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Nachdem Ruby sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, entschieden sie und Ashton, zu ihm nach Hause zu fahren, wo Ruby dann auch übernachten wollte. Ich hatte den Augenblick, in dem ich wieder mit Gordy allein war, kaum erwarten können, denn bisher hatte er keine einzige der Fragen beantwortet, mit denen ich ihn gedanklich bestürmt hatte.

»Wieso heute? Was ist mit dieser Nacht? Und was, Gordy – was wird sich entscheiden?«

Er schüttelte nur den Kopf, wartete nicht einmal, bis ich das Fahrrad abgestellt hatte, sondern lief auf das Cottage zu und schlüpfte durch die Tür ins Haus.

»Verdammt noch mal!«, fluchte ich. Es machte mich wütend, wenn er nicht mit mir redete, vor allem aber machte es mir Angst.

Ich kümmerte mich nicht um Tante Grace, die gerade frisch gewaschene Bettwäsche und Handtücher für die ersten Feriengäste auf die Leine hängte und mich mit einem Stirnrunzeln bedachte, sondern folgte Gordian hastig durch den Flur und die Treppe hinauf in mein Zimmer.

»Was ist heute Nacht?«, schrie ich, nachdem ich die Tür hinter mir zugeschlagen hatte.

»Schsch«, mahnte er, nahm mich in den Arm und legte mir seine Hand über den Mund. »Neumond«, sagte er dann.

Und was bedeutet das?

Er lächelte bitter. Kannst du dir das nicht denken?

Doch, das konnte ich. Zu- und abnehmender Halbmond, Neumond und Vollmond waren die Phasen, in denen Kyan, Zak und Liam versuchen könnten, das Meer zu verlassen.

»Der volle Mond hat zwar die größte Kraft, die Finsternis, die bei Neumond herrscht, bietet jedoch die Chance, unbemerkt an Land zu gehen«, sagte Gordy, während seine Finger sanft meinen Hals hinunter und über meine Schulter glitten. »Wie ich Kyan einschätze, wird er sich das zunutze machen. So oder so bedeutet dieses Unterfangen ein großes Risiko für ihn, denn er kann nicht sicher sein, ob es ihm ohne mich gelingt. Wenn es schiefgeht, wird er seine Führungsposition in der Allianz oder sogar sein Leben verlieren.«

»Okay.« Energisch schob ich Gordys Hand beiseite. »Und was machen wir jetzt? Können wir das irgendwie verhindern?«

»Nein. Aber natürlich werde ich nachsehen …«

Ich komme mit.

Nein, Elodie. Ganz sicher nicht. Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass Kyan noch einmal die Gelegenheit bekommt, dir etwas anzutun.

»Sei nicht albern«, erwiderte ich. »Seit meiner letzten Begegnung mit ihm hat sich einiges geändert. Ich bin sicher, dass ich ihm inzwischen gewachsen bin.«

Bist du nicht!

Gordy!

»Elodie.« Er umfasste meine Schultern und tauchte seinen türkisgrünen Blick in meine Augen. »Bitte glaub mir, ich weiß es besser«, sagte er eindringlich. »Und deshalb gehe ich allein. Du bleibst unten im Haus bei deiner Großtante, und ich verspreche dir, ich werde mich nicht auf eine Auseinandersetzung mit ihnen einlassen. Ich will nur nachschauen, ob es ihnen gelingt, an Land zu kommen.«

»Und wenn? Was ist dann?«

»Dann müssen wir neu nachdenken«, gab er ausweichend zurück. »Vielleicht bleibt uns am Ende doch nichts anderes übrig, als meine Familie zu suchen und um Hilfe zu bitten.«

Das schien mir kein schlechter Plan zu sein. Sollten Kyan, Zak und Liam tatsächlich heute auf Sark oder Guernsey an Land gehen, wären sie die nächsten vier Wochen an die Kanalinseln gebunden und Gordy könnte gefahrlos in den Atlantik hinausschwimmen.

Aber dann durchzuckte mich ein erschreckender Gedanke.

