
Ich trocknete Sinas Tränen mit einem Papiertaschentuch, das ich in ihrer Umhängetasche fand, und hakte mich bei ihr unter. Nachdem wir ein paar Schritte gegangen waren, gewann sie allmählich ihre Fassung zurück.
»Puh«, sagte sie seufzend. »Das war echt … hart.«
»Ja, aber es war gut, dass ich endlich hier war.«
Sina nickte. Dann stutzte sie und betrachtete mich verwundert. »Allerdings hast du keine Träne vergossen.«
»Nein«, erwiderte ich schulterzuckend. »Ich glaube, das mache ich erst, wenn ich zu Hause in meinem Zimmer bin … Ich hoffe, du bist nicht böse, wenn ich …«
»Aber ich dachte …«, wollte Sina protestieren, doch dann besann sie sich offenbar und sagte: »Schon okay, El. Na klar sollst du jetzt erst mal für dich sein. Ich meine, wir haben uns zwei Monate nicht gesehen. Was machen da schon ein paar Stunden oder Tage mehr oder weniger aus?«
»Danke«, sagte ich leise und drückte ihren Arm. »… auch dafür, dass du mitgekommen bist.«
»Kein Ding«, meinte sie. »Wozu hat man denn eine beste Freundin? Außerdem hat es mir ja selber gutgetan.« Sina fuhr sich noch einmal mit dem Taschentuch über die Nase, seufzte tief und wechselte dann gekonnt das Thema. »Wirst du jetzt eigentlich wieder zur Schule gehen? Du könntest die Zwölfte bestimmt noch schaffen. Du warst doch immer ganz gut, und Sarah, Bille und ich …«
»Nein«, sagte ich. »Ich glaube, nicht. Ich werde irgendwas Handwerkliches machen. Vielleicht auch eine Ausbildung zur Fotografin.«
»El, du hast dich nie für Fotografie interessiert!«
Da hatte Sina zweifellos recht.
»Außerdem hast du zwei linke Hände!«
»Stimmt«, sagte ich. »Aber irgendwas muss ich ja machen.«
Sie sah mich ungläubig an. »Irgendwas?«
»Zur Schule gehe ich jedenfalls nicht mehr«, entgegnete ich. »Ich bin sicher, dass ich kein Abi brauche.«
»Aber das ist doch absurd«, regte Sina sich auf. »Wie kannst du dir da so sicher sein? Alle Leute, die nicht wissen, was sie später mal machen wollen, gehen so lange wie möglich zur Schule. Es wäre geradezu fahrlässig, wenn du mittendrin abbrichst und …«
»Tu ich ja gar nicht«, fiel ich ihr abermals ins Wort. Ich hatte absolut keine Lust, über meine berufliche Zukunft zu reden, aber ich wusste, dass Sina nicht eher Ruhe geben würde, bis ich ihr etwas Handfestes lieferte. »Ich werde eine Ausbildung beginnen. Ich gehe zu einer dieser Beratungsstellen und hör mir einfach mal an, was es so gibt. Vielleicht gehe ich auch für eine Weile ins Ausland. Australien wäre cool oder Kanada.«
»Na sicher«, brummte Sina. »Und am Ende hängst du genauso in der Luft wie deine Mutter. Die hat sich ja auch nie so richtig für einen Beruf entscheiden können. Womöglich hat sie dir das noch vererbt.«
Das war sogar sehr gut möglich. Auf jeden Fall trug Mam das Nixen-Gen in sich. Schule und Ausbildung waren da sicher nicht vorgesehen und auch nicht notwendig. Die Nixe, die ich kennengelernt hatte, waren gewissermaßen naturbegabt und besaßen darüber hinaus noch Talente, von denen die Menschen nur träumen konnten.
»Ich werde schon etwas Passendes finden«, sagte ich. »Das verspreche ich dir. Also, mach dir bitte keine Gedanken.«
Ich gab mich der Hoffnung hin, dass sie sich damit fürs Erste zufriedengeben würde, aber das war leider nur ein frommer Wunsch. Sinas Vernunftsinn arbeitete bereits auf Hochtouren. Bis zum Bahnhof redete sie ununterbrochen auf mich ein, und als wir schließlich wieder im Zug saßen, kramte sie sofort einen Kollegblock und einen Stift hervor und machte eine Liste der Berufe, die sich ihrer Ansicht nach am besten für mich eigneten. Und dazu zählten vor allem: Dolmetscherin und Übersetzerin oder auch Lektorin oder Werbetexterin, weil ich so sprachbegabt sei, Wissenschaftlerin im weitesten Sinne, weil ich durchaus akribisch arbeiten könne, wenn ich mich tatsächlich mal an etwas festgebissen hatte, oder auch irgendwas »Soziologisches«.
