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Elodie?

Die Stimme kam von weit her. Ich hörte sie nicht mit meinen Ohren und sie war auch nicht in meinem Kopf.

Elodie?

Wie von einer starken Strömung getrieben, rollte sie unaufhaltsam auf mich zu, aus der Dunkelheit unter mir. Aus der Tiefe des Meeres.

Elodie, wo bist du?

Es war Gordys Stimme.

»NEIIIN!«

Ich schrie. Trat um mich. Schlug nach ihm.

»Du darfst mich nicht finden! Es ist vorbei! Du darfst nicht … BITTE, GEH WEG! BITTE! BITTE! BITTE!«

Mit dem nächsten Atemzug war ich hellwach.

Die durchscheinende halbe Scheibe des Mondes leuchtete durch den Vorhangspalt in mein Zimmer.

Ich saß in meinem Bett. Das Kopfkissen war klatschnass, die Decke auf den Boden hinuntergerutscht. Meine Haare klebten mir auf der schweißnassen Stirn und ich zitterte am ganzen Körper.

»Gordy«, wisperte ich.

Ich wollte weinen, aber es ging nicht. Meine Augen brannten, meine Lippen bebten, aber der Schmerz, den ich empfand, war so tief in mir, dass ich ihn nicht herauslassen konnte.

Irgendwann in den frühen Morgenstunden musste ich wieder eingeschlafen sein, denn als ich erwachte, war es taghell.

Meine Augen brannten noch immer, und in meiner Brust saß ein dumpfer quälender Schmerz, der bis in den Hals hinaufstrahlte, auf meine Kehle drückte und mir fast den Atem nahm.

Ich hatte von Gordy geträumt, aber ich wollte nicht an ihn denken. Die Erinnerung an ihn tat so weh, dass ich es nicht ertrug. Ich musste ihn vergessen. Ihn und alles, was ich mit ihm in Verbindung brachte.

Ich musste! Musste! Musste!

Doch ich musste auch noch etwas anderes: weiterleben.

So sehr ich es mir auch gewünscht hatte, ich konnte nicht für immer in meinem Versteck bleiben. Ich war keine Delfinnixe, die über Jahrzehnte hinweg ins Vergessen abtauchen konnte.

Ich war Elodie Saller.

Und ich hatte ein Geheimnis, das ich mit niemandem hier teilen konnte.

Mam hatte Frühstück gemacht. Sie war gerade dabei, ein Glas frisch gepressten Orangensaft, zwei Brötchen, einen Teller mit Käsescheiben und das Marmeladenglas auf ein Tablett zu stellen, als ich in die Küche trat.

»Elodie!« Überrascht sah sie mich an. »Du bist aufgestanden! «

Ihre Augen strahlten, und ich stellte verwundert fest, dass ich für einen Moment tatsächlich so etwas wie Freude empfand.

»Ja«, sagte ich, zuckte mit den Schultern und ließ mich auf die mit Blumenkissen gepolsterte Bank sinken.

Früher hatte ich nur selten hier gesessen, mein Stuhl stand gegenüber auf der anderen Seite des dunklen Holztisches. Aber irgendwie bekam ich es nicht hin, meinen alten Platz wieder einzunehmen.

»Dann geht es dir also … besser?«, fragte meine Mutter zögernd.

»Ja … schon.«

»Vielleicht ist es gut gewesen, dass du gestern so ausgerastet bist.«

Sie sagte es sehr, sehr vorsichtig.

»Ja, vielleicht.« Ich nickte.

»Möchtest du drüber reden?«

Ich schüttelte den Kopf.

Mam musterte mich kurz, dann lächelte sie. »Okay.«

Sie nahm das Glas mit dem Orangensaft vom Tablett, stellte es vor mich hin und setzte sich ebenfalls.

»Hat Sina sich noch mal gemeldet?«, fragte ich, während ich meinen Blick unschlüssig über den Tisch gleiten ließ.

Ich verspürte keinen Hunger.

»Nein, hat sie nicht«, erwiderte meine Mutter. »Ich denke, sie wartet auf ein Signal von dir.« Sie zeigte auf das Glas. »Vielleicht solltest du erst mal den Saft trinken.«

»Ich kann mit ihr nicht darüber reden«, sagte ich. »Sie … sie würde es nicht verstehen …«

»Es käme auf einen Versuch an.«

»Ach, Mam, du weißt doch, wie sie ist.« Ich legte meine Finger um das Glas und drehte es sachte hin und her. »Sina will immer gleich alles analysieren. Sie wird versuchen, mir meine Gefühle mit dem Verstand auszutreiben.«

Meine Mutter streichelte mir flüchtig über den Arm.

