Von:Cyril Spinx [email protected]

Gesendet: Freitag, 27. April 2012 14:11

An: Elodie Saller

Betreff:letzte E-Mail

Elodie,

ich bin dir noch eine Erklärung schuldig.

Javen ist mein Vater.

Er hat dich von Lübeck aus bei mir angekündigt. Und von dem Moment an, als ich wusste, dass du nach Guernsey kommst, wollte ich nur noch eins: dir durch diese Zeit der Metamorphose helfen.

Ich bin übrigens auch derjenige gewesen, der dich in jener Nacht in deinem Zimmer besucht hat – nur um mich davon zu überzeugen, dass es dir gut geht … geküsst habe ich dich selbstverständlich nicht, aber inzwischen weißt du ja selbst, woher das Wasser auf deinem T-Shirt gekommen ist.

Du bist mir wirklich alles andere als egal, und ich hoffe von ganzem Herzen, dass du dein Schicksal annehmen kannst.

Wir alle – also Javen, Jane und ich – vertrauen darauf, dass die Hainix- Gene gut ausgeprägt sind und du eines Tages stark und unabhängig sein wirst.

Cyril

Ich saß eine ganze Weile einfach so da, starrte auf den Bildschirm und wartete, dass irgendwas passierte.

Doch weder wurde es schlagartig Morgen noch stürzte das Haus über mir zusammen oder schlug irgendwo der Blitz ein. Es machte nicht einmal Knack in mir.

»Alles okay, Elodie, es ist alles in Ordnung«, hörte ich mich murmeln.

Zwei Wochen waren inzwischen vergangen und auf Sark und Guernsey war alles ruhig geblieben. Es hatte keinen weiteren Mord gegeben und die Mädchen dort schienen auch nicht in einen kollektiven Liebeswahn gefallen zu sein. Okay, Cecily Windom hatte versucht, aus der Klinik zu fliehen. Das musste aber nicht zwingend etwas mit ihren düsteren Prophezeiungen zu tun haben, sondern konnte auch ganz einfach daher rühren, dass sie sich dort fremd und eingesperrt fühlte. Und deshalb schockierte mich ihr Ausbruchversuch auch überhaupt nicht, im Gegenteil: Die alte Silly tat mir leid. Obwohl sie mir unheimlich war, verstand ich sie sehr gut, seltsamerweise empfand ich sogar eine gewisse Verbundenheit mit ihr. Es war ein beklemmendes Gefühl, das ich nicht weiter ergründen wollte und daher schnell beiseiteschob.

Lieber konzentrierte ich mich auf den Gedanken, dass Kyan, Zak und Liam es offenbar nicht noch einmal geschafft hatten, an Land zu kommen.

Es fiel mir nicht schwer, mir vorzustellen, wie sich das Leben auf den Inseln allmählich wieder normalisierte.

In ihrem eigenen Interesse würden die Haie sich wahrscheinlich unauffällig verhalten, bis Gras über die Sache gewachsen war. Die Kriminalpolizei und das Londoner Wissenschaftsinstitut, das die DNA-Analyse von den Nixspermien und Elliots Körperzellen gemacht hatte, würden ihre Erkenntnisse für sich behalten, und die Mörderbestie, die im März 2012 zwei Mädchen ermordet hatte, würde in einigen Jahren nur noch Legende sein.

Tja, und was Cyril betraf – dass er der Sohn von Javen Spinx war, hätte ich niemals vermutet, denn die beiden ähnelten sich rein äußerlich überhaupt nicht. