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»Sie sind wundervoll«, sagte Gordy. »Die besten Freunde, die man sich vorstellen kann.«

Wir hockten Schulter an Schulter auf dem Bett und blickten versonnen in den Abendhimmel. Neben uns stand ein Teller voller belegter Brote, die Tante Grace für uns gemacht hatte. Ich hatte nur eins davon gegessen, mehr bekam ich nicht runter. Meine Seele war übervoll und das wirkte sich auch auf meinen Appetit aus.

»Ja, das sind sie«, erwiderte ich seufzend. »Ruby ist …«

»Zauberhaft.«

»Oh, sie kann auch eine Nervensäge sein«, sagte ich. »Eine liebenswerte allerdings.«

»So wie Idis.«

Ich nickte und schwieg. Ein bisschen beneidete ich Gordy darum, dass er eine Schwester hatte. Ich hätte auch gerne eine gehabt. Und einen Bruder. Eine richtige Familie eben. Aber dazu hätte dann natürlich auch Pa gehört.

Eine tiefe Traurigkeit nahm mein Herz in Besitz und legte sich wie ein grauer Nebelschleier über mein Gemüt. Ich wollte aber nicht ausgerechnet jetzt, in dieser ersten langen gemeinsamen Nacht, über meinen Vater reden.

»Weißt du, sie hat einen jüngeren Bruder«, sagte ich leise. »Er ist sehr krank. Und Ruby … sie fühlt sich schuldig.«

»Warum?«

»Sie hat ihn mit nach Lihou Island hinübergenommen. Er wäre auf dem Weg dorthin fast ertrunken.«

Gordy atmete geräuschvoll aus. Ich ahnte, was ihm in diesem Moment durch den Kopf ging, und rechnete fest damit, dass er mir hier und jetzt das Versprechen abringen würde, dass ich mich nie wieder in eine solche Gefahr begab wie heute Morgen. Doch er schwieg, und ich nutzte die Gelegenheit, um auf unsere Freunde zurückzukommen.

»Ashton ist …«

»… so wie ich?«, fragte Gordy.

Ich sah ihn überrascht an. Aber er hatte ja recht. »Irgendwie schon. Zumindest ist er ähnlich besonders wie du.« Das hatte Ashton selber mal gesagt. »Nicht alle Menschen mögen ihn.«

»Ich schon«, entgegnete Gordy.

Ich stupste ihn an. »Du bist ja auch kein Mensch.«

»Ich mag ihn sehr«, betonte er mit ernster Miene. »Und ich bin froh, dass ich ihn getroffen habe.«

»Ihn und Ruby …«

»Ja …«

»Und mich …«

»Jaaa …«

Gordian strich mir eine Locke aus dem Gesicht und schob sie sanft hinter mein Ohr. Mit dem Daumen fuhr er mir über die Brauen, den Nasenrücken und schließlich über die Unterlippe. Dem Daumen folgte sein Mund, sanft küssend drückte er mich in die Kissen hinunter und legte sich über mich. Das Blut pulsierte mir heiß den Nacken hinauf und hinunter, und obwohl ich in diesem Moment nichts mehr wollte, als ihn zu küssen, fiel mir idiotischerweise ausgerechnet jetzt der Teller mit den Broten ein.

»Gordy, warte mal … wir müssen erst …«

»Was?«

»Die Brote …«

Er verzog das Gesicht. »Ich will deine Großtante ja nicht beleidigen, aber ich möchte keine Brote. Diese Mahlzeit heute Mittag …«

»Ja, ich weiß, es war sehr tapfer von dir, alles aufzuessen.«

»Dieses komische warme Dings …«

»Das war eine Quiche.«

»Mir egal, wie es heißt«, murmelte er, während er weiter meine Lippen liebkoste.

»Nein, Gordy, hör zu«, sagte ich energisch. »Es ist wichtig, dass du solche Dinge benennen kannst. Tante Grace ist eine leidenschaftliche Köchin. Wenn sie den Eindruck hat, dass du ihr Essen nicht magst, dich nicht einmal dafür interessierst …«

»… schmeißt sie mich raus?«

»Na ja, das vielleicht nicht«, erwiderte ich. »Aber …«

»Es wäre doch vollkommen egal, Elodie«, unterbrach er mich. »Ob ich nun nebenan im Gästehaus wohne oder unten zwischen den Klippen, ich werde ohnehin die ganze Zeit über in diesem Apartment sein. Und während du unten in der Küche etwas isst, warte ich hier auf dich.«

»Und verhungerst.«

»Unsinn«, sagte Gordy. »Ich werde weiter auf die Jagd gehen.«

Ich schluckte. »Und mich hier oben allein lassen?«

Er schüttelte empört den Kopf. »Was denkst du nur? Natürlich werde ich das nicht tun.«

»Ja, aber …« Die Erinnerung an die letzte Nacht nahm mich gefangen, doch noch ehe ich etwas einwenden konnte, lächelte Gordian sein ganz spezielles Lächeln und zerstreute so meine aufkeimende Panik.