Nun denn, ich hatte eher das Gefühl, dass das alles nichts für mich war, aber das mochte ich Sina nicht sagen. – Und schon gar nicht, dass der Beruf, der mich wirklich ausfüllen würde, möglicherweise erst noch erfunden werden musste.

Sina und ich verabschiedeten uns an der Königstraße voneinander, und dabei rang sie mir das Versprechen ab, morgen Abend zu ihr zu kommen und ihr alles über die Mädchenmorde zu erzählen und am Samstag dann mit Sarah, Bille und noch ein paar Mädels ins A1 zu gehen, um »den ganzen Inselmuff «, wie sie sich ausdrückte, abzustreifen und mal wieder so richtig abzutanzen.
Ich sparte mir, ihr zu erklären, dass ich
Guernsey und Sark als ganz und gar nicht muffig empfunden hatte,
und war froh, dass ich schon nach einer guten Stunde wieder daheim
in unserer Wohnung war und dort auch meine Mutter nicht antraf.
Stattdessen fand ich in meinem Zimmer eine Nachricht von ihr auf
dem Schreibtisch.
Meine Süße,
ich bin mit
Susanne in der Stadt, ein bisschen rumgucken, Kaffee trinken und
klönen. Ruf mich an, wenn Du mich brauchst. Ich habe mein Handy
dabei. Hab Dich lieb! Mam
»Ich dich auch«, murmelte ich.
Trotzdem hätte ich jetzt nicht mit ihr reden wollen, weder über das, was ich an Pas Grab empfunden hatte, noch darüber, wie mein Wiedersehen mit Sina gewesen war.
Ich nahm das Glas mit meinen Tränen vom Nachttisch und legte die kleine grüne Schachtel mit Gordys Träne behutsam obendrauf. »Du hast recht«, sagte ich leise. »Stadtluft und das Zusammensein mit Menschen nehmen uns jede Energie. Gut, dass es hier in Lübeck so viel Wasser gibt.«
Insofern war es ein Glücksfall, dass ich in einer Hansestadt und nicht irgendwo in Mitteldeutschland aufgewachsen war. Und ganz egal, wohin mein Weg mich in Zukunft auch führte, so viel stand für mich fest: Ich würde ganz sicher immer an der Küste leben.
Ich ließ das Glas mit der Schachtel in einen Din-A5-Briefumschlag gleiten, verklebte ihn sicherheitshalber mit ein paar zusätzlichen Tesafilm-Streifen und verstaute ihn anschließend zusammen mit meiner Geldbörse und meinem Handy im Seitenfach meines Rucksacks.

Bis zum Traveufer war es nicht weit. Ich brauchte nicht mal fünf Minuten, um die Grünfläche auf der anderen Seite der Rhederbrücke zu erreichen. Inzwischen war es kurz vor halb acht, die Sonne stand schon recht tief und malte tanzende goldgelbe Ovale auf die Wasseroberfläche, auf der in einiger Entfernung ein Schwan und ein paar Enten trieben.
Es war nicht mehr viel los hier – ich konnte weder Spaziergänger noch spielende Kinder entdecken –, nur aus dem Biergarten, der oberhalb des Krähenteiches lag, hallten fröhliche Feierabendstimmen zu mir herüber.
Ich suchte mir eine offene Stelle im Ufergebüsch, zog meine Sneakers und Strümpfe aus und krempelte die Jeans bis zu den Knien hoch. Dann ließ ich mich ins Gras hinunter und tauchte langsam meine Zehen in die Trave.
Augenblicklich ging das Jucken über meinen Knöcheln, das sich bereits kurz nach dem Verlassen unseres Hauses bemerkbar gemacht hatte, in ein heftiges Brennen über, das innerhalb von Sekundenbruchteilen an den Außenseiten meiner Beine bis zu meinen Hüften hinaufschoss und mein Becken gleich darauf mit einem wohligen Kribbeln füllte. Ich spürte das Zucken meiner Muskeln und den mächtigen Drang meiner Füße und Beine, sich zu einem Haifischschwanz zusammenzufügen. Doch so groß mein Verlangen auch war, in das lockende Nass hinabzutauchen, ich kämpfte entschlossen dagegen an.
