»Was ist mit Cyril?«, fragte ich, kaum dass die Tür hinter uns ins Schloss gefallen war.
»Er wird überleben«, sagte Gordy, und offensichtlich atmete ich eine Spur zu deutlich auf, denn seine Miene verschloss sich schlagartig. Er wandte sich ab und ging zum Fenster hinüber.
»Er ist dir viel ähnlicher als ich.«
»Ja, aber das hat nichts zu bedeuten.«
Ich trat hinter ihn, schlang meine Arme um ihn und legte meine Stirn auf sein Schulterblatt.
»Doch, Elodie, das hat es.« Gordians Muskeln spannten sich an, seine ganze Haltung signalisierte Abwehr, aber ich dachte nicht daran, ihn loszulassen.
»Nur weil Cyril ein Hainix ist …«, begann ich, dann fehlten mir bereits die Worte. »Okay, ich habe eine Verbindung zu ihm, die ich mir bisher nicht erklären konnte«, fuhr ich schließlich fort. »Jetzt, da ich weiß, welcher Art sie ist, kann ich viel besser damit umgehen.«
»Elodie!« Gordy wandte sich zu mir um und umschloss mein Gesicht sanft mit seinen Händen. »Es geht mittlerweile nicht mehr um deine, meine oder Cyrils Gefühle. Kyan, Liam und Zak haben einen Hainix angegriffen. Es ist nicht ausge schlossen, dass die Haie zurückschlagen. Es ist sogar wahrscheinlich. «
»Dann werde ich so schnell wie möglich mit Cyril reden.« Ich konnte zwar nicht einschätzen, wie groß sein Einfluss auf andere Hainixe war, aber im Moment schien mir das die einzige Möglichkeit zu sein, einen solchen Angriff abzuwenden.
Gordy presste die Lippen aufeinander. »Ja, wenn du ihn aufspüren kannst.«
Dieser Einwand war durchaus berechtigt.
»Was glaubst du?«, überlegte ich. »Wie schwer sind seine Verletzungen? «
Gordian schüttelte den Kopf. »Das ist nicht unbedingt entscheidend. Schließlich hatte er Hilfe von seinen beiden Haifreunden, er musste sich nicht allein fortbewegen. Aber du hast natürlich recht«, lenkte er ein, »wir müssen herausfinden, wo sie ihn hingebracht haben.«
Mein Herz machte einen überraschten Hüpfer. »Wir?«
»Natürlich wir«, sagte Gordy. Er strich mit dem Daumen über meine Wange und küsste mich zart auf den Mund. »Ich lass dich doch da draußen nicht allein. Kyan wollte dich bereits töten, als du ein Mensch warst. Was, denkst du, wird er tun, wenn er feststellt, wer du wirklich bist?«
Ich hatte keine Ahnung. Würden Haie und Delfine sich tatsächlich bis aufs Blut bekämpfen? Und welche Fähigkeiten standen ihnen dabei zur Verfügung? Javen Spinx hatte die Zeit angehalten, um zu verhindern, dass ich von einem Auto überrollt wurde. Cyril konnte Gefühle beeinflussen, Gordys Lächeln wirkte entspannend, er las Gedanken, und wie er an Ashton sehr eindrucksvoll demonstriert hatte, besaß er darüber hinaus sogar noch heilerische Kräfte.
Meine Unruhe wuchs. Ich hatte das drängende Gefühl, sofort etwas unternehmen zu müssen. Der Brief meiner Urgroßmutter und Pattons Foto waren plötzlich nicht mehr wichtig. Beides lag noch immer unangerührt im Umschlag auf dem Rattantisch. Um meine Vergangenheit würde ich mich später kümmern, was jetzt zählte, waren Gegenwart und Zukunft. Die Feindschaft zwischen den Hai- und den Delfinnixen drohte sich zu verschärfen und das galt es irgendwie zu verhindern.
»Die Haie, die Cyril von dir fortgeholt haben«, begann ich, »die haben dich doch sicher erkannt?«
»Ja, sie haben gesehen, dass ich ein Plonx bin«, bestätigte Gordy.