»Ich verlege die Jagd in die Abendstunden nach Sonnenuntergang. Das ist zwar ein wenig mühseliger, aber ich werde mich schon daran gewöhnen. Du leistest derweil deiner Großtante Gesellschaft, das wird ihr gefallen. Und hin und wieder können bestimmt auch Ruby und Ashton hier sein und auf dich aufpassen. Ich bin sicher, sie werden das nicht ablehnen, wenn wir sie darum bitten.«

Das klang gut. Das klang sogar sehr gut!

Leidenschaftlich schlang ich meine Arme um Gordians Nacken und drückte meinen Mund auf seine Lippen.

»Hey, hey, hey«, meinte er grinsend. »Wolltest du nicht erst mal diese Brote wegstellen?«

»Wegstellen reicht nicht«, entgegnete ich. »Wir müssen sie verschwinden lassen.« Sanft, aber bestimmt schob ich ihn von mir weg, ergriff den Teller und schlüpfte aus dem Bett.

Ich huschte zur Küchenzeile hinüber, nahm einen Müllbeutel aus der Schublade und legte die Brote hinein. Anschließend knotete ich ihn fest zu und deponierte ihn im Gemüsefach des Kühlschranks. »Du könntest es an die Fische verfüttern«, schlug ich vor. »Vielleicht lassen sie sich dann besser fangen.«

»Ihr Menschen habt ulkige Einfälle«, sagte Gordy. Wieder schüttelte er den Kopf und sah mich jetzt äußerst ernst, beinahe vorwurfsvoll an. »Ihr hängt Würmer an einer Schnur ins Wasser und legt riesige Netze ins Meer, manchmal schmeißt ihr sogar warmes Essen und Brote nach Möwen.«

»Wir sind eben sehr viele«, erwiderte ich stockend. »Und wir bekommen längst nicht alle satt.«

»Und deshalb schmeißt ihr Essen nach Möwen?«, fragte er verwundert.

»Nein«, sagte ich leise, während ich ins Bett zurückkroch. »Wir tun es, weil wir sie füttern wollen. Einfach so. Wir essen sie gar nicht.«

»Ihr füttert Möwen und lasst Menschen verhungern?«

Ja, Gordy, dachte ich schuldbewusst, schnappte mir die Bettdecke und wickelte mich darin ein. Wir tun eine Menge schreckliche Dinge.

»Wie kommt es eigentlich, dass ihr so viel über uns wisst?«, fragte ich, nachdem ich eine Weile gedankenverloren vor mich hingestarrt hatte.

»Wie kommt es, dass du dich in Bettzeug versteckst?«, erwiderte er belustigt und zog mich zu sich herüber.

»Ich fühle mich manchmal so … so … unwert«, murmelte ich beklommen.

»Und deshalb verkriechst du dich in Bettzeug?« In Gordys türkisfarbenen Augen blitzte es übermütig.

»Das ist nicht lustig«, sagte ich.

»Stimmt, das ist es nicht. Aber du bist nicht unwert, Elodie. Du nicht«, wisperte er an meinem Ohr. »Und Ashton und Ruby sind es auch nicht.«

»Na ja, zumindest versuchen wir, alles richtig zu machen. Vielleicht reicht das ja schon.«

Gordy zog mich nun ganz in seine Arme und wir lagen eine Weile still beieinander. Inzwischen war es beinahe dunkel im Zimmer. Der Himmel draußen hatte sich wieder zugezogen, nur hier und da blitzte ein Stern oder ein Teil der Mondsichel zwischen den Wolken hervor. Gordys Haare kitzelten mich an der Stirn. Ich atmete seinen Duft und betrachtete sein Profil, das sich unwirklich von der Dunkelheit abhob.