»Was ist, wenn Jane uns getäuscht hat?«, fragte ich. »Wenn sie Javen Spinx nicht um Hilfe bittet, sondern die Haie zusammentrommelt und …«

»Das glaube ich nicht«, fiel Gordian mir ins Wort. »Sie wird nichts tun, was mir schadet.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?« Es machte mich verrückt, dass er auf Jane nichts kommen lassen wollte. Er kannte sie doch gar nicht!

Ich weiß es einfach!

Aber sie ist eine Hainixe, hielt ich dagegen. Es könnte ihr Talent sein.

Gordy schwieg.

»Auch das glaube ich nicht«, sagte er schließlich. »Ihre Gefühle waren echt. Da bin ich mir ganz sicher.«

Es blitzte in seinen Augen und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. Doch noch ehe sich das kleine Grübchen über seiner Oberlippe gebildet hatte, hatte ich meinen Blick gesenkt. Ich wollte mich nicht von ihm beruhigen lassen. Nicht jetzt, und schon gar nicht, wenn er dadurch meine Entschlusskraft zu schwächen versuchte.

»Wie auch immer«, entgegnete ich entschieden. »Ich lasse dich auf keinen Fall alleine gehen. Wo willst du überhaupt nach ihnen suchen? Hier an der Küste? Oder auf Sark?«

Gordy ließ seine Hände von meinen Schultern gleiten und wandte sich dem Fenster zu. »Sobald die Sonne untergegangen ist, werde ich zur Südküste schwimmen und mich eine Weile dort aufhalten, um mögliche Signale von ihnen zu empfangen «, antwortete er. »Es könnte sein, dass sie sich zuerst an ein paar anderen Mädchen auf Sark abreagieren wollen.«

Das müssen wir verhindern! Es darf kein Opfer mehr geben.

Gordy reagierte nicht, sondern stand vollkommen reglos da und schwieg beharrlich. Ich konnte keinen einzigen seiner Gedanken auffangen.

»Wir schaffen es nicht, stimmt’s?«, fragte ich mit einem Zittern in der Stimme. »Wir können es nicht verhindern.«

»Nein«, sagte er. »Weder können wir sie im Kampf besiegen noch irgendein Mädchen davon abhalten, sich auf sie einzulassen. «

»Es ist also absolut sinnlos …«

»Daran will ich nicht denken.«

Ich starrte auf die samtige Haut in seinem Nacken und die wirren blonden Locken, die sich dort kräuselten, und tiefe Verzweiflung überfiel mich.

Du darfst dich nicht in Gefahr begeben, Gordy, das lasse ich nicht zu.

Ich kann aber auch nicht hierbleiben und die Augen verschließen, gab er zurück. Hätte ich mich dem, was mich an Land gezogen hat, mit meiner ganzen Kraft widersetzt, wäre das alles nicht passiert. Lauren und Bethany wären noch am Leben und Kyan könnte es nicht noch einmal versuchen …

»Es ist nicht deine Schuld!«, unterbrach ich ihn flehend. »Das darfst du nicht einmal denken.«

Gordians Schultern hoben sich unter einem tiefen Atemzug, dann drehte er sich zu mir um. »Wessen Schuld ist es dann?«, erwiderte er. »Die des Meeres?« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie an Land kommen dürfen.«

»Aber dann wären wir uns nicht begegnet!«

Gordy senkte den Blick.

Ich will dich nicht verlieren!

»Ich dich auch nicht, Elodie!«, wisperte er. »Und deshalb bitte ich dich: Lass mich allein nachsehen. Ich bin erfahrener als du, kenne jede Höhle und jedes Riff. Ich weiß, wo ich mich verstecken kann. Und ich verspreche dir: Mir wird nichts passieren. Ich komme zu dir zurück. So wie immer.«

Von seiner Stimme ging ein Vibrieren aus, so fein, dass es kaum zu hören war, dafür spürte ich es umso deutlicher. Es tanzte auf meinem Trommelfell und prickelte auf meiner Haut.