»Und sie haben dir nichts getan?«, fragte ich.
»Nein. Offensichtlich war ihnen klar, dass ich Cyril helfen wollte.«
»Das ist doch wunderbar.« Ich nickte zufrieden, und dann stellte ich die Frage, die ich eigentlich schon in der Moulin Huet Bay hatte stellen wollen. »Wer waren sie überhaupt?«
»Der Mann aus der Stadt«, erwiderte Gordy. »Javen Spinx.
Den anderen kenne ich nicht.«
»Javen Spinx?«, stieß ich hervor. »Bist du sicher?«
Gordian zuckte die Achseln. »Absolut.«
Vor Aufregung bekam ich feuchte Hände. »Er hat auch mir das Leben gerettet. Er muss gewusst haben, dass ich Hainixblut in mir trage. Wahrscheinlich hat er es damals auf der Reise von Lübeck nach Guernsey schon gespürt. Aber warum hat er dann in St Peter Port so getan, als ob er mich nicht kennen würde?«
»Keine Ahnung, Elodie, wirklich nicht.«
Ich löste mich aus seinem Arm und begann, zwischen Sitzecke und Bett auf und ab zu wandern. »Vielleicht, weil er dich sofort als Delfinnix erkannt hat.«
»Ja, das kann sein.« Gordy schürzte die Lippen. »Vielleicht sollte ich versuchen, Kontakt zu Zak oder Liam aufzunehmen? Möglicherweise gelingt es mir, sie davon zu überzeugen, dass es niemandem etwas nützt, wenn sie die Haie provozieren.«
»Nein«, sagte ich entschieden. »Sie würden das doch sofort an Kyan weitergeben. Und der lässt garantiert nicht mit sich reden. Aber wie wäre es mit Idis? Oder deinen Eltern?«
»Cullum und Ozeane und meine Schwester möchte ich da nicht mit hineinziehen«, entgegnete Gordian ebenso entschieden. »Ich will sie nicht auch noch in Gefahr bringen.«
Gordy hatte recht. Wir mussten bei Cyril ansetzen. Oder bei Javen Spinx. Ihn zu suchen, hielt ich jedoch für ziemlich aussichtslos. Er konnte überall sein. Für Cyril kam dagegen eigentlich nur eine der Höhlen an der Küste von Sark infrage. Aber vielleicht gab es ja noch eine andere Möglichkeit … Ich senkte den Blick und massierte mit den Fingern meine Nasenwurzel und plötzlich blitzte ein aquamarinblaues Augenpaar vor mir auf. Einen Moment lang war ich verwirrt, doch dann begriff ich. – Dass ich nicht gleich darauf gekommen war!
»Komm!«, sagte ich, fischte meine Haihaut vom Boden auf und verstaute sie in der Gesäßtasche meiner Jeans. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wo wir ihn finden könnten.«
Inzwischen ging es auf Mittag zu. Die Sonne stand hoch am Himmel und daher war es ein riskantes Unternehmen. Den Weg durch das Meer zu nehmen und nach Sark hinüberzu schwimmen, wäre ganz bestimmt sicherer gewesen. Auch meine Großtante zeigte sich alles andere als begeistert, als sie Gordian und mich aus dem Haus treten und auf den Schuppen zusteuern sah.
»Was habt ihr denn vor?«, rief sie uns vom Gästecottage aus zu.
»Wir müssen noch mal weg«, antwortete ich nur, schlüpfte durch die Tür und schnappte mir eines der Fahrräder für Gordy. Bevor ich es jedoch nach draußen gezerrt hatte, stand Tante Grace vor mir, die Hände auf die Hüften gestemmt und mit einem entschlossenen Ausdruck im Gesicht.
»Der junge Mann hier fährt nirgendwohin.« Sie deutete nach oben. »Nicht bei diesem Sonnenschein.«
Ich starrte sie an, wild entschlossen, es mit ihr aufzunehmen. »Wir wissen, dass es gefährlich ist, aber es geht nicht anders.«
Meine Großtante sah mir fest in die Augen. »Elodie, man sollte sein Schicksal nicht herausfordern.«
»Das weiß ich«, knurrte ich.
