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Keine Ahnung, wie ich es fertiggebracht hatte, mich bis zum richtigen Gepäckband am Hamburger Flughafen zu bewegen. Ich zerrte meinen Koffer und meine Reisetasche herunter und schleppte beides zum Durchgang in die Ankunftshalle.

Mam stand gleich ganz vorn an der Absperrung. Sie winkte kurz, ihr Gesicht leuchtete auf und im nächsten Moment war sie bereits bei mir und schloss mich in ihre Arme.

Sie wiederholte meinen Namen, wieder und wieder, und übersäte mich mit Küssen, und wäre ich nicht innerlich so taub gewesen, ich hätte mich garantiert sofort aus dieser Umklammerung befreit und sie gefragt, ob sie eigentlich noch klar bei Verstand wäre. Aber immerhin schaffte ich es, »Hallo, Mam« in ihr Haar zu murmeln.

»Tante Grace hat mir alles erzählt«, sprudelte es aus ihr hervor, nachdem sie mich endlich freigegeben und sich meinen Koffer geschnappt hatte. »Mein armes, armes Häschen.«

Was konnte das schon gewesen sein? Meine Großtante wusste doch gar nicht, was passiert war. Okay, sie hatte meine Wunden gesehen, aber sie kannte die Zusammenhänge nicht. Wahrscheinlich hatte sie sich irgendetwas Dramatisches ausgedacht.

»Es tut mir so leid, Schätzchen«, plapperte meine Mutter weiter. »Ich hätte es wissen müssen. Es war eine Schnapsidee, dich nach Guernsey zu schicken.« Sie tat einen langen tiefen Seufzer. »Andererseits hättest du dich genauso gut auch hier unglücklich verlieben können.«

Meine Beine trugen mich neben ihr her. Meine Augen registrierten, dass sie sich die Haare kurz geschnitten hatte und dass sie sehr viel dünner geworden war. Und meine Ohren hörten, was sie sagte, aber es drang nicht bis zu mir durch.

»Ich weiß, es klingt jetzt vielleicht ein wenig seltsam, aber wenn du aus dem Gröbsten raus bist, dann wirst du sehen, dass es noch viele andere tolle Jungs auf der Welt gibt. Gordian war eben einfach nicht der richtige.« Sie strich mir mit den Fingern ihrer freien Hand flüchtig über das Pflaster auf meiner Wange. »Mein Gott, was hat er dir nur angetan?«

Meine Füße liefen schneller, weil meine Ohren schmerzten; meine Hand drückte eine Tür auf und frische kühle Luft drang in meine Nase.

»Sina wollte ja unbedingt mitkommen«, erzählte meine Mutter, nachdem sie das Gepäck in unserem Wagen verstaut und ich mich neben meinem Rucksack auf die Rückbank geschoben hatte. »Ich dachte aber, dass du vielleicht erst mal ein bisschen Ruhe brauchst.« Sie warf mir über die Kopfstütze hinweg einen forschenden Blick zu. »Wahrscheinlich willst du im Augenblick noch gar nicht darüber reden.«

Ich sah sie müde an.

Für eine Sekunde wirkte Mam ein wenig verunsichert, dann lächelte sie und ließ den Motor an. »Ich schätze, sie hat dir schon hundert SMS geschickt …?«

»Keine Ahnung.«

Ich wusste nicht mal, ob ich mein Handy überhaupt eingesteckt hatte. Vermutlich lag es noch zwischen den Polstern des Rattansofas.

Meine Mutter schüttelte den Kopf. Offenbar irritierte es sie, dass meine beste Freundin nicht bereits über jedes Detail genauestens informiert war.

Sina … Sina … Sina … Ich freute mich ja nicht mal, sie wiederzusehen. Wie denn auch? Schließlich war ich gar nicht da, weder auf Guernsey noch in Hamburg oder Lübeck, nicht auf dem Mond und auch nicht in den Tiefen des Ozeans, sondern an einem Ort, wo mich niemand finden würde – nicht einmal ich selbst.

Mein Zimmer war noch genau so wie an dem Tag, als ich es verlassen hatte, Mam hatte bloß das Bett frisch bezogen. Eine Wolke aus künstlichem Vanilleduft stieg in meine Nase, als ich unter die Decke kroch und sie über meinen Kopf zog.

Dunkelheit und Stille umfingen mich und schlossen mich vollständig von der Welt da draußen ab. Mein Gehirn durfte aufhören zu denken und mein Herz würde hier hoffentlich endlich allen Schmerz vergessen können.

Hier wollte ich bleiben. – Fürs Erste.

Vielleicht auch für immer.

Lautlos glitten Kyan, Liam, Niclas und Pine über den Grund des Ärmelkanals. Bis die Dunkelheit der Nacht hereinbrach und sich ins Meer hinabsenkte, hielten sie sich im Schatten der Riffe auf, damit die Haie, die das Gebiet rund um Sark und Guernsey bevölkerten, sie nicht bemerkten.

Der Plan stand, es war alles besprochen, ein Aussenden von Signalen nicht mehr nötig, jeder von ihnen wusste, was er zu tun hatte.

Mit der Dunkelheit kam auch die Stille. Boote, Jachten und Trawler lagen in den Häfen, nur aus der Ferne tönte das beständige Brummen der großen Transportschiffe auf ihrem Weg zwischen Atlantik und Barentssee zu ihnen herüber.

