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Tylers Körper vibrierte vor Zorn. Seine Kiefermuskeln traten hart hervor und der Farbton seiner Augen wechselte in einem geradezu irrsinnigen Tempo zwischen Hell- und Dunkelblau. Die Hände zu Fäusten geballt, stand er da und starrte Gordian hasserfüllt an.

»He, was geht denn hier ab?«, rief Ruby erschrocken. »Tyler, jetzt beruhig dich mal wieder, ja! Gordy ist Elodies Freund, er hat dir nichts getan.« Sie war bereits im Begriff, auf ihn loszustürzen, doch ich hielt sie energisch am Arm zurück.

»Lass es«, zischte ich ihr ins Ohr. »Es ist besser, wenn die beiden das unter sich ausmachen.«

Hastig sah ich zu Ashton. Er war aschfahl im Gesicht und zitterte am ganzen Körper.

Glaubst du, er hat es geschnallt?, dachte ich verzweifelt und hoffte, dass Gordy auch in dieser hochexplosiven Situation meinen Gedanken lauschte.

Mach dir keine Sorgen, ich bin immer bei dir.

Die Antwort war so klar, dass ich vor Überraschung zusammenschrak, und ich betete inständig, dass Tyler es nicht bemerkt hatte.

Und? Was glaubst du? Hat er?

Keine Ahnung, kam es beunruhigt von Gordy zurück. Seine Gedanken wirbeln so schnell durcheinander, ich kann sie nicht lesen.

Zu allem Unglück begann Ashton nun auch noch, wild zuckend um Tyler herumzutanzen. Hektisch huschte dessen Blick nun zwischen Gordy und Ashton hin und her.

Ich hielt Rubys Arm fest umklammert, um zu verhindern, dass sie dazwischenging. Mein Herz schlug schnell und hart in meiner Brust, und ich hatte Mühe, meinen Atem einigermaßen flach zu halten.

Wird er den beiden etwas antun?, rief ich panisch.

Das glaube ich nicht, kam es sanft von Gordy zurück. Bitte, Elodie, versuch, ruhig zu bleiben, flehte er.

Aber der Strand ist menschenleer, schrie ich. Niemand würde etwas bemerken.

Sie töten keine Menschen, Elodie. Das überlassen sie uns.

Gordians Gedanken fühlten sich zornig und verächtlich an, aber sie leuchteten mir ein. Die Hainixe wollten auch weiterhin unentdeckt und in Frieden mit den Menschen leben. Tyler würde den Teufel tun und seine ganze Art durch einen Kampf mit einem Plonx in Gefahr bringen.

Eben, sagte Gordy. An der Art, wie wir miteinander kämpfen, würde jeder sofort erkennen, dass wir keine normalen Menschen sind. Auch Ruby und Ashton. Tyler weiß ja nicht, dass die beiden über mich Bescheid wissen.

Es bleibt ihm also gar nichts anderes übrig, als dafür zu sorgen, dass sie von hier verschwinden.

Das gilt auch für dich, entgegnete er.

Was?

Keine Ahnung, wieso, Elodie, aber er hat dich nicht erkannt.

Ich stutzte. Vielleicht, weil ich es nicht will …?

Gut. Gordian schien erleichtert. Das ist sogar sehr gut, Elodie. Bitte sorge dafür, dass …

Weiter kam er nicht, denn nun sprang Tyler plötzlich auf Ruby zu und stieß ihr seine Faust gegen die Brust.

»Spinnst du!«, blaffte sie wütend.

Wieder wollte sie auf ihn losgehen und wieder hielt ich sie mit aller Macht zurück.

»Bring Ashton hier weg!«, zischte Tyler. »Oder ich hau ihm eins in die Fresse!«

Entsetzt sah ich ihn an. Gordy, bitte tu was!

Unmöglich, erwiderte er. Tyler hat sich nicht unter Kontrolle.

Wenn ich Ashton jetzt beistehe, rastet er womöglich total aus.

»Ashton ist kein kleines Kind«, sagte Ruby mit bebender Stimme. »Man kann ihn nicht einfach irgendwo hinbringen.«

Tylers Augen wurden so schmal, dass man die Iris darin nun kaum noch erkennen konnte. »Ich will, dass ihr sofort von hier verschwindet«, presste er hervor. Er deutete auf mich. »Du …«, dann auf Ruby, »und du …« und zuletzt auf Ashton, der seinen Kopf wild von rechts nach links warf. »Und dein kleines Arschloch hier. Ist das klar?«

»Warum?«, knurrte Ruby. »Damit du und Gordy euch in Ruhe prügeln könnt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Tyler.

Du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich das auf gar keinen Fall zulassen werde.«

»Ruby, bitte hör auf damit«, raunte ich ihr leise zu. »Merkst du denn nicht, wie aggressiv er ist? So provozierst du ihn doch nur noch mehr.«

»Sei nicht albern, Elodie«, gab sie schroff zurück. »Ich kenne Tyler länger und vor allem besser als du. Er wird mir schon nichts tun.«

Das schien das Stichwort für Ashton zu sein, der bisher zu meinem großen Erstaunen noch keinen einzigen Ton von sich gegeben hatte. »G-Gordy ist u-unser Freund«, stammelte er. »D-du wirst ihn in R-Ruhe l-lassen.«

»Ach ja?« Tyler fuhr zu ihm herum. »Und das willst ausgerechnet du halbes Hähnchen mir befehlen?« Er machte eine abfällige Geste. »Dass ich nicht lache!«

Ashton schlug seinen Arm wie wild hin und her. »D-der Strand gehört n-nicht dir allein … Kackfresse, hirnloser Arschficker! «, brüllte er.

»Was hast du gesagt?« Tyler machte einen Schritt auf ihn zu. Sein Kinn ruckte drohend vor. »Wie nennst du mich?«

»Verdammt noch mal, Tyler!«, polterte Ruby los. »Du weißt genau, dass er das nicht persönlich meint.«

Sie fluchte wie ein Rohrspatz und zerrte mit aller Kraft an meinen Händen, um sich zu befreien, doch ich ließ sie nicht los. Es war nicht das geringste Problem für mich, sie festzuhalten, und ich konnte nur hoffen, dass Tyler nicht auffiel, wie außergewöhnlich stark ich war. Im Moment schien er sich jedoch voll auf Ashton eingeschossen zu haben und sah überhaupt nicht zu mir herüber.

»Gar nichts weiß ich«, zischte er. »Vielleicht tut unser kleines Arschloch ja bloß so, als ob es einen Nervenschaden hätte … damit es uns ungestraft mit seinen beschissenen Schimpfwörtern bombardieren kann.«

»W-wir w-waren F-Freunde, und i-ich möchte, d-dass das s-so bleibt«, sagte Ashton und erwiderte standhaft Tylers herabwürdigenden Blick.

»Jemand, der sich mit Mördern abgibt, kann nicht mein Freund sein.« Tyler packte Ashton an der Jacke, zerrte ihn zu sich heran und richtete seinen bebenden Zeigefinger auf Gordy. »Der da und seine feinen Freunde haben Lauren auf dem Gewissen. Und dafür wird er bezahlen … jetzt oder später.«

Ashtons ganzer Körper zuckte mittlerweile, als würde er mit Elektrostößen bearbeitet.

»Gordy hat m-mit L-Laurens T-Tod nicht z-zu tun … verficktes Arschloch«, presste er hervor und schlug mit seinem heftig zuckenden Arm auf Tylers Rücken ein.

»Hör auf damit!«, fauchte Tyler. Sein Gesicht war zu einer hässlichen Grimasse verzerrt und noch immer wechselte seine Iris in rasendem Tempo den Farbton. Sein Hals war inzwischen bis zu den Schlüsselbeinen hinunter dunkelrot angelaufen. »Hör sofort auf damit!«

Aber Ashton hörte nicht auf. Wie auch? Er war seinem Anfall hilflos ausgeliefert. Und weil Tyler seine Jacke nicht losließ, war es unvermeidbar, dass Ashtons Arm weiter auf Tyler eindrosch.

»Scheiße!«, schrie Ruby. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!« Dann fing sie an zu heulen. »Ich bring dich um, Tyler. Ich schwöre dir, ich bring dich um.«

»Scheiße! Scheiße! Scheiße!« Dann fing sie an zu heulen. »Ich bring dich um, Tyler. Ich schwöre

Mein Blick flog von einem zum anderen, mein Herz trommelte wie verrückt und meine Lunge fühlte sich mit jedem Atemzug schwerer an – wie ein Schwamm, der sich allmählich mit Wasser vollsog –, bis ich kaum noch Luft bekam. Die Situation drohte zu eskalieren, und ich hatte keine Ahnung, wie wir das Ruder jetzt noch herumreißen sollten.

Keine Angst, Elodie, sagte Gordy. Wir schaffen es. Wir bringen die beiden heil hier raus.

Mit drei Schritten war er bei Ashton und legte ihm seine Hand auf die Schulter. Der Effekt war noch beeindruckender als beim ersten Mal: Ashton hörte augenblicklich auf zu zucken und sein Arm hing nun schlaff herunter.

»Wir gehen jetzt«, sagte Gordy. »Elodies Großtante erwartet uns zum Essen. Besser, wir verspäten uns nicht.« Er richtete seinen Blick auf Ruby und dann auf mich. »Ihr wisst ja, wie sie ist.«

Tyler hielt Ashtons Jackenstoff noch immer fest umklammert.

»Lass ihn bitte los«, sagte Gordy sanft, aber bestimmt. »Dies hier ist eine Sache allein zwischen dir und mir. Wir werden sicher noch mal eine Gelegenheit finden, uns darüber auszutauschen. «

Tyler schwieg, doch seine Kiefermuskeln arbeiteten unaufhörlich. Erst nach etlichen bangen Sekunden löste er seine Finger aus Ashtons Jackenstoff und ließ die Hand sinken.

»Feigling!«, blaffte er Gordian ins Gesicht.

Gordy verzog keine Miene.

»Danke«, sagte er, während er Ashton auf Ruby und mich zuschob. »Lauft schon mal vor. Ich komme gleich nach.«

Vergiss es. Ich gehe nicht ohne dich!

Vertrau mir, Elodie. Es wird keinen Kampf geben.

»Also gut«, sagte ich und lockerte meinen Griff um Rubys Arm. »Wir warten bei den Fahrrädern.«

»Gute Idee.« Ruby machte sich von mir los, dann nahm sie Ashtons Hand und zog ihn in Richtung Bootszufahrt. Offenbar war sie sehr besorgt um ihn, denn sie blickte sich nicht einmal mehr um, und daher merkte sie auch nicht, dass ich mich zurückfallen ließ und mich wieder zu Gordy und Tyler umwandte.

Die beiden sprachen miteinander, allerdings so leise, dass ich kein Wort davon verstand. Ich konnte nicht einmal ausmachen, ob sie stritten, denn sie standen nahezu reglos voreinander und gestikulierten so gut wie gar nicht. Plötzlich drehte Tyler sich abrupt um und eilte mit langen, sichtbar beherrschten Schritten davon.

Gordys Gesichtszüge entspannten sich und er kam sofort zu mir herübergelaufen.

»Was hast du ihm gesagt?«, bestürmte ich ihn.

»Die Wahrheit.«

»Was genau?«

Er trat dicht neben mich und legte mir seine warme Hand in den Nacken. »Dass ich nicht an Land gekommen bin, um den Haien irgendetwas wegzunehmen oder ihnen zu schaden.«

»Und das hat er geschluckt?«

Gordian zuckte die Achseln. »Für heute zumindest.«

»Vielleicht regt er sich ja wirklich ab«, sagte ich hoffnungsvoll, dabei wusste ich genauso gut wie Gordy, dass Tyler sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht einmal von Javen Spinx beruhigen lassen würde. Ein Delfin hatte seine große Liebe getötet. Sobald sich ihm die Gelegenheit bot, würde er Gordy ebenso bekämpfen wie jeden anderen Nix aus dem feindlichen Lager.

»Tyler ahnt nicht einmal, dass es Kyan war, stimmt’s?«, hakte ich nach.

»Nein, ich glaube nicht«, sagte Gordy. »Aber es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis er es herausfindet.«

»Unsere Gedanken konnte er jedenfalls nicht lesen. Obwohl er ein Nix ist. Er müsste es können.«

Gordian zog die Augenbrauen hoch. »Wer sagt das?«

»Keine Ahnung … Cyril … Ich dachte jedenfalls, dass…«

»Elodie, er war ja nicht einmal imstande, unseren Gedankenaustausch zu lesen«, fiel Gordy mir ins Wort. »Und umherfliegende Gedanken sind für einen Dritten weitaus leichter zu erkennen als jene, die man in seinem Kopf eingeschlossen hält.«

Einigermaßen fassungslos sah ich ihn an. In der Tat hatten er und ich uns außerhalb des Meeres über unsere Echolote verständigt – und zwar so, als wäre es das Normalste auf der Welt.

Gordian lächelte. Es ist schon ziemlich ungewöhnlich, dass du überhaupt eines besitzt.

»Es ist ein Talent, oder?«

»Jep«, war seine knappe Antwort. Er warf noch einen kurzen Blick zu der Stelle an der Mauer, wo Tyler verschwunden war, dann schlang er seinen Arm um meine Schultern. »Na komm, wir sollten Ruby und Ashton nicht zu lange warten lassen.«

»Okay«, sagte ich. »Aber vorher musst du mir das mit dem Echolot erklären.«

Gordy lächelte wieder und drückte mich leicht an sich. »Na, dann schieß los! Was willst du wissen?«

»Ein Echolot zu haben, ist ein Talent – zumindest für eine Halbhai wie mich. Richtig?«

»Ja, aber entscheidend ist, dass wir beide uns auch an Land verständigen können. Es ist dein Talent. Soeben neu ausgebildet, weil die Situation es erforderte.«

Ich schüttelte unwillig den Kopf, denn es gefiel mir nicht, dass ich offenbar keinen Einfluss darauf hatte.

»Doch, den hast du«, widersprach Gordy. »Denk an Janes Worte. Die Ausbildung eurer Talente ist ein Zusammenspiel zwischen euren Bedürfnissen und dem Willen des Meeres.«

»Das hast du wunderbar gesagt!« Ein warmes, unendlich zärtliches Gefühl durchflutete mich vom Kopf bis zu den Zehen. »Du nichtsnutziger Plonx«, setzte ich leise scherzend hinzu, »dir ist gar nicht bewusst, wie wertvoll du bist.« Nicht nur für mich, sondern auch für Ashton – und vielleicht sogar für Rubys Bruder!

»Das kann ich ihr unmöglich anbieten«, unterbrach Gordy meine Überlegungen. »Nicht, solange ich offiziell gar nicht weiß, dass sie einen Bruder hat. Außerdem habe ich keine Vorstellung davon, wie weit meine Fähigkeiten überhaupt reichen. Irgendwo haben auch sie ihre Grenzen.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, entgegnete ich. »Vielleicht wachsen ja auch deine Fähigkeiten mit den Aufgaben, vor denen du stehst!«

Auf Gordys Stirn bildete sich eine Steilfalte. »Es gibt Regeln, Elodie«, sagte er, »und an denen kann niemand etwas ändern. « Es klang ein bisschen so, als müsse er sich selbst daran erinnern. »Delfinnixe werden mit ihren Talenten geboren, Hainixe können sie erwerben, meine Eltern sind einander bestimmt …«

»… Hainixe gehen an Land, Delfinnixe nicht«, führte ich seine Aufzählung fort. »Und wenn sie es tun, werden sie zum Plonx.«

Gordian nickte beklommen.

»Ist das wirklich eine Gesetzmäßigkeit?«, fragte ich. »Ich meine, eigentlich habt ihr Nixe es doch immer nur für eine Legende gehalten.«

Gordy zuckte mit den Schultern. »Weil es eigentlich nicht vorkommt. «

»Deshalb frage ich ja«, sagte ich eindringlich. »Wenn es ei gentlich nicht vorkommt, kann es dann überhaupt einer Regel unterliegen? Ist es dann nicht eher so etwas wie ein Zufall?«

Du meinst, ein Unfall. Gordians Miene verdunkelte sich, und die tiefe Traurigkeit, die ihn jedes Mal überfiel, wenn er sich seiner vermeintlichen Minderwertigkeit bewusst wurde, breitete sich auf seinem schönen Gesicht aus.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Hätte ich doch bloß nicht davon angefangen!

Es könnte auch ein Notfall sein, dachte ich, und mein Herz zog sich krampfartig zusammen. Dieser Gedanke machte mir Angst, und deshalb behielt ich ihn für mich, verbannte ihn in die hinterste Ecke meines Bewusstseins, denn ich wollte nicht, dass Gordy ihn aufschnappte. Keine Ahnung, wie ich es hinbekam, aber es schien zu klappen, denn Gordy zeigte keine Reaktion.

»Komm jetzt«, drängte er. »Dieses Herumrätseln bringt uns nicht weiter. Außerdem möchte ich wissen, ob mit Ruby und Ashton alles in Ordnung ist.«

Die beiden hatten die Räder bereits die Bootszufahrt hinaufgeschoben und an der Befestigungsmauer abgestellt. Mit ernsten Mienen blickten sie uns entgegen.

»Hey, Leute!«, begrüßte Ashton uns. »Ihr lebt ja noch!«

»Sehr witzig«, brummte Ruby und richtete ihre vor Aufregung blitzenden Augen auf mich. »So, und jetzt erklär mir bitte mal, was das da eben am Strand für eine Vorstellung war«, forderte sie mich auf. »Ich hätte Tyler den Hals umgedreht … wenn du mich gelassen hättest.«

»Tyler ist ein Hainix«, sagte ich ohne Umschweife. »Er hat Gordy natürlich sofort erkannt.«

»Was?« Ruby schüttelte den Kopf. »Nein, das kann nicht sein. Ich kenne Tyler schon seit der Grundschule. Er …«

»Das hat nichts zu bedeuten. Es gibt natürlich auch Hainixkinder «, unterbrach ich sie. »Und es gibt sie schon seit langer Zeit. Meine Urgroßmutter …«

»Ich weiß«, fiel Ruby mir ins Wort. »Deine Großtante hat es mir erzählt.« Sie seufzte und nickte. »Wir müssen also davon ausgehen, dass mittlerweile ganze Generationen von Hainixen unter uns leben, oder?«

»Nein, das halte ich nicht für sehr wahrscheinlich«, erwiderte ich. »Hainixe sind zwar Landgänger …«

Ruby blinzelte mich unsicher an. »So wie du?«

»Ja … nein …« Ich warf einen flüchtigen Blick auf Gordian.

»Ich bin wohl so etwas wie ein Sonderfall. Denn eigentlich müssen Hainixe ins Meer, um Wasser zu atmen, durch die Riffe zu tauchen …« Ich stockte, denn nach wie vor redete ich hier über Dinge, von denen ich noch nicht besonders viel verstand. »Je mehr wir sind, desto eher besteht die Gefahr, dass ein Mensch einen von uns dabei beobachtet, wie er sich verwandelt «, fuhr ich schließlich fort. »Außerdem sollten wir uns nicht mit Menschen paaren. Denn auch dann liefen wir Gefahr, dass unsere Tarnung auffliegt.«

Ruby nickte. Meine Erklärung schien ihr einzuleuchten. Und mit einem Mal grinste sie. »Und ich habe mir Sorgen gemacht, als Tyler vor Wut über die Trennung von Lauren zu weit rausgesurft ist!« Sie tippte sich an die Schläfe. »Kein Wunder, dass Cyril damals so gelassen darauf reagie…« Sie brach ab und sah mich erschrocken an. »Wisst ihr eigentlich, was mit ihm passiert ist? Könnte er vielleicht für immer ins Meer zurückgegangen sein?«

»Nein, er ist noch hier«, beruhigte ich sie. »Allerdings wird er eine Weile nicht in die Cobo Bay kommen.«

»Ka-Katzenkacke!«, meldete sich Ashton zu Wort. Er zuckte mit dem Kopf hin und her und legte seinen Arm ein wenig umständlich um Rubys Schulter. »E-er muss doch wissen, dass s-sie ihn v-vermisst.«

»Das ist Unsinn«, brummte Ruby. »Cyril ist ganz sicher der Letzte, den ich vermisse. Meinetwegen soll er machen, was er will. Ich fand es einfach nur seltsam, dass er plötzlich verschwunden war.«

Ich schaute zu Gordy, um mich zu vergewissern, ob er es in Ordnung fand, wenn ich ihr und Ashton erzählte, was mit Cyril passiert war, und als er kaum merklich nickte, fasste ich das Ganze in ein paar knappen Sätzen zusammen.