Zum Glück ahnte sie nicht, wie oft ich es bereits getan hatte, seitdem ich hier bei ihr auf Guernsey war. Und bisher war ich nicht schlecht damit gefahren.
Standhaft erwiderte ich ihren Blick und zermarterte mir das Gehirn, auf welche Weise ich sie am besten austricksen könnte.
Plötzlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie fasste sich an die Stirn und machte einen Schritt zurück. »Ich bin aber auch ein Dussel«, sagte sie. »Bevor ich losfahre, sollte ich besser noch einmal nachsehen, was wir überhaupt brauchen. Außerdem habe ich den Korb mit meinem Portemonnaie im Flur stehen lassen.« Sie umfasste den Fahrradlenker. »Man wird eben doch vergesslich im Alter«, meinte sie kopfschüttelnd. »Auf jeden Fall ist es sehr lieb von dir, dass du mir das Rad aus dem Schuppen geholt hast, mein Engel. Ich nehme an, du brauchst das andere selbst.«
»Ähm … ja …«
Ich ließ mich von ihr zur Seite schieben und sah ihr völlig verdattert dabei zu, wie sie das Rad abstellte und anschließend, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zum Wohnhaus eilte.
»Man kann einer Nixe nicht trauen.« Grinsend kam Gordian zu mir herüber und küsste mich auf die Wange. »Ich sollte mich besser vor dir in Acht nehmen.«
»Hallo! Was kann denn ich dafür, wenn Tante Grace von einer Sekunde auf die andere alles vergisst?«
»Eine ganze Menge, mein Engel.« In Gordians Augen blitzte es amüsiert. »Du musst natürlich noch ein wenig üben, um dieses Talent in Zukunft etwas gezielter einzusetzen.« Er nickte zum Wohnhaus hinüber. »Immerhin hat es seinen Zweck erfüllt. Wir sollten uns allerdings beeilen, ich habe nämlich keine Ahnung, wie lange es wirkt.«
Ich starrte ihn an, als wäre er ein Wesen von einem anderen Stern, doch Gordy kümmerte sich nicht weiter um mich. Er griff sich das Rad, mit dem Tante Grace eigentlich zum Einkaufen fahren wollte, und schwang sich auf den Sattel.
Langsam und ein wenig schwankend fuhr er über den Kiesweg auf die Straße zu.
»He!«, rief ich. »Warte mal. Du kannst doch nicht einfach ohne mich …!«
»Dann komm!«, rief Gordy über die Schulter und geriet nun bedrohlich ins Trudeln.
Mit klopfendem Herzen lief ich zum Haus zurück und spähte durch die offen stehende Tür. Von Tante Grace war nichts zu sehen, aber ich hörte sie in der Küche rumoren.
Noch immer wollte ich nicht recht glauben, dass ich für ihre plötzliche Vergesslichkeit verantwortlich sein sollte, ein wenig nagte sogar das schlechte Gewissen an mir, aber ich sah ein, dass die Gelegenheit nicht günstiger sein konnte, und so ergriff ich mein Fahrrad und raste Gordy hinterher. Er hatte angehalten und wartete am Straßenrand auf mich. Seine karamellfarbene Haut schimmerte silbrig im Licht der Sonne und unter ihm auf dem Kies zeichnete sich nur der Schatten des Fahrrads ab. Es war ein äußerst seltsamer Anblick, und mit einem Mal war ich mir selbst nicht mehr sicher, ob wir wirklich das Richtige taten.
»Ich lasse dich nicht allein dorthin«, sagte er mit ernstem Blick. »Nie wieder.«
Ich wollte etwas einwenden, doch Gordy winkte sofort ab.
