Es war wie eine Implosion im Stockdunkeln. Die Außenwelt existierte nicht mehr und in meinem Inneren flogen mir Brocken so hart wie Mauersteine um die Ohren.
Elodie!, hörte ich dazwischen Gordys Stimme. Bitte, bleib hier. Ich hab doch nur dich. Er hatte meine Schultern gepackt und schüttelte mich. Elodie! … Elodie!!!
Mittlerweile waren die Steine allesamt niedergeprasselt. Eine dicke Staubwolke wirbelte umher und sank nun langsam auf mich herab. Darüber wurde es wieder heller, ich sah etwas Weißes, aber ich konnte nicht atmen, denn meine Nase, mein Hals und meine Lunge waren voller Staub.
»Elodie!« Er schlug mir ins Gesicht und dann veränderte sich plötzlich seine Stimme. Sie wurde schrill und panisch und sie gehörte auch nicht mehr zu ihm. »Atme! Verdammt noch mal!«
Es war nicht Gordy, es war Mam.
Ich lag neben meinem Schreibtisch auf dem Boden und sah in ihre riesigen Augen.
»Um Gottes willen, Elodie!«, stieß sie hervor. Dann drückte sie mich an sich. »Und ich dachte schon … Ich dachte schon …« Ich spürte ihre Lippen auf meiner Wange und an meinem Ohr und ihre Hände in meinem Nacken und auf meinem Rücken. »Komm hoch … komm schon, Elodie, hinsetzen.«
Widerstandslos ließ ich mich hochziehen. Es gab nichts Einfacheres, als ihrer Stimme zu folgen.
»Was ist passiert?«, fragte sie und streichelte mein Gesicht.
Ihre Hände waren ebenso warm wie ihr Blick, ich hätte mich darin auflösen können.
»Ich bin hier«, wisperte ich. »Ich bin wieder da.«
Und dann heulte ich los.
Keine Ahnung, wie lange wir so dagesessen hatten, uns fest in den Armen haltend und sanft wiegend. Ich wusste nicht einmal mehr, wann ich mit dem Weinen aufgehört hatte, ich wusste nur, dass es wehtat, höllisch weh, wieder ganz und gar hier zu sein – und dass es dennoch richtig war.
Schließlich war es meine Mutter, die sich von mir löste und mich mit ernsten Augen ansah. »Bitte sag mir, was passiert ist, Elodie.«
»Das ist nicht so leicht zu erklären.« Suchend ließ ich meinen Blick über den fliederfarbenen Teppichboden gleiten. »Wo ist die Schachtel?«
»Welche Schach… Ach so, hier!« Meine Mutter hob etwas auf, das neben ihr lag, und setzte es auf meine Handfläche.
Es war der Deckel.
»Und wo ist der Rest?«, fragte ich, da sah ich sie auch schon – Gordys Träne. Sie war unter meinen Schreibtisch gerollt.
Ich streckte mich aus, nahm sie vorsichtig zwischen meine Finger und legte sie behutsam in den Deckel der Schachtel.
Mam runzelte die Stirn. »Und was ist das? Eine Perle?«
»So etwas Ähnliches.« Nur unendlich viel wertvoller. Es grenzte an ein Wunder, dass Tante Grace sie in der Steppnaht meiner Matratze gefunden hatte.
»Und was hat es zu bedeuten?«, fragte meine Mutter.
»Alles«, sagte ich leise. »Dass ich wieder hier bin … dass ich weiterleben kann.«
Mam schluckte, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich verstehe nicht.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich weiß.«
Während ich die kristallisierte Träne betrachtete und dagegen ankämpfte, dass Trauer und Schmerz mich übermannten, hielt meine Mutter ihren Blick ängstlich und erwartungsvoll zugleich auf mich gerichtet. Die Frage, ob ich ihr alles erzählen würde, stellte sich mir nicht mehr, ich wusste nur noch nicht so recht, wo ich beginnen sollte.
»Es gibt einen Grund, weshalb Tante Grace vorgeschlagen hat, dass ich für eine Weile zu ihr kommen soll«, sagte ich schließlich.
Mam nickte. »Ja, sicher, wegen deines Va…«
»Nein«, unterbrach ich sie. »Natürlich war das auch ein Grund, aber nicht der entscheidende. Es gibt nämlich ein großes Geheimnis in unserer Familie.«
»Ach ja …?« Meine Mutter stieß einen Schwall Luft aus.