»Das geht sowieso nicht«, sagte sie leise. »Außerdem ist Sina gar nicht so vernünftig, wie es scheint. Ich glaube, sie versteht dich sogar sehr gut.«

Ein unangenehmer Druck breitete sich unter meinem Zwerchfell aus und ließ den Schmerz in meiner Brust für einen Moment in den Hintergrund treten.

»Mam, ich …«

»Schon gut«, unterbrach sie mich sanft. »Wir müssen nicht reden. Über gar nichts. Und du brauchst dich auch nicht bei Sina zu melden, wenn du nicht …«

»Ich werde ihr nachher einen Brief schreiben«, sagte ich, setzte das Orangensaftglas an meine Lippen und leerte es in einem Zug.

Doch dann kam es völlig anders.

Ich hatte mich gerade angezogen und mein Bett hergerichtet, als es an meine Zimmertür klopfte.

»Besuch für dich!«, rief Mam, ehe ich reagieren konnte.

Mein Puls schnellte in die Höhe und sofort war der seltsame Druck wieder da.

»Wer denn?«, fragte ich, da wurde die Tür bereits geöffnet und Frederik linste durch den Spalt. »Hi.«

Ich starrte ihn einfach nur an, denn mit ihm hatte ich nun überhaupt nicht gerechnet.

Frederik drückte die Tür hinter sich zu, schob seine Hände in die Taschen seiner viel zu weiten Jeans und sah mich unschlüssig an.

»Du glaubst jetzt bestimmt, dass Sina mich geschickt hat.«

»Nee«, sagte ich. »Das glaube ich nicht.«

Langsam ließ ich mich auf die Bettkante sinken. Das ewige Liegen hatte mich schlapp gemacht. Und wahrscheinlich wirkte auch das Beruhigungsmittel, das mir der Notarzt gestern verpasst hatte, noch nach.

Frederiks Haare waren gewachsen. Er trug sie jetzt in einem langen Seitenscheitel über der Stirn und im Nacken reichten sie fast bis zum Kragen seines Poloshirts.

»Hat sie aber«, sagte er. Langsam kam er bis auf einen Schritt an mein Bett heran, zog einen hellgelben Umschlag aus seiner Hosentasche und hielt ihn mir hin. »Indirekt zumindest.«

»Was meinst du damit?«

»Na ja …« Frederik zog eine Schulter hoch. »Sie hat ihn schon vor zwei oder drei Tagen geschrieben, bisher aber nicht abgeschickt.«

»Dann hat sie dich also auch nicht beauftragt, ihn mir zu bringen?«, vergewisserte ich mich.

»Nein, ich …« Frederik fuhr sich durch die Haare. »I-ich habe ihr gesagt, dass ich mit Luis verabredet bin. Und weil der doch nur ein paar Straßen entfernt wohnt, habe ich ihr angeboten, den Brief einfach bei euch unten im Haus in den Kasten zu werfen.«

»Was du aber nicht getan hast«, entgegnete ich.

»Nein … äh … ich dachte …« Er machte einen weiteren Schritt auf mich zu und setzte sich nach einem kurzen Zögern neben mich auf die Bettkante. »Also, ich wollte dir eigentlich noch sagen, dass ich nicht richtig mit ihr zusammen bin … falls du das denkst.«

»Ich denke gar nichts«, erwiderte ich. »Falls es dich interessiert. «

»Klar.« Er strich sich über die lange Ponysträhne. »Mich interessiert alles, was mit dir zu tun hat. Ich hab ja die ganze Zeit über gehofft, dass du zurückkommst.«

Ich wandte mich ihm zu und sah ihm direkt in die Augen, und plötzlich konnte ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen, dass ich mal so richtig wild mit ihm geknutscht hatte. »Ich nicht.«

Frederik wich meinem Blick aus. »Ja, schon klar«, murmelte er. »Es wäre ohnehin viel besser gewesen, wenn du gar nicht erst weggegangen wärst«, fuhr er fort. »Die Wochen auf dieser bescheuerten Kanalinsel haben nicht nur nichts gebracht, sondern alles nur noch schlimmer gemacht.«

Du musst es ja wissen.