»Wir sind Delfine«, sagte er plötzlich. »Wir können unter Wasser nicht atmen.«

»Aber ihr seid Nixe.«

»Ja, und wir haben gelernt, länger ohne Sauerstoff auszukommen als unsere tierischen Freunde. Wir können viele Meilen zurücklegen, bevor wir zum Luftschnappen an die Oberfläche steigen müssen. Und dabei kommen wir euch oft sehr nahe, ohne dass ihr es bemerkt. Menschen lieben Delfine. Sie freuen sich, wenn sie uns sehen, und lassen uns dicht an sich herankommen. Außerdem ist unser Gehör sehr gut, wie du weißt.«

»Die Menschen halten euch für Delfine«, sagte ich. »Sie können euch von den Tieren nicht unterscheiden.«

Gordy schwieg. »Aber du kannst es«, flüsterte er schließlich. »Du hast Idis gesehen.«

Ich schluckte. Ja, das hatte ich. Es war wie ein Wunder gewesen.

»Vielleicht ist es ein Zeichen«, murmelte ich. »Dafür, dass wir in Wahrheit zusammengehören.«

Gordian drehte sich auf die Seite, wandte mir sein Gesicht zu und küsste mich unterhalb des Ohrläppchens. »Aber das war uns doch längst klar.«

»Ich meinte eigentlich, wir alle«, sagte ich. »Die Menschen und die Nixe.«

Ebenso wie die Nixenarten untereinander, fügte ich im Stillen hinzu. Was für ein seltsamer, aber schöner Gedanke …

Nur einen Atemzug später blitzte Cyrils dunkler, hasserfüllter Blick vor mir auf und ich spürte einen schneidenden Schmerz in der Brust.

Als ich die Augen aufschlug, war es hell im Zimmer. Gordy lag neben mir, das Gesicht in meinem Haar, einen Arm in meinem Nacken, den anderen um meinen Bauch geschlungen.

»Hey«, sagte er leise.

»Du bist wach?«

»Das bin ich immer«, erwiderte er, zog den Arm unter mir weg und stützte sich auf. »Zumindest mit einer Hälfte meines Gehirns.«

»Soll das heißen, du schläfst nicht?«, fragte ich verblüfft.

»Na ja, zumindest nie ganz«, war seine Antwort. »Es ist so wie bei den echten Delfinen auch. Würden sie schlafen wie du, würden sie ertrinken.«

»Du bist also wach und gleichzeitig schläfst du?«, resümierte ich zweifelnd. »Wie machst du das?«

»Ein Auge offen, das andere zu«, sagte Gordy zwinkernd.

»Im Ernst?«, rief ich entsetzt. Bei aller Schönheit, aber diese Vorstellung war einfach zu gruselig!

»Ja, im Ernst«, sagte Gordian und lächelte verschmitzt. »Möchtest du, dass ich es dir vormache?«

»Nein, bitte nicht!«

»Es ist aber ganz praktisch«, meinte er und küsste mich auf die Nase. »Denn ich habe auch stets ein Ohr gespitzt. Wenn deine Großtante die Treppe heraufkäme, würde ich sie hören, ehe sie die Tür geöffnet hat. Es ist also gar nicht schlimm, dass du vergessen hast, sie abzuschließen.«

Ein Schreck fuhr mir durch die Glieder. »Wir sind einfach eingeschlafen!«, rief ich. »Noch dazu in unseren Klamotten.« Ich wollte aufspringen, doch Gordy hielt mich fest.

»Was hast du denn?«

»Ich fühle mich schrecklich«, sagte ich. »Klebrig und verschwitzt. Du etwa nicht?«

Ein Grinsen zupfte an seinen Mundwinkeln. »Nein.«

»Na klar«, erwiderte ich. »Delfine schwitzen wahrscheinlich überhaupt nicht. Wozu auch?«

»Genau …« Lächelnd strich er über die sensiblen Stellen zwischen meinen Fingern. »Wir sind schon seltsame Wesen. Wenn wir an Land kommen, haben wir Saughäute in den Handflächen und an den Fußsohlen. Wir können mühelos Steilküsten und Steinmauern erklimmen.«

»Das ist in der Tat seltsam«, murmelte ich.

»Stammt nicht alles Leben ursprünglich aus dem Meer?«, fragte er. »Ich meine zumindest, irgendwann mal so etwas aufgeschnappt zu haben.«

»Ja«, sagte ich, »aber das ist Millionen von Jahren her.«

»Und wenn schon. Irgendwie müssen die Tiere, aus denen ihr Menschen euch später entwickelt habt, damals schließlich auch an Land gekrabbelt sein.«

»Und ich muss jetzt ins Bad«, sagte ich entschieden und versuchte, mich von ihm zu lösen.

»Nein, musst du nicht.« Er verstärkte seinen Griff. »Bleib hier«, bettelte er leise.