»Ja«, sagte ich. »Und es betrifft deine Großmutter.«
»Also Tante Gracies Mutter?«
Ich nickte. »Ich habe einen Brief«, fuhr ich fort, während ich das Klappfach in meinem Schreibtisch öffnete und ihn herausholte. »Ich habe ihn selber noch nicht gelesen, aber ich weiß ungefähr, was drinsteht.«
»Weil Tante Grace es dir erzählt hat?«
»Ja«, sagte ich noch einmal. »Sie und Oma Holly sind nämlich nur Halbschwestern … gewesen.«
»Was?«
Unglauben – vielleicht war es auch eher Fassungslosigkeit – breitete sich auf Mams Gesicht aus, und schon war ich mir wieder unsicher, ob es wirklich klug war, ihr die ganze Wahrheit zu sagen. Im Augenblick, jetzt und hier, da ich zusammen mit ihr auf dem Boden in meinem Zimmer saß, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mein Geheimnis mit ihr teilen zu können.
»Aber das hieße dann ja, dass Opa Paul …«, begann Mam stockend.
»Genau«, bestätigte ich, »nicht dein leiblicher Großvater war, sondern …« Mit klopfendem Herzen öffnete ich den Umschlag und zog das Foto heraus. Es hatte den für die damalige Zeit so typischen weißen Zackenrand und es war auch schon ziemlich vergilbt. Trotzdem konnte man den jungen Mann, der darauf abgebildet war, noch recht gut erkennen. »Patton«, vervollständigte ich meinen Satz und reichte meiner Mutter das Foto.
Ihre Hände zitterten, als sie es entgegennahm, und ihre ganze Körperhaltung und ihre Mimik drückten zugleich Neugier und Abwehr aus.
»Patton wie?«, fragte sie leise.
»Nur Patton.«
Mam schüttelte den Kopf. »Sie hat nicht mal seinen Nachnamen gekannt? … Du meine Güte!«
»Er war nicht wichtig«, erwiderte ich, während ich nun den Brief auseinanderfaltete. »Vielleicht hatte er auch gar keinen.«
»Wie bitte?« Meine Mutter sah mich
verständnislos an. Dann schlug sie ihre Beine unter und rutschte so
dicht an mich heran, dass wir die Zeilen meiner Urgroßmutter
zusammen lesen konnten.
Holly, meine Liebste,
wenn Du diesen Brief in Deinen Händen hältst, werde ich bereits unter der Erde ruhen. Mag sein, dass Du es als feige empfindest, dass ich Dir nicht bereits zu Lebzeiten beziehungsweise spätestens nach Pauls Tod von meinem großen Geheimnis erzählt habe, einem Geheimnis, das ja in ganz besonderer Weise auch Dich betrifft. Tatsächlich habe ich über viele Jahre hinweg mit mir gekämpft, mich aber letztendlich immer wieder dazu durchgerungen, es für mich zu behalten. Ich hoffe, vor allem um Deiner selbst willen, dass Du mir das verzeihen kannst. Paul, Gracie und Dich, Euch verband eine so wundervolle Leichtigkeit und Wärme, ich wäre mir schäbig vorgekommen, hätte ich dieses Besondere, das Eure Beziehung ausmachte, so fahrlässig zerstört.
Jetzt steht mein eigener Tod bevor und ich will nicht länger schweigen. Denn nun, da ich es nicht mehr kann, ist es an Dir, ein Auge auf Deine Nachkommen zu haben.
Meine geliebte
Holly, sei bitte ganz gefasst, wenn Du hörst, was ich Dir zu sagen
habe: Du bist kein gewöhnliches Kind.
»… Du trägst das Gen eines Meermenschen in dir«, las Mam nun laut. Ihre Hände zitterten mittlerweile so sehr, dass sie den Brief kaum noch halten konnte. Sie sah mich an. »Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten, Elodie?«
»Dass Patton aus dem Meer kam«, sagte ich und meine Stimme klang furchtbar krächzig. »Er … er war so etwas wie ein Nix. Deine Großmutter ist von ihm schwanger geworden«, fuhr ich stockend fort. »Sie hatte immer Angst, dass Oma Holly sich eines Tages verwandeln würde.«
Mam sah mich irritiert an. »Verwandeln? In was denn, bitte schön?«
Eigentlich hätte sie es sofort begreifen müssen, doch offenbar wehrte sie sich innerlich so sehr dagegen, dass ihr Verstand nicht in der Lage war, die Fäden zusammenzuführen, und anstatt es klar und deutlich auszusprechen und Mam damit womöglich noch mehr zu erschrecken, nahm ich ihr einfach den Brief aus der Hand und las weiter.