Gordian sah mich an, einen Atemzug später stand er direkt vor mir. Er fasste den Saum meines Pullis und zog ihn mir über den Kopf.

»Gordy«, murmelte ich, »was …?«

Seine Antwort war ein Kuss. Während seine Lippen meine umschlossen, hob er mich auf den Arm und trug mich zum Bett. Sanft ließ er mich in die Kissen hinunter, legte sich auf mich und küsste mich weiter. Seine Lippen und seine Zunge, seine Haut und sein Duft, alles an ihm erschien mir verlockender als je zuvor, und obwohl er nicht sprach, ließ das Vibrieren nicht nach, sondern verstärkte sich von Sekunde zu Sekunde und brachte jede einzelne meiner Zellen zum Schwingen.

Ein glühend heißer Schauer jagte durch meinen Körper. Zärtlich erwiderte ich seine Küsse, während meine Hände sehnsüchtig über seinen Rücken streichelten. Ich hörte auf zu denken und hatte keine Kontrolle mehr über das, was ich tat oder Gordy mit mir tun ließ.

Ich hörte ihn keuchen und überließ mich dem Druck seiner Hände. Seine Berührungen waren fordernd und seine Küsse hemmungslos und unersättlich. Wie eine Schlange glitt seine Zunge über meinen Hals und mein Gesicht und plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz in der linken Wange.

Ich stöhnte auf und mit dem nächsten Atemzug sog ich einen fremden, ekelerregenden Duft in mich ein. Die Hitze in mir wurde zu einem Rauschen, das durch meinen Unterleib pulsierte und sich in rasender Geschwindigkeit zu einem brodelnden Zorn auswuchs, so gewaltsam, als entspränge es einem wilden, ungezähmten Tier.

Unbändig vergrub ich meine Finger in Gordians Haaren, zerrte ihn zu mir herunter und atmete gierig seinen fremden, feindlichen Geruch. Ich riss meinen Mund weit auf, spürte, wie seine Haut unter meinen Zähnen aufsprang und süßes Blut meine Mundhöhle füllte. Ich war wie von Sinnen, ich wollte nur noch eines – töten!

STOPP!

Es war bloß ein Gedanke. Aber er katapultierte mich augenblicklich in die Wirklichkeit zurück.

Gordian und ich knieten splitterfasernackt einander gegenüber auf meinem Bett. Die Decke war zerwühlt und triefte vor Nässe, die Kissen und unsere Klamotten lagen kreuz und quer über dem Boden verteilt, sogar das Laken war heruntergerissen.

Ich sah die Wunde in Gordys Gesicht, das feine Rinnsal in seinem Mundwinkel, den entsetzten Ausdruck in seinen Augen – und ich sah den tropfenförmigen Kristall, der unter seinem Lid hervorquoll. Für einen kurzen Moment spiegelte sich darin auf geradezu magische Weise das Türkis seiner Iris, dann löste er sich mit dem nächsten Wimpernschlag, rollte an seinem Nasenflügel entlang und fiel auf die Matratze hinunter.

Ich spürte einen kurzen, tiefen Schmerz in meinem Herzen und blickte wie gebannt auf den Kristall, der, anders als eine gewöhnliche Träne, nicht im Stoff des Überzugs zerfloss, sondern in einer Steppnaht der Matratze liegen blieb.

Aus dem Augenwinkel registrierte ich das silbrige Schimmern von Gordys Delfinhaut und nur eine Sekunde später wehte ein feiner Luftzug seinen vertrauten Duft zu mir herüber. Ehe ich etwas denken oder gar sagen konnte, war er bereits durch das Fenster verschwunden, und ich blieb wie paralysiert in meinem Zimmer zurück.

Eine ganze Weile war ich außerstande, mich zu rühren. Zitternd hockte ich auf dem Bett und versuchte zu begreifen, was geschehen war.