Unbemerkt umrundeten die vier Nixe die Klippen unterhalb von Castle Cornet, ließen St Peter Port hinter sich, schwammen weiter in Richtung Norden, wo ihnen mit Sicherheit nicht einmal der Plonx auflauerte, und zogen in einem langen Bogen an der Südküste Alderneys vorbei, um schließlich zurück auf den Sandstrand der Belvoir Bay von Herm zuzusteuern.

Kyan spürte den Sog, lange bevor sie das Flachwasser erreichten. Er hatte Liam, Pine und Niclas nicht gesagt, wie gefährlich ihr Vorhaben war. Würde es nicht gelingen, würden ihre Leiber gefangen in ihrer Delfinhülle auf dem Strand liegen bleiben und noch vor der rettenden Hochflut am nächsten Morgen unter dem Druck ihres Eigengewichts verenden.

Doch der Sog war stärker als alle Bedenken, und so überließ er sich in bebender Erwartung der Welle, die ihn auf den feuchten Sand spülte, seine Haut löste und seine Schwanzflosse spaltete.

Neben ihm hörte er Liams leises triumphierendes Lachen, ein tiefes Stöhnen aus Pines Kehle und ein überraschtes Keuchen, das von Niclas kam.

»Oh, verdammt! Ich glaub es nicht!«, rief er aus.

Kyan sprang auf die Füße. Es war ein gutes Gefühl, die Arme frei bewegen zu können und endlich wieder Beine und Füße zu haben. Sein Blick fiel auf Niclas, der stumm im Sand saß und ungläubig auf sein Geschlecht herabsah.

»Keine Sorge«, sagte Kyan. »Du wirst keine dazu zwingen müssen. Sobald sie dich sehen, werden sie dir verfallen. Nur eine Berührung von dir und sie lassen alles mit sich geschehen.«

Niclas und Pine waren die Jüngsten in seiner Allianz. Beide hatten ozeanblaue Augen und dichtes dunkelblondes Haar. Pines Oberkörper war etwas muskulöser als der von Niclas, dafür hatte dieser einen sehr hübschen sinnlich geschwungenen Mund.

Liam war inzwischen ebenfalls aufgestanden und betrachtete aufmerksam den Kiefernwald, der sich oberhalb des Strandes bis zum höchsten Punkt der kleinen Insel hinaufzog.

»Da sind welche!«, wisperte er.

Kyan kniff die Augen zusammen. »Mädchen?«

Liam nickte. »Drei oder vier. Ich glaube, sie kommen zum Strand herunter.«

»Gut.« Kyan grinste breit. »Das ist sogar sehr gut.«

»Aber wir haben noch keine Kleidung«, wandte Liam ein.

»Wo ist das Problem?«, erwiderte Kyan kopfschüttelnd. »Wir stellen uns bis zu den Hüften ins Wasser und warten, was passiert. Los, kommt!«, trieb er Pine und Niclas an. »Generalprobe, Jungs. Wenn ihr die besteht, werden wir hier auf den Inseln vier Wochen lang unseren Spaß haben.«

Zwischen den Bäumen tanzte ein kleines Licht hin und her und die aufgeregten Stimmen der Mädchen waren nun deutlich bis zum Strand hinunter zu hören.

»Es sind vier«, murmelte Kyan. »Also eine für jeden von uns.« Er packte Niclas und Pine an den Armen und zog sie auf die Füße. »Das ist das erste Mal für euch«, zischte er mahnend, »ihr werdet euch beherrschen, euch nur mit ihnen paaren und keine von ihnen küssen. Ist das klar?«

Niclas nickte kaum merklich.

»Ob das klar ist?«, fuhr Kyan ihn an.

Pine hob abwehrend die Hände. »Keine Angst, wir kriegen das schon hin. Es wird keine von ihnen das Leben kosten.«

»Gut.« Mit einem spöttischen Zug um die Mundwinkel wandte er sich Liam zu. »Und du vergisst jetzt einfach mal die kleine Olivia, die du so gern hast.«

Liam knurrte, aber Kyan lachte nur und zog Niclas und Pine hinter sich her ins Wasser.

»Und was ist mit dir?«, fragte Liam zornig zurück. »Wen vergisst du? Die schöne Lauren? Oder die Rothaarige, die du so lustvoll mit deinem Kuss ertränkt hast? Wie kannst du dir überhaupt sicher sein, dass du deine Triebe im Griff hast?«

Kyan antwortete nicht. Für ihn gab es mittlerweile keinen Zweifel mehr, dass er für eine höhere Aufgabe bestimmt war. Sein Lohn würden viele Menschenmädchen sein. Aber das musste noch ein wenig warten.

Vorerst würde er sich ganz auf Elodie konzentrieren.

Und was die Mädchen betraf, die er, Niclas, Pine, Liam und Hunderte mehr von seiner Art in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren berühren würden, so war es ein betörendes Gefühl zu wissen, dass sie alle nie wieder einen Menschenjungen an sich heranlassen würden.

Sicher, es würde eine Weile dauern, bis die Kanalinseln und weitere Landstriche allein den Delfinnixen gehörten, aber er, Kyan, trug den Schlüssel dazu in der Hand.