Die Trave führte Süßwasser und vermischte sich erst jenseits der Schlutuper Wiek allmählich mit dem Salz der Ostsee. Ich hatte keine Ahnung, ob ich das überhaupt vertrug, denn mit dem bisschen Duschwasser, das ich hin und wieder einatmete, war das sicher nicht zu vergleichen. Irgendwann würde ich es ausprobieren, aber nicht heute. Heute hatte ich anderes vor.
Ich holte den Umschlag hervor und öffnete ihn vorsichtig.
Gordy, dachte ich, während ich mit zwei Fingern nach der kleinen Schachtel fischte. Ich glaube, ich weiß jetzt, was diese Kristalle in deinen Augen zu bedeuten hatten. Es sind ungeweinte Tränen gewesen, in denen meine Schmerzen eingeschlossen waren, die du für mich getragen hast. In dem Moment, als ich diese Kristalle als kleine glitzernde Punkte in deinen Augen sah, konnte ich nicht mehr davonlaufen oder mich in mich selbst zurückziehen, sondern war gezwungen, meine Schmerzen zu spüren. Und damals war es gut, dass du bei mir warst.
Vorsichtig hob ich den Deckel und betrachtete Gordians Träne, in der sich das Licht der untergehenden Sonne spiegelte.
»Nun bin ich allein«, flüsterte ich, während ich den Kristall in meine hohle Hand rollen ließ. »Und ich kann dir gar nicht beschreiben, wie unendlich weh es tut, nicht mehr bei dir sein zu dürfen. Trotzdem bin ich froh, dass deine Träne mich ins Leben zurückgeholt hat, dass ich den Brief von meiner Urgroßmutter gelesen habe und ich mich deshalb noch einmal richtig und ganz bewusst von dir verabschieden kann.«
Ich beugte mich über die Uferkante und tauchte die Hand langsam ins Wasser. Gordys Träne schwamm wie ein winziger funkelnder Diamant auf der Oberfläche.
»Ich weiß zwar noch immer nicht, welchen Weg ich einschlagen soll«, fuhr ich mit bebender Stimme fort, »aber zumindest kann ich mittlerweile besser Entscheidungen treffen. Keine Ahnung, wieso, aber ich habe keine Angst mehr davor, Fehler zu machen. Vielleicht liegt es daran, dass mir – ganz egal, was ich auch tue – ohnehin nichts Schlimmeres passieren kann, als dich verloren zu haben.« Mein Hals wurde eng und meine Augen brannten, während ich diese Sätze sagte. »Jedenfalls kann ich meine Schmerzen nun allein tragen und deshalb gebe ich dir diesen Kristall zurück«, setzte ich stockend hinzu, dann öffnete ich meine Hand und zog sie sachte aus dem Wasser. »Ich liebe dich, Gordy, mehr als alles auf der Welt.«
Eine Träne stahl sich aus meinem Augenwinkel, und ehe ich sie auffangen konnte, war sie bereits über meine Wange gekullert und in die Trave gefallen.
Schillernd tanzte sie auf den Wellen und trieb langsam auf die von Gordy zu, bis sie sich berührten … wieder voneinander abstießen … abermals berührten … und sich schließlich vom Ufer entfernten und mit der Strömung in Richtung Ostsee schaukelten.
»Aber ich kann dich jetzt gehen lassen, Gordy«, flüsterte ich, tastete nach dem Glas und ließ auch meine Tränenkristalle und damit all meinen Schmerz in die Trave gleiten. Wie ein Schweif aus goldglänzenden Lichtpunkten folgten sie den beiden anderen zum Meer hinaus – und nun schossen mir die Tränen geradezu in die Augen. Eine nach der anderen rollte über mein Gesicht und fiel ins Wasser.
Anfangs waren sie noch hart und kristallen, doch schon bald fühlten sie sich weicher an und hinterließen feuchte Spuren auf meiner Haut.
Ein heftiges Schluchzen schüttelte mich.
Ich weinte und weinte, und mit jeder Träne, die sich aus meinen Augen löste, ging es mir besser.
Ich gebe dich frei, Gordian … für das, was das Meer dir bestimmt hat.
Aber so wie meine Urgroßmutter Patton niemals vergessen hatte, würde auch Gordian immer ein Teil von mir bleiben.

Eine Weile saß ich noch still da und betrachtete das Schauspiel der glitzernden Tränen, die allmählich kleiner wurden und ähnlich einem verlöschenden Stern hell aufblinkten, bevor sie sich im Wasser auflösten. Sie würden es also nicht mehr bis ins Meer schaffen, aber das spielte keine Rolle, denn sie waren ja trotzdem mit ihm verbunden.
Dieser Gedanke gab mir Trost und langsam breitete sich ein Gefühl von Frieden in meinem Herzen aus.
Ich wusste, dass ich die einzig richtige Entscheidung getroffen hatte. Nie und nimmer hätte ich es mir verziehen, wenn ich auf Guernsey geblieben wäre und damit womöglich eine Katastrophe heraufbeschworen hätte. Meine Liebe zu Gordy wäre dann für alle Zeit mit einer schweren Schuld belastet gewesen und daran vielleicht irgendwann zerbrochen. So aber konnte ich mich an die schönen Momente mit ihm erinnern und sie in mir bewahren.
»Mach dir keine Sorgen«, murmelte ich, »ich komme schon klar. Und du auch«, fügte ich bekräftigend hinzu, zog meine Füße aus dem Wasser, rubbelte sie im Gras trocken und streifte Strümpfe und Schuhe über.
»Ich hoffe so sehr, dass du zu deinen Eltern geschwommen bist und deiner Bestimmung folgen kannst.«
Daran, dass Javen Spinx und Jane in diesem Punkt recht hatten, wollte ich ganz fest glauben. So weh mir dieser Gedanke damals getan hatte, erleichterte er mir inzwischen den Abschied umso mehr. Ich konnte nun auch die Angst um Gordy endlich loslassen und mir sicher sein, dass das Meer ihn schützen würde.
Ich verstaute das Glas und die kleine Schachtel wieder im Seitenfach meines Rucksacks, krempelte meine Jeans herunter und warf noch einen letzten Blick auf die Trave. Dann erhob ich mich und lief mit langen Schritten den Hang hinauf.
Elodie.
Gordys leise, flehende Stimme stach mir ins Herz.
Abrupt blieb ich stehen und verharrte für ein paar Sekunden wie versteinert auf der Stelle. Das ist eine Prüfung, dachte ich. Das kann nur eine Prüfung sein!
Ich atmete tief durch, presste die Lippen aufeinander, versuchte, nicht durchzudrehen – und ging weiter in Richtung Brücke.
Elodie, bitte!
Jetzt war seine Stimme überall in mir. Warm und samtig strich sie über meine Haut, pulsierte durch meine Adern und füllte jede einzelne meiner Zellen.
Ich konnte gar nicht anders, ich musste mich umdrehen.
Gordy hatte das Ufer fast erreicht. Das orangerote Licht, das von der gegenüberliegenden Traveseite herüberschien, spielte mit seinen goldblonden Locken und ließ das Türkis seiner Augen noch intensiver erscheinen.
Meine Knie wurden weich und der Boden unter meinen Füßen gab nach. Ich spürte noch einen Schlag in meinem Rücken, dann wurde alles dunkel um mich herum.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Hang neben dem Brückenpfeiler im Gras – und sah direkt in seine Augen.
Gordys Gesicht war bleich, seine Miene unergründlich und das Weiß um seine Iris herum von hauchfeinen tiefroten Äderchen durchzogen.
»Was ist passiert?«, wisperte ich benommen.
»Du bist ohnmächtig geworden.« Seine Stimme klang ernst und besorgt. »Und du hast dir den Kopf gestoßen, zum Glück aber nicht allzu schlimm.«
»Das meine ich nicht«, krächzte ich. »Was ist mit deinen Augen?«
Auf seiner Stirn zeigte sich der Ansatz einer Steilfalte. – Und mit einem Mal war alles wieder da. Guernsey. Unsere Klippe. Das Bett in meinem Apartment mit den Pflanzen drumherum. Alles.
Aber ich war nicht dort, sondern hier, in Lübeck.
Lübeck und Gordian passten nicht zusammen. Ich musste träumen. Das alles konnte unmöglich Realität sein. Und es erschien mir so logisch: Gordy war in einem Traum in mein Leben getreten und jetzt verabschiedete er sich auf die gleiche Weise von mir. Ich musste lächeln. – Eigentlich eine hübsche Idee von ihm!
»Du hast geweint«, murmelte ich. »Du hast geweint, weil du traurig bist.«
Seufzend senkte ich die Lider. Die Vorstellung tröstete mich. Nicht nur ich war traurig, sondern auch er. Wir hatten beide unsere Liebe geopfert – für die Sicherheit der Menschen auf den Kanalinseln und um den Frieden zwischen den Nixen zu bewahren.
»Himmel noch mal, Elodie!«, hörte ich Sina protestieren. »Komm zu dir! Da liegt ein halbnackter Mann neben dir, mitten im dicksten Lübecker Stadtverkehr, und du versinkst in sentimentaler Gefühlsduselei!«
»Du wolltest ja auch nicht glauben, dass ich eine Nixe bin«, erwiderte ich. »Die ticken nun mal ein bisschen anders.«
Elodie!
Diesmal war das Pulsieren seiner Stimme so stark, dass ich auf der Stelle die Augen öffnete.
»Ich bin hier«, sagte er leise. Seine Pupillen weiteten sich kurz, zogen sich dann allerdings sofort zu schmalen Ellipsen zusammen. »Aber ich kann nicht lange bleiben …«
Ich starrte ihn an, verlor mich einen Moment im Türkisgrün, spürte einen frischen salzigen Geschmack am Gaumen, und allmählich begriff ich, dass ich nicht träumte.
»Du bist hier«, flüsterte ich.
»Ja«, erwiderte Gordy zögernd. »Und dir geht es gut. Ich wusste nicht, wieso … Ich hatte befürchtet, dass du …«
Langsam richtete ich mich auf, und mit jedem Zentimeter, den ich ihm näher kam, wich er um mindestens zwei zurück.
»Könntest du mich bitte anfassen, damit ich es auch wirklich glaube?«, fragte ich und streckte meine Hand nach ihm aus.
Kopfschüttelnd rutschte er von mir weg.
Diese Geste erschreckte mich zutiefst und ein feiner, stechender Schmerz raste durch meine Brust.
»Ich bin hergekommen, um dir zu sagen, wie unendlich leid es mir tut, dass ich dich so verletzt habe.«
»Aber das hast du nicht!« Ich bin doch diejenige gewesen, die Hals über Kopf und ohne jede Erklärung von Guernsey verschwunden ist. Also müsste ich mich bei dir entschuldigen.
Gordy musterte mich aufmerksam. Sein Blick war intensiv, aber nicht liebevoll, sondern auf eine unangenehme Weise durchdringend.
»Ich bin wirklich sehr froh, dass es dir gut geht«, sagte er in seltsam mechanischem Tonfall und wieder raste der stechende Schmerz durch meinen Körper. »Und ich verspreche dir, dass so etwas nie wieder geschieht«, setzte er leise hinzu, während er sich in einer schnellen, geschmeidigen Bewegung erhob. »Leb wohl, Elodie.«
»Was? … Nein!«
Irgendetwas lief hier falsch. Nein, alles, was gerade passierte, lief falsch. Ich verstand es nicht und hatte das Gefühl, jeden Augenblick den Verstand zu verlieren. Ungelenk rappelte ich mich auf.
»Warte«, brachte ich mühsam hervor. »Du bist doch nicht den ganzen Weg hierhergekommen, bloß um dich von mir zu verabschieden?«
»Nein, nein.« Gordian schüttelte den Kopf. »Nicht nur. Das Wichtigste ist, dass du unversehrt bist … und dass die Wunden, die ich dir zugefügt habe, verheilt sind.«
»U-und was hast du jetzt vor?«, stammelte ich.
»Ich muss zurück.« Er deutete zum Ufer der Trave.
»Wohin? Nach Guernsey?« Nicht zu deinen Eltern und Idis in den Atlantik?
»Ich muss mich beeilen«, sagte er knapp und machte einen weiteren Schritt von mir weg. Sein Blick, seine Körperhaltung, alles an ihm drückte Ablehnung aus.
»Warum?« Meine Stimme war nur noch ein Hauch.
Gordian reagierte nicht, und er ließ es auch nicht zu, dass ich in seinen Gedanken las. Irritiert sah ich ihn an, und plötzlich wurde mir klar, warum er so schnell auf die Kanalinseln zurück und mich nicht dabeihaben wollte.
Kyan und seine Freunde haben es tatsächlich geschafft, richtig? Sie sind ohne dich an Land gegangen.
Wieder bekam ich keine Antwort, ich registrierte nur ein Flackern in seinen Augen.
Die Ruhe auf Sark ist trügerisch, setzte ich hinzu. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man das nächste Mädchen tot auffinden wird, oder?
Um Gordys Mundwinkel zuckte es.
»Leb wohl«, sagte er noch einmal, dann drehte er sich um und einen Atemzug später war er auch schon in das dunkle Wasser der Trave eingetaucht.