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Die erste Zeit ließ Mam mich in Ruhe. Ich durfte in der Höhle unter meiner Decke bleiben. Nur ganz selten wurde sie zurückgeschlagen, und dann sah ich aus der Tiefe meines inneren Verstecks in Rafaela Sallers Gesicht, das besorgt auf mich herabblickte.

»Ich habe dir ein Sandwich gemacht«, sagte meine Mutter meistens. »Und eine neue Flasche Mineralwasser hingestellt. Es ist wichtig, dass du etwas trinkst«

»Danke«, hörte ich mich antworten. Inzwischen funktionierte meine Stimme sehr gut ohne mich.

Als wäre ich ferngesteuert, hangelte ich mich von Stunde zu Stunde, wie durch eine Watteschicht von der Welt da draußen abgetrennt.

Auf diese Weise vergingen einige Tage und Nächte, und ich bekam es irgendwie hin, an nichts zu denken. Ich hatte das Gefühl, immer kleiner und unwichtiger zu werden, zu unwichtig, um Schmerzen zu empfinden oder überhaupt etwas zu spüren. Gleichzeitig schien mein Körper zu wachsen. Er wurde größer und stärker und bekam eine harte, undurchlässige Außenhaut, die mich schützte und nichts hindurchließ, was mir vielleicht doch noch etwas anhaben konnte.

Allmählich fühlte ich mich sicher. Ich hatte meinen Platz gefunden.

»Elodie, so geht es nicht weiter.« Mams Stimme drang bereits in meine Ohren, bevor sie die Decke zurückgeschlagen hatte. »Das Wetter ist fantastisch. Und Sina hat schon mindestens eine Million mal angerufen.«

Ich hörte, wie sie die Gardine aufzog, drei Sekunden später blinzelte ich ins Sonnenlicht.

»Sie würde gern mit dir in die Stadt gehen«, sagte meine Mutter.

Ich kniff die Augen zusammen und streckte stöhnend den Arm nach meiner Bettdecke aus, die sie in der Hand hielt. »Ich kann noch nicht raus«, erwiderte ich matt. »Sie soll vorbeikommen. «

Mam lächelte. »Auch gut. Dann ruf sie am besten gleich an. Ich bereite ein schönes Frühstück für euch, derweil gehst du unter die Dusche und …«

»Was? Ich soll sie anrufen?«

»Wer denn sonst?«, entgegnete sie kopfschüttelnd, während sie den Reißverschluss des Bettbezugs öffnete. »Ich habe in den letzten fünf Tagen wirklich oft genug mit ihr gesprochen.«

»He, was machst du denn da?«, protestierte ich. »Gib mir meine Decke zurück! Wenn Sina sich noch mal meldet, kannst du ihr ja sagen, dass …«

»Kommt überhaupt nicht infrage«, fiel meine Mutter mir ins Wort. Mit einem Ruck streifte sie den Bezug herunter und ließ ihn auf den Boden fallen. »Ich verstehe ja, dass du Liebeskummer hast, aber allmählich wird es Zeit, dass du ins Leben zurückkehrst.«

Ich. Habe. Keinen. Liebeskummer.

Ich. Will. Einfach. Nur. Meine. Ruhe.

»Dein Bettzeug ist völlig verschwitzt, das Zimmer muss dringend gelüftet werden und du duftest auch nicht gerade nach Chanel Nummer neunzehn.« Mam fasste mich am Arm und zog mich sanft, aber bestimmt zur Bettkante. »So kannst du nicht einmal deine beste Freundin empfangen.«

Ich wollte mich wehren, aber ich spürte, dass das keinen Sinn hatte. Es kostete mich einfach zu viel Energie.

»Schon gut«, murmelte ich, richtete mich taumelnd auf und tappte langsam aus dem Zimmer.

»Warte, Elodie, ich komme lieber mit.« Mit wenigen Schritten war meine Mutter bei mir. »Nicht, dass du mir noch zusammenbrichst. «

Sie machte Anstalten, mich unterzufassen, doch ich entwand mich ihrem Griff. Ich wollte nicht, dass sie mich berührte. Ich wollte nicht, dass mich überhaupt jemand berührte.

»Das tu ich schon nicht«, brummte ich und lief weiter den Flur entlang in Richtung Bad.

Meine Muskeln fühlten sich schlapp an, aber sie funktionierten.

Ich würde Mam den Gefallen tun und duschen, etwas essen und mit Sina reden – bestimmt hatte sie jede Menge von der Schule zu erzählen, sodass ich vielleicht gar nicht viel zu sagen brauchte – und danach dann wieder in meine Höhle zurückkriechen.