Erst als ich Tante Graces Schritte auf der Treppe vernahm, ging ein Ruck durch meinen Körper. Blitzschnell sprang ich auf, griff nach meiner Jeans und zerrte meine Haihaut her aus. Mit einem Satz war ich beim Fenster, schlüpfte durch den Spalt und schwang mich über das Balkongeländer in den Garten hinunter. Mein Sprung glich dem einer Katze und das Aufkommen meiner Füße im Gras dem einer Feder. Mit langen Sätzen sprang ich die Gartenterrassen hinunter – ich musste mich beeilen, wenn ich nicht Gefahr laufen wollte, dass meine Großtante oder einer der Nachbarn mich bei dieser Witterung nackt zu den Klippen hinunterrennen sah.

Die Felsen waren glitschig vom Regen und der aufbrandenden Hochflut, doch meine Fußsohlen hafteten so gut daran, dass die Sorge, ich könnte ausrutschen oder sogar stürzen, überflüssig war.

Ich schlang mir die Haut um die Hüften, und als ich kurz darauf ins Meer eintauchte, schlossen sich meine Beine in Sekundenbruchteilen. Das Wasser strömte in meine Lunge und füllte mich mit neuem Leben. Einige wenige Flossenschläge reichten aus, um die Westküste Guernseys mehrere Hundert Meter hinter mir zu lassen.

Einem inneren Instinkt folgend, hielt ich mich in einem lang gestreckten Bogen in Richtung Süden, erkannte die Felslandschaft der Moulin Huet Bay unter mir und erreichte schließlich unbekanntes Gewässer.

Zwischen zwei dicht beieinanderstehenden, spitz aufragenden Riffen suchte ich Schutz, drückte mich in eine mit weichen Algen ausgebettete Felsspalte und versuchte, mich zu orientieren. Ein Schwarm junger Sprotten schoss an mir vorbei, und über die Finger meiner rechten Hand, mit der ich mich am Felsen abstützte, krabbelte ein winziger Krebs.

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf Gordian. Wenn er sich darauf ausgerichtet hatte, Kyans Signale zu empfangen, müsste er eigentlich auch meine Gedanken wahrnehmen.

Wo bist du?

Ich dachte es, so intensiv ich konnte, stellte mir vor, dass es sich in jedem einzelnen Wassertropfen zwischen Guernsey und Sark ausbreitete, und lauschte angespannt, aber da war nichts. Nichts außer dem gewohnten Rauschen des Meeres, dem Brummen von Schiffsmotoren und den feinen sirrenden und gluckernden Geräuschen, die die Bewegungen der Pflanzen und Tiere in den Felsspalten verursachten.

Enttäuschung breitete sich in mir aus und setzte sich als steinharter Brocken in meiner Brust fest. Ich hätte geschworen, dass er in meiner Nähe war – so wie sonst auch immer. Er musste doch wissen, dass es mir nicht im Traum eingefallen wäre zurückzubleiben. Warum hatte er nicht auf mich gewartet?

Gordy, du kannst mich nicht daran hindern, dir zu folgen, schickte ich trotzig in den Kanal hinaus.

Doch wieder bekam ich keine Antwort.

Verdammt noch mal … Wir müssen reden!

Nichts.

Also gut, dann schwimme ich in den Atlantik hinaus und suche Jane und Javen Spinx.

Stille.

Und dann plötzlich sah ich sie, vier große Schatten. Nur eine Nuance dunkler als das Meerwasser glitten sie lautlos in östlicher Richtung zwischen den Riffen hindurch und hielten dabei langsam auf den Grund zu.

Instinktiv zog ich den Kopf ein und duckte mich tief in die Spalte. Mein Herz klopfte wie wild und meine Gedanken rasten durcheinander.

Zu dumm, dass ich nicht genau hingeschaut hatte, sonst hätte ich jetzt vielleicht gewusst, ob es sich um Nixe oder um Tiere handelte. Gewöhnliche Haie konnten es allerdings nicht sein, weil sie normalerweise nicht in Formationen schwammen. Und wie Hainixe sich diesbezüglich verhielten, wusste ich leider nicht.