»Was denn?«, fragte ich, während ich ihn einfach weiter ansah.

»Ach, jetzt tu doch nicht so.« Frederik verdrehte die Augen. »Du weißt genau, weshalb ich hier bin.«

Nein, das wusste ich nicht. Aber ich ahnte es.

»Lass mich einfach in Ruhe, ja!«, sagte ich.

Frederik schüttelte den Kopf. »Das kannst du vergessen.«

Langsam rutschte er auf mich zu, dann legte er ganz unvermittelt seine Hände um mein Gesicht und presste seine Lippen auf meinen Mund.

Energisch schob ich ihn von mir weg und schnellte vom Bett hoch. »Sag mal, hast du sie noch alle!«

»Elodie … Mensch, jetzt sperr dich doch nicht so«, stammelte Frederik, während er ebenfalls aufstand. »Du wirst drüber wegkommen. Ich bin jedenfalls total froh, dass du wieder hier bist. Und ich finde, du hast mittlerweile genug um diesen Kerl getrauert. So ein Typ ist es doch gar nicht wert«, redete er weiter auf mich ein. »Dem laufen die Mädchen reihenweise nach. Selbst, wenn er wollte … der könnte gar nicht treu sein.« Sein Blick glich dem eines Dackels, der sein Herrchen um ein Stück Leberwurst anbettelt, und das machte mich sauer. Richtig sauer.

»Ich denke, ich ruf jetzt mal Sina an.«

»Sina?« Unverständnis spiegelte sich in Frederiks Miene. »Elodie, was soll der Quatsch?«, fing er an zu jammern. »Sina ist doch nun wirklich Nebensache. Ihr kannst du später immer noch alles erklären.«

»Ich will ihr gar nichts erklären«, erwiderte ich. »Das solltest besser du tun.«

»In Ordnung.« Frederik nickte eifrig. »Alles, was du willst.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Mann, Elodie, glaub mir, ich versteh dich total. Sina ist deine beste Freundin. Völlig klar, dass das alles nicht so leicht für dich ist.« Jetzt lachte er. »Ach, Mensch, du bist so süß. Immer denkst du nur an andere. Höchste Zeit, dass du mal was für dich tust«, fügte er flüsternd hinzu, und ehe ich reagieren konnte, hatte er seine Hände bereits um meinen Nacken gelegt und fing aufs Neue an, mich zu küssen.

Er fuhr mit seiner Zunge über meine Lippen und versuchte, sie zu öffnen. »Komm schon, El«, brabbelte er, »lass dich fallen. Du wirst schon sehen, wie schön es ist, endlich wieder zu Hause zu sein, bei den Leuten, denen du wirklich etwas bedeutest.«

Ich war fassungslos. Wie konnte er all das tun, ohne sich total bescheuert vorzukommen? Ich fragte mich ernsthaft, ob Sina nicht wirklich was Besseres verdient hatte, und mit einem Mal kochte ein Zorn in mir hoch, der mich selbst überraschte. Wie ein sengendes Feuer kroch er meine Wirbelsäule hinauf, legte sich um meinen Hals und bahnte sich seinen Weg bis hinter meine Stirn.

Ohne darüber nachzudenken, schob ich meine Hände um Frederiks Nacken. Ich öffnete meine Lippen und drang mit meiner Zunge in seinen Mund.

Frederik stöhnte. Er ließ sich aufs Bett zurückfallen, und ich legte mich über ihn und küsste ihn, heiß und brennend, ohne in irgendeiner Weise davon berührt oder gar erregt zu sein. Über meine Wirbelsäule strömte unablässig Hitze nach, die Frederik gierig in sich aufnahm.

Wie dumm du doch bist!, dachte ich noch, im nächsten Moment explodierte etwas in mir und das Feuer verlosch. Eine Welle salziges Wasser füllte meine Lungen, sprudelte durch meine Kehle und ergoss sich in Frederiks Rachen.

Ich spürte den Schreck, der ihn durchzuckte, gefolgt von blankem Entsetzen. Für eine Sekunde wurde Frederik stocksteif, dann fing er an, sich zu wehren.

Er strampelte, zerrte panisch an meinen Haaren, schaffte es aber nicht, meinen Kopf zurückzubiegen, und als das Wasser schließlich seine Luftröhre erreichte, erbebte sein Körper unter einem verzweifelten Hustenreflex.

Doch Frederik hatte keine Chance. Ich war viel stärker als er, und ich war entschlossen, ihn zu bestrafen.

Der Kuss einer Nixe ist tödlich.

Ich hörte die Stimme in meinem Kopf, trotzdem umklammerte ich ihn immer fester und ließ das Wasser aus meiner Lunge weiter in ihn hineinströmen. Ich war wie in einem Rausch, aus dem ich kein Zurück fand.

Hör auf, Elodie! Hör auf!

Erst als Frederik sich nicht mehr bewegte, kam ich wieder zur Besinnung. Ich löste meine Lippen von seinem Mund und blickte in die vor Schreck geweiteten Augen, die aus seinem gespenstisch bleichen Gesicht hässlich hervorstachen. Sein Kopf fiel zur Seite und ein feines Rinnsal floss aus seinem Mundwinkel.

Ich überlegte nicht lange, im nächsten Augenblick lagen meine Hände bereits auf Frederiks Brust. Mit gleichmäßigen, druckvollen Stößen massierte ich seine Lunge.

Unheil bringst du. Großes Unheil über die Inseln. Tod und Schrecken …

Laurens Gesicht blitzte vor mir auf. Ich sah sie lachend am Strand entlanglaufen und nur einen Lidschlag später lag sie tot auf der Wiese. – Glücklich, von Kyans Kuss ertränkt worden zu sein.

Ich blickte auf Frederik herab, der hustete und spuckte und alles andere als glücklich aussah. Jetzt schloss er die Augen, und als er sie schließlich wieder öffnete, war sein Blick erschöpft, aber klar.

»W-was ist passiert?«, stammelte er.

Er sah mich einen Moment lang an, dann schoss sein Oberkörper hoch.

Ich unterdrückte mühsam ein Stöhnen der Erleichterung. Auf keinen Fall durfte ich mir etwas anmerken lassen.

»Nichts«, sagte ich und lehnte mich langsam zurück. Mein Herz tobte in meiner Brust. »Wir haben uns nur … geküsst.«

Lächelnd hielt ich seinen Blick gefangen.

Du wirst dich an nichts mehr erinnern.

Frederik fuhr sich durch die Haare, schüttelte verwirrt den Kopf und schob dann seine Beine an mir vorbei über die Bettkante.

»Das war kein Kuss«, murmelte er.

»Was soll es denn sonst gewesen sein?«

Mein Atem ging viel zu schnell. Ich musste ihn unbedingt unter Kontrolle bekommen.

Frederik warf mir einen scheelen Blick zu. »Keine Ahnung«, sagte er. »Ich glaube, ich war ohnmächtig. Einen Moment lang hatte ich sogar das Gefühl zu ersticken.«

»Hm ja. Der war echt toll, dieser Kuss.« Wieder lächelte ich ihn an und diesmal gab ich mir noch etwas mehr Mühe.

Du wirst dich an nichts mehr erinnern.

»Vielleicht passt du ja doch besser zu Sina«, sagte ich hoffnungsvoll.

»Möglich …« Frederik kniff die Augen zusammen. Zweifellos versuchte er zu begreifen, was geschehen war.

Verdammt, ich bekam es nicht hin, diesen verhängnisvollen Kuss vollständig aus seinem Gedächtnis zu löschen. Es funktionierte einfach nicht.

»Hast du das von deinem Insel-Kerl gelernt?«, fragte er jetzt.

»Wird wohl so sein«, erwiderte ich. »Die sind sehr eigenwillig dort, musst du wissen. Ihre Küsse sind ein bisschen feuchter als die der Leute auf dem Festland …«

Ich musterte ihn forschend. Wie viel hatte er tatsächlich mitbekommen? War er noch immer erschrocken oder eher angeekelt? Hielt er mich für gestört? Abartig? Gefährlich? Würde er jemandem davon erzählen?

»Ein bisschen feuchter … Ts!« Wieder schüttelte Frederik den Kopf. »Nichts für ungut, Elodie«, sagte er. »Aber auf so was steh ich nicht.«

»Kein Problem.« Ich rutschte ein Stück zur Seite und ließ ihn vom Bett aufstehen. »Sina solltest du es allerdings besser nicht erzählen. Ich meine, vielleicht hast du sie ja doch gern.«

Frederik stieß einen Schwall Luft aus. Ohne mich noch einmal anzusehen, steuerte er auf die Tür zu.

Panik stieg in mir hoch. Wenn ich es schon nicht hinbekam, dieses verhängnisvolle Ereignis aus seinem Gehirn zu löschen, dann musste ich mir etwas anderes einfallen lassen.

»Oder soll ich ihr sagen, dass du mich geküsst hast?«, fragte ich, während ich mich ebenfalls erhob.

Frederik drehte sich um. »Ich dich?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Klar, du mich. Was sonst? Ich kann mich zumindest nicht daran erinnern, dass ich dich gebeten habe hierherzukommen. Also, bevor du alles verdrehst, Frederik …«

»Keine Sorge, das tu ich schon nicht.«

Er wandte sich wieder der Tür zu, drückte die Klinke runter und zwei Sekunden später war er verschwunden.

Ich sank aufs Bett zurück und starrte ihm hinterher.

Was hatte ich bloß getan?

Woher kam diese wilde unbezähmbare Wut und warum hatte ich sie nicht unter Kontrolle?

Verdammt noch mal, ich hatte nicht nur den Freund meiner besten Freundin geküsst – ich hätte fast einen Menschen getötet!

Ich hatte es verdient, wenn Frederik es herumerzählte. Wenn man mich abholte und einsperrte oder mich in eine Klinik brachte, mir Blut abzapfte und feststellte, dass ich eine Bestie war …

Verzweifelt trommelte ich mir mit den Handballen gegen die Stirn. So mies hatte ich mich noch nie gefühlt.

Ich bin Elodie Saller, hämmerte ich mir mit jedem Schlag ein.

Ich bin ein ganz normales Mädchen und ich war nie auf den Kanalinseln.

Lüge! Lüge! Lüge!

Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass ich mitten in einem nassen Fleck auf meiner Bettdecke hockte und die Feuchtigkeit allmählich in meine Jeans hinaufzog.

Ich sprang auf, nahm eine helle Chino aus dem Kleiderschrank und hängte die feuchte Jeans über meinen Schreibtischstuhl. Anschließend breitete ich die Bettdecke aus, damit auch sie trocknen konnte.

Dabei fiel mein Blick auf den gelben Umschlag, der vor dem Bett auf dem Boden lag.

Ich hob ihn auf, wendete ihn hin und her und legte ihn auf den Nachttisch.

»Das ist doch alles Unsinn«, murmelte ich.

Der Vorfall mit Frederik hatte mich zutiefst erschreckt. So etwas durfte nie wieder passieren, ich wollte unbedingt die Kontrolle über das behalten, was da in mir schlummerte. Niemand hier in Lübeck, weder Mam noch meine alten Freunde und erst recht kein Fremder, durfte herausfinden, wer ich wirklich war.

Ich konnte nur hoffen, dass Frederik die Klappe hielt, oder – was natürlich noch besser wäre – sich doch nicht mehr so genau an alles erinnerte. Darüber, dass ich eines meiner Talente aufs Spiel gesetzt und womöglich verloren hatte, mochte ich gar nicht nachdenken.

Ich musste mit dem leben, was ich war.

Besser noch: Ich musste in mein altes Leben zurück.

Vielleicht konnte Sinas Brief ein Anfang sein.

Vorsichtig, als ob ich ihm eine Verletzung zufügen könnte, nahm ich ihn vom Nachttisch. Ich lief ein paar Schritte auf und ab und betrachtete den Umschlag noch einmal von beiden Seiten. Sina hatte ihn zugeklebt, aber nicht beschriftet.

Ich sank auf die Kante meines Schreibtischstuhls, fischte mein Cuttermesser aus dem Utensilo und öffnete den Umschlag mit einem schnellen, gezielten Schnitt.

Die Karte, die ich herauszog, war genauso gelb wie der Umschlag.

Liebe Elodie, stand darauf,

ich denke jeden Tag an Dich, und ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum Du mich nicht sehen willst. Okay, vielleicht erinnerst Du Dich nach dieser irrsinnig langen Zeit auf Guernsey nicht mehr so richtig daran, dass wir mal beste Freundinnen waren. ;-)

Wahrscheinlich geht es Dir aber einfach bloß megabeschissen. Melde Dich doch bitte, falls Du irgendwann vorhast, wieder Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen.

Ich vermisse Dich schrecklich, aber ich lasse dir natürlich alle Zeit der Welt.

Sina

Meine Finger zitterten, als ich die Karte in den Umschlag zurückschob und diesen dann in der obersten Schublade verstaute.