»Wir können natürlich auch zuerst auf Sark nachsehen.«
»Nein, ich glaube nicht, dass Cyril sich dort noch sicher fühlt«, entgegnete ich. »Kyan, Zak und Liam haben sich vier Wochen lang dort herumgetrieben. Sie dürften die Insel mitsamt ihren Höhlen in- und auswendig kennen. Wahrscheinlich haben sie längst herausgefunden, wo Cyril wohnt.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einen festen Platz hat«, meinte Gordian. »Die Haie mögen sich an die Menschen und ihre Gewohnheiten angepasst haben, aber sie bleiben Nixe. Soweit ich weiß, können sie nicht in normalen Häusern leben. Zumindest nicht ständig.«
»Vielleicht gibt es ja jemanden, der ihm zeitweise Unterschlupf gewährt.«
»Möglich.« Gordian zuckte mit den Schultern. »Also … was tun wir?«
Noch einmal warf ich einen Blick auf den Schatten des Fahrrads unter ihm. »Kannst du mit diesem Ding überhaupt fahren?«, fragte ich. »Oder muss ich damit rechnen, dass du dich gleich auf die Nase legst?«
Gordy reckte herausfordernd sein Kinn vor. »Und was ist mit dir?«, gab er zurück. »Kann ich sicher sein, dass du dein Talent einsetzt, wenn es nötig sein sollte?«
Mein Talent? – Ich schluckte. Noch war mir nämlich keinesfalls klar, wie es genau funktionierte. Doch Gordy ließ mir keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Okay«, sagte er und fuhr los. »Ich verlass mich drauf.«
»Woher weißt du überhaupt, in welche Richtung wir müssen? «, rief ich.
»Von dir! Deine Gedanken haben es mir verraten!«
Ich beeilte mich, ihm hinterherzukommen, und versuchte, auf gleicher Höhe mit ihm zu bleiben, weil es auf diese Weise nicht gleich auffiel, dass nur mein Schatten auf dem Asphalt zu sehen war.
Zum Glück war nicht viel los. Wir wurden von zwei Autos überholt und insgesamt vier kamen uns auf der gesamten Strecke entgegen. Fußgänger oder andere Fahrradfahrer waren überhaupt nicht unterwegs.
Kurz bevor wir die Schmuckwerkstatt erreichten, tauchte einige Meter vor uns in der Einmündung einer Querstraße ein Mädchen auf einem Pferd auf. Mit großen Augen gaffte sie Gordy an.
»Keine Sorge. Das tut sie nur, weil ich so überirdisch gut aussehe«, meinte er grinsend.
»Eingebildeter Affe«, murmelte ich, während ich das Mädchen fixierte. Inzwischen trennten uns nur noch wenige Pedaltritte, und ich sah, dass sie Gordy keinesfalls ins Gesicht schaute, sondern den Blick auf die Straße gerichtet hielt.
»Okay, doch nicht meine Schönheit«, wisperte er. »Elodie, tu was!«
Panik stieg in mir hoch. »Was denn?«, zischte ich.
»Das weißt du besser als ich.«
»Verdammt, Gordy …!«
Bitte vergiss, dass du uns gesehen hast!
Nicht einmal einen Lidschlag später schnalzte das Mädchen mit der Zunge, zog die Zügel zurück und ließ ihr Pferd umkehren.
Gordian zwinkerte mir zu. »Geht doch.«
Ich war so verblüfft, dass ich beinahe vom Fahrrad gefallen wäre.
»Und du hattest Angst, dass ich mich auf die Nase lege!«
Gordy fuhr lachend weiter.
Zwischen den Blättern einer gelb blühenden Hecke blitzte schließlich Janes lilafarbenes Haus auf und kurz darauf bog er in ihr Grundstück ein.
Wir stellten unsere Fahrräder in den rostigen Ständer und sahen uns an. Ich bildete mir ein, einen Hauch von Zweifel in Gordians Miene zu erkennen.
»Sie hat selber ein Geheimnis«, versuchte ich, ihn zu beruhigen. »Sie wird dich nicht verraten.«
Er nickte. »Okay.« Dann nahm er meine Hand und wir gingen langsam den Plattenweg entlang bis zum Anbau.
Die Vitrinen, die Jane erwartet hatte, standen bereits an ihrem Platz, und sie selbst war gerade dabei, Armbänder in eine der mit dunkelgrauem Samt ausgelegten Schubladen zu sortieren.