Doch meine Mutter hatte sich offenbar vorgenommen, mich nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Jedenfalls blieb sie mir dicht auf den Fersen, schlüpfte gleich hinter mir durch die Tür und ließ sich auf den Klodeckel sinken.

Ich versuchte, sie nicht zu beachten, zog den Schlafanzug aus und trat in die offene Dusche. Der Hebel stand ganz links, also auf kalt. Ich drehte das Wasser auf und stellte mich, ohne mit der Wimper zu zucken, darunter.

»Alles okay?«, fragte Mam.

Ich antwortete nicht, sondern schloss die Augen und ließ das Wasser auf meine Stirn prasseln. Ich spürte die Kälte, aber ich empfand sie nicht als unangenehm. Im Gegenteil, sie war eine Wohltat für meine brennende Haut. Mein Körper schrie geradezu danach, eine Nixe zu sein, doch ich ignorierte seinen Ruf. Weder die Nixe würden mich kriegen noch die Menschen. Ich gehörte zu niemandem mehr und nie wieder würde irgendjemand mein Herz berühren.

»Wolltest du nicht Frühstück machen?«, fragte ich.

»Eigentlich schon.« Meine Mutter erhob sich vom Klodeckel, lehnte sich gegen das Waschbecken und musterte mich. »Wenn es dir wirklich gut geht …?«

»Kein Problem«, sagte ich, drückte etwas Waschgel aus der Flasche und begann, mich einzuseifen. Meine Haut war schon ganz rot vor Kälte.

Mam sah mich schweigend an. Ich spürte, dass sie die ganze Zeit irgendwie unter Strom stand, trotzdem dauerte es länger, als ich gedacht hatte, bis sie merkte, dass ich kein heißes Wasser dazugemischt hatte, aber da flippte sie dann endgültig aus.

»Sag mal, spinnst du jetzt total, oder was!«, schrie sie und rutschte fast auf den nassen Fliesen aus, als sie an mir vorbeigriff und den Wasserhahn abstellte.

Sie zerrte das große violette Handtuch aus dem Regal, das ich früher so gemocht hatte, und schlang es mir um die Schultern.

»Was zum Teufel ist eigentlich los mit dir?«, stieß sie hervor, während sie wie eine Blöde mit dem Handtuch an mir herumrubbelte. »Es ist doch nicht mehr normal, wie du dich verhältst!«

Ich bin ja auch nicht normal.

Ich bin eine Halbnixe. Eine Hainixe.

Und die ist gefährlich. – Richtig gefährlich.

Wie eine heiße Flamme kochte die Wut in mir hoch. Sie loderte in meinem Becken, raste meine Wirbelsäule hinauf und explodierte in meiner Kehle.

»Raus!«, brüllte ich. »RAUS!!!«

Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, Elodie, nein. Ich lasse es nicht zu, dass du dich noch weiter in dich zurückziehst.«

»ABER DAS TUE ICH DOCH GAR NICHT!«, schrie ich. »ODER HÖRST DU ETWA NICHT, WIE PRÄSENT ICH GERADE BIN?«

Mam zuckte richtig zusammen. Ihr Gesicht war aschfahl geworden, und ihre Lider flatterten wie bei einem kleinen Kind, das ausgeschimpft wird. Und plötzlich fühlte ich mich stark, unendlich stark.

Meine Außenhülle wurde dicker. Fester. Härter.

Ich war so mächtig.

Niemand hatte mir etwas zu befehlen.

Ich tat nur noch das, was ICH wollte.

»Raus hier«, sagte ich leise. »Lass mich endlich in Ruhe.«

»Nein.« Meine Mutter verschränkte die Arme vor ihrer Brust und blickte mir fest in die Augen. »Ich lasse dich erst allein, wenn du dich beruhigt hast.«

»Das habe ich«, erwiderte ich. »So ruhig wie im Moment war ich noch nie. Und jetzt raus, sonst schlage ich alles kurz und klein.«

Mam reagierte nicht, sondern stand einfach nur da.

Also fing ich an.

Nachdem ich alle Handtücher aus dem Regal gerissen, die Konsole unter dem Spiegel abgeräumt und mit Haarbürsten und Zahnputzbechern um mich geworfen hatte, wurde meiner Mutter das Ganze dann offenbar doch zu unheimlich. Mit schützend über den Kopf geworfenen Armen flüchtete sie aus dem Badezimmer.

Ich schlug die Tür hinter ihr zu, drehte den Schlüssel um und ließ mich zu Boden gleiten.

Endlich wieder allein. Endlich. Endlich. Endlich.

Aber meine Mutter ließ sich nicht ausblenden.

Ich hörte ihre Stimme im Flur, wie sie jemandem unsere Adresse durchgab und mit knappen atemlosen Sätzen erklärte, dass ihre Tochter gerade durchdrehte.