Ich wollte Sina nicht wegsperren. Ich wusste nur nicht, was ich ihr sagen sollte. – Immer noch nicht.

Eine Woche später, am ersten Samstagnachmittag im Mai, verließ ich zum ersten Mal das Haus, und zwar allein. Mam war mit ihrer Yogagruppe unterwegs. Ganz sicher würde sie nicht vor acht oder neun Uhr abends zurück sein.

Es war seltsam, die Treppen hinunterzulaufen und durch die Haustür auf den Bürgersteig hinauszutreten. Jedes Haus, jede Straßenecke kam mir vertraut vor, und trotzdem schien mir alles völlig fremd zu sein. Fast so, als ob ich es noch nie gesehen hätte.

Mehr oder weniger automatisch hielt ich mich rechts in Richtung Wakenitz, bis mir einfiel, dass ich diesen Weg früher immer gemieden hatte. Abgesehen von der Ostsee war die Wakenitz eines der größeren Gewässer in und um Lübeck, und damals hatte allein der Gedanke daran, an ihrem Ufer entlangzugehen, dieses eklige Jucken über meinen Knöcheln ausgelöst.

Jetzt war da gar nichts, und so lief ich eine ganze Weile einfach geradeaus, die Brücke entlang über die Wakenitz hinweg, ohne dass es mir auch nur im Geringsten etwas ausmachte, und hatte das Gefühl, ewig so weiterspazieren zu können. Irgendwann merkte ich, dass die Leute mich anstarrten, und ich gab mir Mühe, mich langsamer und weniger geschmeidig zu bewegen, damit ich nicht so auffiel.

Der Himmel über mir war tiefblau und die Sonne brannte beinahe hochsommerlich auf mich herab. Mit Jeans, Sneakers und Pulli war ich auf jeden Fall viel zu warm angezogen. Also machte ich kehrt und spazierte auf der anderen Straßenseite zurück.

Die Oberfläche der Wakenitz schimmerte verführerisch. Ich spürte eine sanft prickelnde Erregung in mir aufsteigen und mit einem Mal kam auch das Jucken zurück. Ich hatte keine Angst – im Gegenteil, ich wollte so nah wie möglich ans Wasser, am liebsten mitten hinein. Aber das verbot ich mir. Ich zwang mich sogar, einen Moment auf der Brücke stehen zu bleiben, den Blick dabei unverwandt auf das lockende Blaugrün zu richten und das Jucken, das inzwischen in ein heißes Brennen übergegangen war, zu ertragen.

Die Nixe in mir begehrte auf. Sie war ein wildes, impulsives Wesen, das es zu zähmen galt. Ich würde ihr nicht gestatten, sich auszuleben und noch einmal so etwas Grausames zu tun wie mit Frederik. Und als ich kurz darauf das Ende der Brücke erreichte und die Wakenitz hinter mir lassen konnte, wusste ich, dass ich den ersten Etappensieg davongetragen hatte.

Das Brennen ließ nach, zurück blieb ein unangenehmes Kratzen auf der Haut, das meinen gesamten Körper überzog. Außerdem fühlte sich mein Hals entsetzlich trocken an.

Ich beschloss, meinen Ausflug zu beenden, überquerte die Moltkestraße an der Ampel und steuerte auf den Hauseingang Nummer 28 zu.

Mam und ich wohnten ganz oben, direkt unter dem Dach. Früher hatte ich dieses Haus mit dem weißen Sichtgitter über der Tür geliebt. Doch früher war inzwischen ewig lange her.

Vier Stufen auf einmal nehmend, eilte ich die Treppe hinauf und schlüpfte in die Wohnung. Bereits im Flur riss ich mir die Klamotten vom Leib, stieß die Badezimmertür auf und stellte mich unter die Dusche.

Ich hielt mein Gesicht mitten in den Strahl, öffnete Mund und Nase und ließ das Wasser so lange durch meine Lungen strömen, bis das Kratzen verschwand und mein Durst gelöscht war.

Es war befriedigend und quälend zugleich, denn obwohl meine Haihaut sich in der Sockenkiste ganz unten in meinem Kleiderschrank befand, drängten meine Beine die ganze Zeit über mit aller Macht zusammen. Ich biss die Zähne aufeinander, konzentrierte mich auf den glatten Fliesenboden unter meinen Fußsohlen – und verwandelte mich nicht.