»Hey«, sagte ich leise.
Sie fuhr zusammen – offenbar hatte sie uns weder gehört noch gesehen – und atmete auf, als sie mich erkannte.
»Elodie! Ich dachte schon, du kommst heute nicht.« Ihr Blick wanderte zu Gordy und blieb voller Erstaunen an ihm hängen. »Und du hast noch jemanden mitgebracht …« Janes Züge wandelten sich. Plötzlich stand nicht mehr Verwunderung in ihrem Gesicht, sondern Rührung. Verstohlen wischte sie sich eine Träne, die sich in ihrem Augenwinkel gebildet hatte, fort. »Entschuldigung, es ist wirklich dumm, aber beim Anblick eines Wals muss ich immer weinen.«
Zutiefst irritiert über ihre seltsame Reaktion starrte ich sie an. »Gordy ist kein Wal«, sagte ich schließlich.
»Ich sehe, dass er ein Delfin ist«, erwiderte sie, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, Besuch von einem Nix zu bekommen. Vollkommen verzückt stand sie da und auch Gordy wirkte seltsam hingerissen. Wie in Trance hielten er und Jane ihre Augen aufeinander gerichtet.
Was ist denn jetzt los?, dachte ich erschrocken. Ein beißendes Gefühl setzte sich in meinem Herzen fest, und es fiel mir alles andere als leicht, mir nichts anmerken zu lassen und mich auf den eigentlichen Grund unseres Besuchs zu besinnen.
»Wo ist Cyril?«
Jane machte einen langen tiefen Atemzug. Dann riss sie sich von Gordys Anblick los und starrte mich an. »Was? … Wer?«
»Du weißt genau, wen ich meine«, sagte ich nur, und als sie den Kopf schüttelte, drängte ich mich zwischen ihr und den Pappkisten hindurch und schlüpfte in den dunklen Nebenraum.
»Nein, jetzt warte doch mal!«, hörte ich Jane hinter mir rufen, aber da hatte ich die Tür, die mir gestern schon aufgefallen war, bereits geöffnet. Wie ich vermutet hatte, verbarg sich dahinter ihre Schmuckwerkstatt – ein kleiner, aber sehr heller Raum voller seltsamer Geräte und Werkzeuge. Die Seite zum Garten hin war vom Boden bis zur Decke verglast, ganz rechts in der Ecke befand sich eine schmale Tür, die nur angelehnt war.
»Elodie!« Jane brüllte jetzt geradezu. »Bitte warte doch! Ich muss dir zuerst etwas erklären.«
Musst du nicht, dachte ich. Das kann Cyril auch gleich selber tun. Denn so viel war mir inzwischen klar: Ich hatte den richtigen Riecher gehabt.
Ohne mich um Jane zu kümmern oder darauf zu achten, ob Gordy mir ebenfalls folgte, riss ich die Tür auf und stürmte in den Garten hinaus. Mit ein paar Schritten war ich am Teich – ich zog meine Haihaut aus der Gesäßtasche, ließ Sneakers, Jeans und T-Shirt zu Boden fallen – und sprang.
Das Wasser war überraschend kühl und salzig und zum Glück viel weniger trüb, als ich befürchtet hatte. Trotzdem brauchte ich ein paar Sekunden, um mich zu orientieren. Dass meine Beine sich zu einem Haischwanz zusammenschlossen, spürte ich fast gar nicht, der erste Atemzug unter Wasser kostete mich allerdings ein wenig Überwindung.
Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich in die weit aufgerissenen Augen des Jungen, dann stob er davon und verschwand hinter einer hohen weinrot schimmernden Pflanze.
Aufmerksam ließ ich meinen Blick über die Unterwasserlandschaft gleiten, die Jane für ihn geschaffen hatte. Der Teich war wirklich nicht klein und zudem ungewöhnlich tief. Es gab sogar ein mit Muscheln übersätes Riff und auch ein paar Krebse und Fische. Dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, dass dieser Platz als ständiger Aufenthaltsort für einen Nix geeignet war, und noch mehr fragte ich mich, wo sich ein so großes Wesen wie Cyril wohl versteckt halten könnte, da bemerkte ich plötzlich unter mir eine Bewegung.
Meine Reaktion war ein Reflex, ich dachte nicht eine Sekunde darüber nach. Mit einem einzigen Flossenschlag schoss ich auf den Grund zu und bekam den dunklen Leib, der sich aus dem sandigen Boden erhob und ebenfalls hinter die weinrote Pflanze flüchten wollte, mit den Händen zu fassen.
Unter normalen Umständen wäre er ganz sicher problemlos mit mir fertiggeworden, aber er war verletzt – wie sehr, wurde mir erst in dem Moment klar, als ich seinen Schrei spürte, der jede einzelne meiner Zellen durchdrang und sogar das Wasser im Teich zum Vibrieren brachte. Die zarte Haihaut-Hülle, die seinen Körper umgab, war an unzähligen Stellen eingerissen. An seinen Flanken hing sie zum Teil in langen Fetzen herab. Blut, Schrunden oder Bisse waren nicht zu sehen, aber dort, wo seine menschliche Haut mit Meerwasser in Berührung gekommen war, hatte sie sich tiefblau verfärbt. Cyril sah aus, als wäre er in eine heftige Schlägerei geraten.
Sein Anblick schockierte mich bis ins Mark, und es kostete mich eine ungeheure Willensanstrengung, ihn nicht einfach loszulassen.
Cyril, bitte, halt still, ich muss mit dir sprechen.
Alles, was du willst, aber bitte nimm deine Hände weg, flehte er.
Ich verspreche dir, ich werde nicht flüchten. Ich käme ja sowieso nicht weit.
Ich suchte in seinen dunklen Augen nach einem Anzeichen, ob er mich auszutricksen versuchte. Doch ich fand nichts darin außer Schmerz und Qual, und so beschloss ich, ihm zu vertrauen, und gab ihn zögernd frei.
Cyril seufzte auf, entspannte sich und ließ sich langsam wieder zu Boden sinken.
Das ist keine gute Idee, sagte ich. Wenn wir nicht bald zusammen auftauchen, bekommen wir garantiert Besuch von Gordy.
Oh, du hast ihn mitgebracht!, entgegnete Cyril spöttisch. Das ist wirklich … aufmerksam.
Vielleicht weißt du es nicht, weil du bewusstlos warst, aber er hat dir das Leben gerettet.
Oh doch, ich weiß es. Javen und … Er brach ab und schüttelte den Kopf. Sie haben es mir erzählt.
Okay, du willst mir also nicht verraten, wer der andere Nix war.
Cyril senkte den Blick.
Das bedeutet, dass ich ihn kenne, sagte ich. Dass er wahrscheinlich schon sehr lange unter den Menschen lebt und nicht enttarnt werden will.
Die Antwort war Schweigen, und aus Cyrils Miene konnte ich nicht erraten, was er dachte oder fühlte.
Ich lege auch keinen Wert darauf, enttarnt zu werden, wie du dir sicher denken kannst, fuhr ich also fort. Aber früher oder später werden wir einander erkennen.
Cyril musterte mich schweigend.
Du hast es gewusst, oder?, fragte ich. Du hast gewusst, dass ich eine Halbnixe bin. Das würde nämlich erklären, warum du dich überhaupt nicht gewundert hast, mich hier so zu sehen.
Noch immer zeigte er keine Regung, sondern sagte nur: Du hast recht, wir sollten auftauchen.
Mit einem Flossenschlag entfernte er sich von mir und schoss nach oben. Ich folgte ihm, so schnell ich konnte.
Unmittelbar nacheinander sprangen wir aus dem Teich.
Dass ich vor dem Auftauchen sämtliches Wasser aus meinen Lungen presste, geschah ganz automatisch, ich dachte nicht einmal mehr darüber nach, und genauso rasch schlang ich mir auch meine Haihaut um den Körper.
Gleich neben der Bank am Teichrand stand Gordy und ein Stück weiter in Richtung Haus Jane, die ihre Arme schützend um einen hübschen rothaarigen Jungen gelegt hatte.
Alle drei starrten uns an.
Zu meiner Verwunderung ignorierte Cyril Gordy völlig und lief stattdessen mit geballten Fäusten auf Jane zu. »Warum hast du ihnen mein Versteck gezeigt?«, fauchte er.
»Lass sie in Ruhe!«, rief ich. »Sie hat dich nicht verraten. Ich bin von selbst drauf gekommen.«
Ich eilte so blindlings hinter Cyril her, dass ich nicht auf meine Kleidungsstücke auf dem Rasen achtete. Mein rechter Fuß verfing sich in der Jeans, ich geriet ins Straucheln und stürzte der Länge nach auf den Boden.
Ein jäher Schmerz jagte mir den Ellenbogen hinauf und für einen Moment wurde mir schwindelig.
Gordy war sofort bei mir, um mir auf die Füße zu helfen.
»Hast du dir wehgetan?«, fragte er besorgt.
Ich schüttelte den Kopf.
»Zeig her.« Sanft umfasste Gordian mein Handgelenk, doch ich entzog es ihm wieder.
»Ist nicht so schlimm«, sagte ich gepresst und richtete meinen Blick auf Cyril, der sich inzwischen zu mir umgedreht hatte. Im Sonnenlicht sah sein Körper noch viel geschundener aus als unter Wasser. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, welche Qualen er litt.
»Es passiert, wenn die Außenhülle reißt und die Unterhaut zu lange mit den Chemiegiften im Meerwasser in Berührung kommt«, erklärte Jane, die meinen erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkte. Sie hatte den Jungen an die Hand genommen und kam nun langsam ein Stück näher. »Sie greifen den Nixkörper sofort an und fressen sich allmählich in ihn hinein. Die Unterhaut beginnt zu faulen, und die Oberhaut platzt auf, um die Gifte auszuleiten. Die damit verbundenen Schmerzen sind so stark, dass nicht wenige das Bewusstsein verlieren, ehe sie es schaffen, sich in den Meeresboden einzugraben. Dort nämlich wird der Fäulnisprozess aufgehalten. Die Kristalle des Erdbodens absorbieren die Gifte und versorgen den Organismus mit den nötigen Mineralien. Die Hülle kann wieder heilen. Das Ganze dauert allerdings eine Weile. Cyril müsste noch mindestens zwei Wochen im Teich bleiben, um ganz gesund zu werden.«
»Sei doch still«, zischte er. »Siehst du denn gar nicht, dass Elodie Schmerzen hat?«
Was? »Ich?«
»Ja, du«, knurrte Cyril.
Ich wollte auflachen, so absurd war das Ganze, aber Gordy beanspruchte nun meine komplette Aufmerksamkeit.
»Gib mir deine Hand«, sagte er so eindringlich, dass ich ihn einfach ansehen musste.
»Warum?«, fragte ich ungeduldig. »Sie ist völlig in Ordnung.«
»Ist sie nicht.«
»Gordian hat recht«, hörte ich Jane sagen. »Du kannst froh sein, wenn du dir nichts gebrochen hast.«
»Unsinn, ich …« Die Worte erstarben in meiner Kehle, denn nun kam der Schmerz in meinem Unterarm scharf und pulsierend zurück. Die Haut über meinem Handgelenk leuchtete tiefrot und schwoll zusehends an. »Aber ich bin doch bloß gestolpert«, stammelte ich. »Ich habe mich einfach nur abgestützt. Es kann überhaupt nicht sein, dass …«
»Ganz ruhig, Elodie«, flüsterte Gordy.
Seine Stimme strich mir über die Haut wie eine lindernde Salbe. Vorsichtig umfasste er meinen Unterarm und berührte die Stelle über dem Handgelenk mit seinen Lippen.
Mit jedem Kuss löste sich der Schmerz mehr und mehr auf, bis nichts weiter zurückblieb als ein zartes Kribbeln und eine wohlige Wärme, die meine Knochen durchflutete. Es fühlte sich an, als wäre nie etwas gewesen.