Danach kam sie wieder zurück und tippte gegen die Tür.

»Elodie, Schatz, ich habe den Notarzt gerufen. Sie haben mir gesagt, dass ich dich auf keinen Fall unbeaufsichtigt lassen darf.«

Ich antwortete nicht, wollte wieder in meinem Versteck verschwinden und ganz klein und unwichtig werden. Aber das war gar nicht so einfach.

»Elodie, bitte hör mir zu!«

Tu ich doch.

Ich summte leise, während ich mich erhob, langsam hin und her lief und schließlich vor dem Spiegel stehen blieb. Eine Fremde blickte mir daraus entgegen.

»Je nachdem … Elodie«, sagte meine Mutter. »Es könnte sein, dass der Arzt dich mit in die Klinik nimmt.«

Ja, ich weiß.

Es war mir völlig egal, wo mein Körper sich befand, wer mir zu essen und zu trinken gab und ob ich mich mit jemandem unterhalten musste. Meinetwegen sollten sie mich doch bis zum Scheitel mit Medikamenten vollpumpen!

Ich hörte die Klingel und nur wenige Augenblicke später schlug die Tür krachend auf und zwei Leute in Orange stürmten zu mir ins Bad.

»Es tut mir so leid«, sagte Mam später, als ich wieder in meinem Bett lag und der Arzt, der mir eine Injektion verpasst hatte, wahrscheinlich längst bei seinem nächsten Notfall war.

»Wieso haben die mich nicht mitgenommen?«

»Weil ich versprochen habe, auf dich aufzupassen. Es war allerdings nicht ganz leicht, sie davon zu überzeugen, dass du dir nichts antun würdest.«

Meine Mutter saß auf der Bettkante und betrachtete aufmerksam mein Gesicht.

»Es tut mir wirklich leid, Elodie«, wiederholte sie nach einer Weile. »Es tut mir leid, dass es mir nicht gelungen ist, dich und deine Gefühle ernst zu nehmen. Ich habe es versucht … Ich habe es ganz ehrlich versucht, aber …«

Ich erwiderte ihren Blick und sah, dass sie geweint hatte. Ihr Schmerz war offensichtlich, aber ich ließ ihn nicht an mich heran.

Schließlich senkte sie die Lider und strich wie beiläufig mit den Fingerspitzen über meine Bettdecke. »Ich habe Sina gesagt, dass sie warten soll, bis du dich bei ihr meldest.«

»Ich bin müde«, sagte ich und schloss die Augen.

Es war dunkel und es war laut, und zuerst begriff ich nicht, woher dieser schreckliche, dröhnende Lärm kam, aber nach ein paar Sekunden der Orientierung wurde mir klar, dass er von oben über mich hereinbrach. Riesige Containerschiffe zerschnitten die Wasseroberfläche. Es waren viele, sehr viele. Ihre mächtigen Schiffsschrauben wühlten das Meer auf. Irgendwo explodierten Gassuchkanonen, eine stinkende giftgelbe Flüssigkeit ergoss sich in die See, und pechschwarze Vögel, die nicht mehr fliegen konnten, trieben mit starr zum Himmel gerichteten Augen auf die Strände zu.

Überall waren riesige Netze ausgelegt, die dem Meer die wenigen noch verbliebenen Fische zu nehmen versuchten. Auch Haie und Delfine hatten sich darin verfangen. Die dünnen Schnüre rieben über ihre Leiber und rissen die verletzliche Außenhülle auf.

Ihre Schmerzensschreie vermischten sich mit dem Lärm der Schiffsmotoren und waren kaum zu ertragen. Die Delfinnixe erstickten langsam. Die Hainixe jedoch erwartete ein weitaus schlimmeres Ende. Diejenigen von ihnen, die nicht ihr Bewusstsein verloren, starben einen nicht enden wollenden qualvollen Tod.

Ich wusste, dass ich das alles nicht ertrug, also wandte ich mich ab und verkroch mich in meine Höhle, wo ich vergessen konnte. Dort hockte ich und wartete, bis mein Gedächtnis sich aufgelöst hatte und nichts als ein weißes Rauschen übrig geblieben war.

Ich kannte keine Jane und keinen Javen Spinx, weder Ruby noch Ashton, nicht einmal Tante Grace.

Auf den Kanalinseln war ich nie gewesen.

Noch nie hatte ich von jemandem gehört, der Cyril hieß.

Und auch an den wunderschönen Jungen mit den goldenen Locken und den türkisfarbenen Augen, der auf der Suche nach seiner Bestimmung in den Tiefen des Atlantischen Ozeans verschwand, wollte ich mich mit keiner Zelle meines Körpers erinnern.