»Oh«, sagte Ruby und noch einmal: »Oh.« Es schien mir so, als müsse sie sich mächtig zusammenreißen, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr diese Nachricht sie bestürzte. »Und ich dachte, bei Nixen heilen Wunden besonders schnell. Zumindest hat deine Großtante das gesagt«, beeilte sie sich hinzuzusetzen.

»Nicht, wenn ihre Hülle beschädigt wird«, sagte Gordian.

Ruby schüttelte den Kopf. »Ihre was?«

»Es ist so: Normale Hainixe und Delfinnixe sind von einer Hülle umgeben, die ihnen den äußeren Anschein eines Tieres gibt«, erklärte ich. »Ein normaler Mensch kann sie deshalb auch nicht von normalen Haien und Delfinen unterscheiden.«

»Aha …« Ruby krauste die Stirn.

»Kannst du mir folgen?«, fragte ich nach.

»Ähm, ja … k-kann sie«, antwortete Ashton an ihrer Stelle. »Ähm, ich zumindest kann es … Knackarsch.«

»Blödmann«, sagte Ruby und verpasste ihm einen Kuss auf die Wange. Dann sah sie wieder mich an. »Gordy und du, ihr seid aber nicht normal, stimmt’s?«

»Genau«, bestätigte ich. »Gordy ist ein Plonx. Er hat keine Außenhülle mehr. Und wenn er sich im Wasser aufhält, ist es für jeden Menschen ersichtlich, dass er ein Nix ist. Und bei mir ist es das Gleiche.«

Ruby nickte. »Aber du wirfst einen Schatten und Gordy nicht.« Sie deutete zum Himmel, über den sich immer dickere graue Wolken schoben. »Was bei diesem Wetter zum Glück kein Problem ist.«

»Nicht, was die Menschen angeht«, entgegnete ich. »Aber Tyler hat Gordian natürlich trotzdem erkannt.«

»Als Plonx oder als Delfinnix?«, fragte Ruby.

»Keine Ahnung«, erwiderte ich, überrascht, dass mir dieser Gedanke noch gar nicht gekommen war.

»Das spielt in diesem Fall keine Rolle«, klinkte Gordy sich ein. »Für Tyler zählt nur eins: Einer meiner Arti hat seine Freundin geschändet und getötet.«

In Rubys Augen blitzte Zorn auf. »Warum hat er sich überhaupt auf ein Menschenmädchen eingelassen?«, stieß sie hervor. »Ich meine, er muss doch gewusst haben, welches Risiko er damit eingeht. Und jetzt ist Lauren tot.« Sie presste die Zähne in ihre Unterlippe, konnte aber nicht verhindern, dass diese zu zittern begann. Mit dem nächsten Wimpernschlag kullerte eine Träne über ihre Wange.

Ich wollte sie an mich drücken, aber da hatte Ashton bereits seine Arme um sie geschlossen. Ruby schmiegte ihr Gesicht in seine Halsbeuge, und ich sah, wie ihr Körper von Schluchzern geschüttelt wurde.

»Ist ja gut«, murmelte Ashton, während er mit seinen Händen über ihren Rücken fuhr. »Ist ja gut … verschissene Hundekacke! «

Aber es stimmte nicht, gar nichts war gut.

Kyan hatte Lauren und Bethany getötet und die Menschen hatten Elliot abgeschlachtet. Sie taten es, obwohl er in seiner menschlichen Gestalt war, und behaupteten nun wider besseres Wissen, dass sie einen Delfin getötet hätten. Kyan, Zak und Liam hatten Cyril angegriffen und schwer verletzt zurückgelassen. Tyler sann auf Rache für Lauren, und Jane hatte sich aufgemacht, Javen Spinx zu finden, obwohl sie seit vielen Jahren nicht mehr im Meer gewesen war.

Aus welchem Grund hat sie sich für ein Leben ausschließlich an Land entschieden? Wieso ist das überhaupt möglich für sie? Und warum versteckt sie Bo in einem Teich? Dürfen noch nicht einmal die Hainixe wissen, dass es ihn gibt?

Ich habe keine Ahnung, Elodie, war Gordys Antwort. Ich weiß nur eins: Heute Nacht wird sich alles entscheiden.