Ich stieß einen leisen Fluch aus, so sehr ärgerte ich mich über mich selbst. Warum nur hatte ich nicht auf Gordian gehört! Mein Unwissen, was die Gegebenheiten des Meeres anging, meine Unerfahrenheit als Nixe und mein fast schon kindischer Wunsch, jede Sekunde in seiner Nähe sein zu wollen, konnten blitzschnell zu einer tödlichen Gefahr für uns beide werden. Gordy hatte das erkannt, nur ich hatte es nicht sehen wollen und war sogar so töricht gewesen, meine Gedanken in jeden Winkel des Ärmelkanals hinauszusenden.

Wütend biss ich mir in die Unterlippe. Jetzt konnte ich nur noch beten, dass niemand außer Gordian in der Lage war, meine Botschaften aufzufangen – und dass er sie gehört hatte und entsprechend besonnen handelte.

Ich beschloss, mich noch eine Weile in der Spalte verborgen zu halten, bis ich mir einigermaßen sicher sein konnte, dass die vier Wesen das Areal verlassen hatten. Dann würde ich zurückschwimmen und in meinem Zimmer auf Gordy warten. Es blieb mir gar nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass er seine Sache gut machte und sich nicht unnötig in Gefahr begab. Und über das, was vorhin zwischen uns im Bett passiert war, konnten wir später immer noch reden.

Angesichts dessen, was für die Menschen, die Hai- und die Delfinnixe auf dem Spiel stand, waren meine Ängste und Gefühle zweitrangig. Ich musste sie zurückstellen und irgendwieallein mit der Situation zurechtkommen – und zum Teufel noch mal, das würde ich auch!

Ich war gerade im Begriff, meine Arme anzulegen und den ersten Flossenschlag zu tun, da drang ein seltsames Geräusch an meine Ohren. Es schienen menschliche Laute zu sein, eine Art Zischeln oder Nuscheln, und es kam von der anderen Seite des Riffs.

Die Nixe!, schoss es mir durch den Kopf. Sie waren gar nicht weiter in Richtung Sark geschwommen, wie ich im Stillen gehofft hatte, sondern befanden sich noch immer in meiner unmittelbaren Nähe.

Augenblicklich hörte ich auf zu atmen und verharrte lauschend auf der Stelle.

Tatsächlich schälten sich aus den Zischtönen nun einzelne Worte heraus, die sich allmählich zu klar verständlichen Sätzen verdichteten.

Du kannst ihm nicht trauen.

Mehr als so manch anderem von euch.

Und wenn es nicht funktioniert?

Darüber können wir immer noch reden, wenn es tatsächlich so ist.

Und was ist mit dem Plonx?

Mich interessiert sein Mädchen.

Ja, aber du wirst ihn doch wohl nicht am Leben lassen!

Hmmm, zuerst sein Mädchen, dann sehen wir weiter.

Ah, du willst, dass er leidet.

Du hast es erfasst. Leiden ist qualvoller als Sterben. Für den Plonx könnte der Tod sogar eine Erlösung sein …

… die du ihm nicht gewähren willst.

Ohne das Mädchen bleibt ihm nichts.

Ich verstehe. Allerdings vergisst du seine Familie. Und Kirby. Trotzdem: Ich muss sagen, dein Plan gefällt mir … irgendwie.

Er wird dir noch mehr gefallen, wenn du darüber nachdenkst, dass seinem Leben ohnehin besser andere ein Ende bereiten sollten.

Ja, du hast recht

Wie immer, mein Freund, wie immer!

Die Sätze zerfielen wieder in undeutlich genuschelte Worte und schließlich vernahm ich nur noch den ursprünglichen Zischlaut. Einen Moment lang war ich verwirrt, dann kapierte ich, dass es an mir lag. Ich hörte nicht mehr richtig zu, sondern hatte bereits damit begonnen, das Gespräch in seine Bestandteile zu zerlegen.

Keine Frage, die vier Nixe waren Delfine! Sie würden versuchen, an Land zu gehen, ob an der Küste von Guernsey oder auf Sark, vermochte ich nicht zu sagen. Allerdings zweifelte ich nicht daran, dass es sich bei einem der beiden, die ich eben belauscht hatte, um Kyan handelte.

