, und ich konnte beim besten Willen nicht heraushören, ob sie mir das abnahm oder nicht. »Dann steht der junge Mann wohl unter einem enormen Druck.«

»War das eine Frage oder eine Feststellung?«

Sie warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu, ehe sie sich dem Fisch auf ihrem Teller widmete. »Beides.«

»Du brauchst dir wirklich keine Sorgen um ihn zu machen«, betonte ich noch einmal, in der Hoffnung, sie damit endgültig beruhigen zu können.

»Das tue ich auch nicht«, entgegnete sie. »Ich mache mir Sorgen um dich.« Sie ließ ihr Besteck sinken und hielt ihre Augen so lange auf mich gerichtet, bis ich sie ebenfalls ansah. »In der kurzen Zeit, in der du hier bist, hast du dich völlig verändert.«

Vielleicht wäre es klug gewesen zu fragen, wie sie das meinte, denn das hätte sicher weniger trotzig gewirkt, stattdessen ging ich in die Offensive und knurrte: »Das war doch der Sinn der Sache, oder nicht?«

»Nicht unbedingt«, sagte meine Großtante. »Es sollte dir helfen, den Verlust deines Vaters zu verarbeiten und deinen Weg zu finden.«

»Ich bin gerade dabei«, versicherte ich, wich ihrem Blick aus und probierte endlich ein wenig von der Seebrasse, die zu meiner Überraschung richtig gut schmeckte.

»Ich habe eher den Eindruck, dass du auf der Flucht bist«, erwiderte Tante Grace mit einer Beiläufigkeit, die mich instinktiv in Alarmbereitschaft versetzte. »Ich habe bereits mit deiner Mutter darüber gesprochen«, fuhr sie fort. »Und erstaunlicherweise ist sie mit mir einer Meinung, dass du zukünftig gewisse Auflagen erfüllen musst, wenn du weiter hierbleiben willst.«

»Es geht jetzt aber nicht um Gordian, oder?«, platzte ich heraus und diese Reaktion entlockte meiner Großtante ein Lächeln.

»Du bist wirklich sehr verliebt, habe ich recht?«

Damit ich nicht antworten musste, schob ich mir rasch eine weitere Portion vom Fisch in den Mund, verdrehte genüsslich die Augen und sparte nicht an Lob.

»Ich weiß selbst, dass dieses Mahl gut gelungen ist«, brummte Tante Grace. »Davon abgesehen, habe ich dein Bezirze und deine Ablenkungsmanöver längst durchschaut. Schließlich bin ich nicht auf den Kopf gefallen«, fügte sie nachdrücklich hinzu.

»Okay.« Ich holte tief Luft. »Und was sind nun diese gewissen Auflagen?«

»Du wirst nicht weiter in den Tag hineinleben, sondern etwas tun.«

»Fein«, sagte ich munter. »Ich helfe dir im Garten. So wie es abgesprochen war.«

»Leider hast du diese Vereinbarung bisher so gut wie ignoriert «, entgegnete sie. »Ich bin also davon ausgegangen, dass dich diese Arbeit nicht interessiert, und habe dir vorerst einen Job in einer Schmuckwerkstatt besorgt. Die Inhaberin heißt Jane und ist eine gute Freundin von mir.«

»Na super«, grummelte ich. »Und was soll ich da machen?«

Meine handwerkliche Begabung war nämlich sozusagen legendär, insbesondere, wenn es um Feinarbeit ging.

»Jane richtet ihren Laden gerade neu ein und braucht jemanden, der ihr beim Umräumen und später beim Verkaufen hilft. Außerdem kannst du dort eine Menge über die alten Silberminen erfahren und vielleicht sogar ein paar eigene Schmuckstücke kreieren. Die Werkstatt ist leicht mit dem Fahrrad zu erreichen und du wirst vorerst täglich von elf bis vierzehn Uhr dort aushelfen.«

»Was? Auch samstags und sonntags?«, rief ich empört.

»Gerade dann«, sagte Tante Grace gleichmütig. »Am Wochenende ist der kleine Laden in aller Regel nämlich besonders gut besucht.«

»Aber …«

»Kein Aber«, unterbrach sie mich. »Morgen geht es los.«

Ich schluckte meine Entrüstung hinunter. Im Grunde hatte ich ja überhaupt nichts dagegen, etwas zu tun. Mein Problem war, dass ich dann von Gordian getrennt war, dafür würde meine Großtante jedoch ohne Zweifel überhaupt kein Verständnis aufbringen – mal ganz abgesehen davon, dass sie ohnehin keine Ahnung hatte, was sich in meinem Apartment beziehungsweise ihrem Haus tatsächlich abspielte. Außerdem konnte ich mir ungefähr vorstellen, was Gordy dazu sagen würde: »Wie soll ich denn so auf dich aufpassen?«

»Och, das brauchst du nicht«, könnte ich natürlich lässig erwidern. »Was soll mir in dieser Schmuckwerkstatt schon groß passieren!«

»Haie haben überall freien Zutritt«, hörte ich ihn einwenden. »Und was Cyril betrifft: Ich sagte ja bereits, dass ich nicht ausschließen kann, dass er außergewöhnliche telekinetische Fähigkeiten besitzt. Womöglich kann er Gebäude in Luft auflösen oder sogar Menschen mit seiner Gedankenkraft ins Meer werfen und ertränken.«

»Das ist doch alles Unsinn«, mischte Sina sich ein. »So etwas gibt es nur in Romanen.«

Ich sah Tante Grace an und konnte wieder nur seufzen.

»Was ist?«, fragte sie spitz. »Schmeckt dir die Brasse etwa nicht mehr?«

»Doch, doch. Ich wüsste nur gerne, ob das die einzige Auflage ist.«

»Nein. Ich möchte, dass du ab sofort zweimal in der Woche mit deiner Mutter telefonierst.«

Ich verdrehte die Augen. »Wieso denn das?«

»Damit du nicht vergisst, wo du zu Hause bist.«

»Das tue ich schon nicht«, sagte ich leise.

Die Worte meiner Großtante machten mich wütend, aber sie schnitten mir auch ins Herz. Wie konnte sie denken, dass ich Mam einfach so vergessen würde! Sie und Sina und alle meine Freunde. Ich wusste nur nicht, worüber ich mit ihnen reden sollte. Im Gegensatz zu dem, was ich hier auf Guernsey erlebte, kam mir das, womit andere Menschen sich auseinandersetzten, inzwischen ziemlich banal vor. Natürlich war es nicht so, dass ich kein Empfinden mehr für die Dinge des sogenannten normalen Lebens hatte, es interessierte mich durchaus, was Sina oder meine Mutter bewegte, der Knackpunkt war nur: Ich konnte ihnen diesbezüglich nichts zurückgeben. Trotzdem war es sicher nicht verkehrt, ein bisschen mehr Kontakt zu halten. Es musste ja vielleicht nicht unbedingt zweimal die Woche sein.

»Du hast recht«, lenkte ich also ein. »Ich rufe sie viel zu selten an. Morgen …«

»Heute!«, fiel Tante Grace mir scharf ins Wort.

»Aber morgen könnte ich ihr gleich von meinem neuen Job berichten«, wandte ich ein.

»Das kannst du in drei Tagen sogar noch viel besser«, hielt meine Großtante beharrlich dagegen. »Heute wirst du ihr erst einmal von deinem Gordian erzählen.«