»Gordy!«, stöhnte ich. »Es dauert doch nur ein paar Minuten. Du könntest natürlich auch mitkommen«, fügte ich provozierend hinzu. »Aber du willst mich ja nicht nackt sehen.«

»Du irrst dich«, sagte er mit dunkler, samtweicher Stimme. »Ich will es schon.« Er zog mich dicht zu sich heran und legte sich über mich, klemmte meine Beine zwischen seine und vergrub seine Hände in meinen Haaren. In seinen Augen lag ein Ausdruck von wildem, ungezähmtem Verlangen. »Und wie ich es will.«

Mein Herz raste los, und als er mich zu küssen begann, spürte ich meinen Pulsschlag heiß durch meinen Körper rasen. Gordy hielt mich so fest umklammert, dass ich mich nicht bewegen konnte, ich war nicht einmal in der Lage, den kleinen Finger zu rühren.

Sein Kuss war intensiv wie kein anderer zuvor. Seine Lippen schienen mit meinen zu verschmelzen, und ich glaubte, die Berührung seiner Zunge bis in meine Zehen hinunter zu spüren.

Meine Fußknöchel fingen an zu brennen, und ich dachte, das war es jetzt, Cyril hatte recht, gleich wird Gordy mich ertränken.

Und mit einem Mal war ich ganz ruhig. Ich liebte Gordy. Ich liebte ihn mehr als mein eigenes Leben. Sterben musste ich sowieso, früher oder später … Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als durch seinen Kuss über diese Grenze getragen zu werden.

Doch natürlich tötete Gordy mich nicht. Er hörte auf, mich zu küssen, und senkte seinen Blick tief in meine Augen. Seine Iris war so hell wie das Wasser in einer von Sonnenstrahlen durchfluteten Meeresbucht.

»Hattest du Angst?«, fragte er leise.

Ich schluckte schwer. »Nein.«

»Aber ich bin so viel stärker als du.«

Es klang verzweifelt.

»Ich weiß«, flüsterte ich.

»Ich könnte mit dir machen, was ich will«, sagte er nun beinahe zornig.

»Ja«, erwiderte ich sanft. »Aber du wirst niemals etwas tun, das ich nicht will. Im Gegenteil, du tust längst nicht alles, von dem ich wünschte, du würdest es tun«, setzte ich frustriert hinzu.

Er wandte den Blick ab und seufzte. Dann ließ er sich von mir herunterrollen und blieb neben mir auf dem Rücken liegen.

»Du hast Idis gesehen«, begann er.

Nicht schon wieder!, dachte ich und wollte gerade etwas sagen. Aber Gordy redete bereits weiter.

»Du hast ihren nackten menschlichen Oberkörper gesehen.«

»Ja«, bestätigte ich. »Sie hat übrigens einen sehr hübschen Busen.« Es lag nicht in meiner Absicht, meiner Stimme diesen herausfordernden Unterton zu verleihen, es passierte einfach. »Du bist den Anblick also gewohnt.«

»Stimmt. Aber wir Nixe können einander nicht berühren«, entgegnete Gordian. »Und wir können uns auch nicht küssen. Unsere Körper sind von der Delfinhaut umgeben. Sie schützt uns, aber zugleich hindert sie uns auch daran, uns so zu paaren, wie wir es uns ersehnen. Außerdem sind unsere Unterleiber …« Er brach ab und warf mir einen kurzen gequälten Blick zu.

»Ich weiß«, murmelte ich und nun beugte ich mich über ihn und streichelte sein schönes Gesicht. »Gordy, ich weiß.«

»Nein, Elodie, tust du nicht.« Er umfasste meine Hände und hinderte mich so daran, ihn weiter zu liebkosen. »Eigentlich habe ich dich gar nicht verdient.«

»Was redest du denn da schon wieder?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin unendlich glücklich darüber, dass du bei mir bist. Seitdem ich dich getrof…«

»Du weißt nicht alles über mich«, unterbrach er mich.

Ich atmete geräuschvoll aus. »Du auch nicht über mich.«

Er musterte mich stirnrunzelnd.

»Was glaubst du, warum die Bilder aus deinem schwarzen Kasten da« – Gordy hob den Kopf und nickte in Richtung Rattantisch, auf dem mein Notebook lag – »die Cyril mir gezeigt hat, mich nicht davon abgehalten haben, dich wiederzusehen? «, fragte er dann.

»Weil du wusstest, dass sie zu meiner Vergangenheit gehören, dass ich diese Jungs geküsst hatte, bevor ich dich kannte.«

Gordy biss sich auf die Unterlippe, dann wandte er sein Gesicht ab. »Ich habe auch eine Vergangenheit«, presste er tonlos hervor.