Es war gerade mal eine Woche her, dass er versucht hatte, mich umzubringen, und nach diesem Gespräch eben mit einem seiner Freunde konnte ich mir absolut sicher sein, dass er nicht aufgeben und es wieder und wieder versuchen würde. Aus Neid und Rachedurst, vielleicht auch nur aus purer Lust am Töten, vor allem aber, um Gordy zu quälen.

Mein Herz schmerzte vor Entsetzen über eine solch abgrundtiefe Boshaftigkeit, und widerstrebend wurde mir klar, dass Gordian und ich hier nicht bleiben konnten. Wir mussten fort, möglichst weit weg von den Kanalinseln, und uns irgendwo in einem anderen Teil der Welt eine Insel suchen, wo wir in Frieden leben konnten. Und wir mussten es schnell tun. Ohne Abschied und ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.

Bei der Vorstellung, Mam, Sina, Tante Grace, Ruby und Ashton das anzutun und sie alle für lange Zeit, möglicherweise sogar nie mehr wiederzusehen, legte sich ein unerträglicher Druck auf meine Brust, und mit einem Mal spürte ich nur noch Wut. Grenzenlose Wut, ja fast schon Hass auf Kyan, dem das Schicksal anderer vollkommen gleichgültig zu sein schien. Der offenbar auch seine Freunde nur benutzte und einzig und allein seinem Egoismus und seiner verletzten Eitelkeit folgte.

Es war eine unbändige, brodelnde Energie, die da aus meinem Inneren aufstieg, und es war unmöglich, sich ihr zu widersetzen. Die Entscheidung fand nicht in meinem Kopf statt, sondern in meinem Körper. Innerhalb eines Sekundenbruchteils richtete sich alles in mir auf ein Ziel aus, und nur einen Augenblick später hatte meine Schwanzflosse mich auch schon über das Riff getragen.

Kyan und seine drei Freunde waren nicht mehr da, aber sie hatten Spuren hinterlassen. Aufgebrochene Schalentiere zeugten von einer Mahlzeit, an einigen Stellen war der Grund unnatürlich aufgeworfen und vier Furten von der Breite einer Delfinflosse zogen sich durch den Sand in Richtung Osten. Außerdem konnte ich sie riechen. Ihr Duft war herb und durchdrungen von einer Lüsternheit, die heftige Übelkeit in mir auslöste. Von meinem Zorn angetrieben, stob ich in geradezu irrwitziger Geschwindigkeit durch den Kanal.

Die vier Furten hatten sich längst verloren, doch der Geruch der Delfinnixe haftete wie ein Brandmal hinter meiner Stirn, er führte mich durch dichte Algenkissen und über Untiefen und lotste mich schließlich in eine immer bizarrer werdende Unterwasserfelslandschaft. Ich wusste, dass ich mein Ziel erreichen würde, als ich in die dunkle Öffnung eines Höhleneingangs glitt.

Der Duft intensivierte sich, und instinktiv drosselte ich mein Tempo. Ich stellte meine Sinne auf Empfang, analysierte jedes Geräusch, und zu meiner Überraschung erfasste mein Blick selbst in dieser trüben Finsternis jede noch so kleine Bewegung.

Der Höhlengang verengte sich zunehmend, und schon bald hatte ich Mühe, meinen Körper zwischen den Felsen hindurchzuzwängen, ohne mich an den unzähligen scharfkantigen Vorsprüngen und Steinspitzen zu verletzen. Ich spürte, dass das Wasser um mich herum allmählich kälter wurde, und mit einem Mal verdichtete sich auch die Dunkelheit so sehr, dass ich kaum noch etwas erkennen konnte.