»Wie schon in den beiden Jahren zuvor verbrachte ich einen Teil der Sommerfrische auf einer kleinen Insel vor der griechischen Küste. Ich liebte das Meer und war jeden Tag am Strand, um den Wellen und den Seevögeln zuzusehen, und plötzlich stand er vor mir: Patton, der Mann auf dem Foto, dein Vater. Es klingt vielleicht dumm, aber ich war vom ersten Augenblick an wie verzaubert von ihm. Wir verbrachten jede Minute miteinander, saßen stundenlang im Sand, wir küssten und wir liebten uns, und wenn Patton kurz vor Sonnenaufgang für einige Zeit ins Meer zurückkehrte, konnte ich ihm dabei zusehen, wie sich sein Leib in den eines großen grauen Meerestieres verwandelte.«
Mam gab ein leises Keuchen von sich, als ich jedoch innehielt und ihr einen fragenden Blick zuwarf, winkte sie ab und bedeutete mir weiterzulesen.
»Wir sprachen nie über unsere Zukunft und es gab auch keinen Abschied. So unerwartet, wie Patton aufgetaucht war, verschwand er wieder. Zwei Tage vor meiner Abreise wartete ich vergeblich auf ihn. Zu Anfang war ich vollkommen am Boden zerstört. Ich war so entsetzlich traurig und so wund vor Sehnsucht nach ihm, dass ich nicht einmal weinen konnte. Doch schon bald merkte ich, dass ich Leben unter meinem Herzen trug, nämlich dich, meine wundervolle kleine Holly. Und als ich wenig später Paul traf, schient ihr zwei mir ein Geschenk des Himmels zu sein.
Ich habe Paul aufrichtig geliebt, aber ich habe nie so für ihn empfunden wie für Patton. Ihn zu verlieren, war die härteste Prüfung meines Lebens, dennoch möchte ich die Zeit mit ihm nicht missen.«
Ich geriet ins Stocken und musste einmal tief Luft holen, um meine Tränen wenigstens noch für ein paar Sekunden zurückzuhalten. »Ich bin unendlich dankbar für jede Minute, die ich mit ihm verbringen durfte, und nehme meine Liebe mit mir in den Tod«, schloss ich mit bebender Stimme, dann heulte ich los.
Wieder schloss Mam ihre Arme um mich und wiegte mich sanft hin und her. Sie streichelte meinen Rücken, küsste mein Haar und wartete geduldig, bis ich mich wieder beruhigt hatte, und dann stellte sie eine Frage, mit der ich im Leben nicht gerechnet hatte.
»Dein Gordian ist ebenfalls ein Meermann. Hab ich recht?«
Ich nickte und schluckte – immer und immer wieder. Mein Hals war schrecklich trocken und tat so furchtbar weh und abermals rannen mir die Tränen in Sturzbächen über das Gesicht. Sie perlten mein Kinn entlang und fielen in meinen Schoß hinunter, wo sie sich als kleine glitzernde Kristalle in meinen geöffneten Händen sammelten.
»Elodie … was ist das?« Vorsichtig, beinahe ängstlich, berührte meine Mutter die zu Glas erstarrten Tränen.
»Mam«, sagte ich, »Mam …«, und wischte mir schniefend über die Augen. »Holly hat sich nicht verwandelt. U-und du auch nicht, oder?«
»Was?« Es war nur ein Hauch, der über ihre Lippen kam.
War es tatsächlich möglich, dass sie es noch immer nicht begriffen hatte?
»Aber ich, Mam«, flüsterte ich. »Ich habe keine Angst mehr vor dem Wasser. Ich kann viele Meter tief tauchen … Ich kann sogar im Meer atmen.«
Meine Mutter war so blass geworden, dass ihre Haut beinahe durchsichtig erschien. Mir kam es vor, als könnte ich jedes noch so feine Äderchen erkennen. Aber ich konnte sie jetzt nicht schonen. Sie sollte alles wissen.
»Ich bin eine Nixe, Mam, ein Halbwesen. Wenn ich ins Meer tauche, verwandeln sich meine Beine in die Schwanzflosse eines Hais.«