Mit einem Schlag wurde mir eiskalt. Bisher hatte er mir immer nur von seiner Familie und seinen Freunden erzählt, aber nie davon, ob es vielleicht auch eine Nixe in seinem Leben gegeben hatte … oder womöglich noch gab.

»Hast … Hattest du eine Freundin?« Mein Herz klopfte mich fast um den Verstand, als ich diese Frage stellte.

Gordian seufzte. »Nein«, sagte er leise, während er seinen Blick zur Zimmerdecke richtete. »Hatte ich nicht. Nixe haben keine festen Partner.« Er wirkte irgendwie entmutigt, ich allerdings hätte losjubeln können, so erleichtert war ich.

»Und was ist mit deinen Eltern? Sind sie denn gar nicht richtig zusammen?«

»Meine Eltern sind eine Ausnahme.«

Überrascht, aber auch ein wenig beunruhigt stützte ich mich auf, um Gordy besser ansehen zu können. »Inwiefern?«

»Sie sind einander bestimmt.«

Ich starrte ihn an. »Und was bedeutet das?«

»Dass sie ihr ganzes Leben miteinander verbringen werden und nur gemeinsame Kinder haben«, erklärte er mir. »Idis und ich sind also echte Geschwister, während Kyan, Zak und Liam beispielsweise nur Halbgeschwister haben.«

»Okay«, sagte ich, »okay.« Schlafen mit einem offenen Auge, Saughäute an Händen und Füßen, der Umstand, dass ihre Beine sich in Flossen verwandelten – all das faszinierte mich eher, als dass es mich schockte, aber diese Besonderheit der Bestimmung setzte dem Ganzen noch mal eins drauf. »Wie haben sie das gemerkt?«

»Es ist einfach so … Cullum und Ozeane lieben sich zu sehr, um sich mit anderen zu paaren«, antwortete Gordy zögernd.

»Und wer bestimmt darüber?«, fragte ich weiter. »Ich meine, sie werden doch nicht von ihren Vätern oder Großvätern ausgesucht? «, vergewisserte ich mich.

»Natürlich nicht.« Gordy lachte leise in sich hinein. Dann wurde sein Blick plötzlich abwesend und ein seltsamer Ausdruck legte sich über sein Gesicht, der ein unbehagliches Gefühl in mir auslöste. »Das Meer bestimmt es«, sagte er rau. »Das Meer ganz allein.«

»Das Meer ist also so etwas wie ein Gott?«

Eigentlich fand ich diesen Gedanken sehr schön, wesentlich weniger abstrakt jedenfalls als die Vorstellung, dass Gott irgendwo im Universum weilte und so tat, als ginge ihn das, was auf der Erde passierte, nichts an.

»Ich denke eher, dass es etwas sehr Natürliches ist«, entgegnete Gordy. Er wandte sich wieder mir zu und beruhigenderweise war jetzt alles Merkwürdige aus seinem Blick verschwunden. »Das Meer mit all seinen Lebewesen verfügt über ein größeres Wissen und einen besseren Überblick als jeder einzelne Nix. Meistens lässt es uns gewähren, nur ganz selten greift es ein und überträgt einzelnen Nixen eine Bestimmung, der sie sich nicht entziehen können, weil sie dem Ganzen dient.«

»Moment mal …« Ich war nicht sicher, ob ich ihm folgen konnte. »Deine Eltern, Cullum und Ozeane, sind füreinander bestimmt, weil es dem Meer nützt

Gordian nickte.

»Tut mir leid, aber das verstehe ich nicht.«

»Das ist auch nicht nötig«, gab er zurück. »Der Sinn erschließt sich selbst denen, die die Bestimmung erfüllen, nur in den seltensten Fällen. Das Meer hat nun mal seine eigenen Regeln. Es kennt die Zusammenhänge und sorgt dafür, dass alles immer wieder ins Gleichgewicht zurückfindet. Es weiß schon, was es tut.«

»Und wenn die beiden sich geweigert hätten?«, bohrte ich nach. »Was wäre mit ihnen passiert?«

»Ach, Elodie.« Gordy schenkte mir ein strahlendes Lächeln. »Sie lieben sich. Sie hätten sich nicht geweigert.«

»Dann hat Bestimmung also immer etwas mit Liebe zu tun?«, hakte ich vorsichtig nach.

»Nein, das nicht.« Sein Lächeln erstarb und wieder legte sich dieser seltsame Ausdruck über sein Gesicht. »Aber immer ist sie so stark, dass es ganz und gar unmöglich ist, sich dagegen zu wehren. Man denkt nicht einmal darüber nach … und noch nie ist jemand dem Gesetz des Meeres entflohen.«