In diesem Moment wurde mir klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Am liebsten wäre ich zurückgeschwommen, aber an ein Umkehren war in dieser Enge gar nicht zu denken. Ich konnte meine Schwanzflosse kaum noch hin und her bewegen und mein gutes Sehvermögen nutzte mir in dieser absoluten Finsternis auch nichts mehr. Jede Berührung einer Alge auf meiner Haut, jede Garnele, die sich in meinem Haar verfing, jedes Gluckern in einer der vielen bleistiftdünnen Felsröhren versetzte mich nun in Panik.

Ich musste mich zwingen, nicht nach Gordy zu rufen. Auf keinen Fall durfte er mir in diesen Höhlengang folgen. Meine Muskeln waren bis in die letzte Faser gespannt und mein Herzschlag brachte das Wasser um mich herum zum Pulsieren. Trotzdem schwamm ich tapfer weiter, in der ständigen Erwartung, urplötzlich Kyans dunkelgrüne Augen vor meinem Gesicht aufleuchten zu sehen, und zugleich getrieben von der Hoffnung, dass sich doch noch ein Ausweg finden würde.

Viele unerträglich lange Minuten tat sich überhaupt nichts, dann stieg die Wassertemperatur ganz unvermittelt wieder an und die Konturen des Felstunnels schälten sich aus der Dunkelheit hervor. Kein Zweifel, von irgendwo drang Tageslicht herein. Der Gang beschrieb jetzt eine Kurve, vielleicht mündete er dahinter in einer Grotte.

Zuversicht erfasste mich, und ich versuchte, ein wenig schneller voranzukommen. Doch noch ehe ich das Ende des Ganges erreichte, schoss etwas Dunkles auf mich zu. Es war mindestens so groß wie ich und es verströmte einen seltsam vertrauten süßlichen Duft.

Zurück!, zischte es.

Ich kann nicht, der Gang ist zu eng.

Ich kann nicht, wird es in deinem Leben ab sofort nicht mehr geben, war die prompte, zutiefst beunruhigende Antwort, und als Nächstes erhielt ich eine Anweisung: Senk deinen Kopf. Gesicht nach unten!

Alles in mir sträubte sich, diesem Befehl zu folgen. Trotzig blickte ich dem, der da vor mir war, ins Antlitz, und ich erkannte das eckige Maul eines Hais und ein winziges schwarzes Auge, das schräg darüber aufblitzte.

Wer bist du?

Kopf runter!

Nein! Zuerst sagst du mir, wer du bist!

Der Hai zögerte, allerdings nur einen kurzen Moment.

Also gut, du hast es nicht anders gewollt. Entschlossen drückte er mir sein Maul ins Gesicht und schob mich mit aller Kraft in den Tunnelgang zurück.

Verdammt noch mal, was soll das?, fuhr ich ihn an. Willst du, dass ich mir die Haut aufschürfe?

Keine Sorge, entgegnete er. Ich bin derjenige von uns beiden, der eine empfindliche Außenhülle hat, und je weniger Widerstand du leistest, desto weniger Schmerz fügst du mir zu.

Seine Worte bohrten sich wie ein Dorn in meine Brust und ich schämte mich zutiefst.

Schon gut, Elodie, kam es überraschend sanft von ihm. Lass einfach locker.

Cyril, dachte ich. Eigentlich war es nicht möglich, dass seine Wunden bereits verheilt waren – aber wer sonst sollte es sein?

Ich hörte auf, mich zu wehren, presste die Arme eng an meinen Körper und ließ mich bereitwillig von ihm durch den Felsengang schieben. Um es ihm so leicht wie möglich zu machen, verzichtete ich sogar darauf, ihn durch weitere Fragen abzulenken, und geduldete mich damit, bis wir das Ende des Tunnels erreicht hatten und uns wieder frei bewegen konnten.

Er war groß, mindestens zweieinhalb Meter lang, und seine Außenhülle ziemlich dunkel, sodass es mich nicht weiter verwunderte, dass ich ihn in der Enge und Finsternis des Höhlengangs nicht gleich erkannt hatte. Jetzt allerdings musste ich nicht zweimal hinsehen, um zu realisieren, dass es sich nicht um Cyril handelte. – Und dass er nicht allein war.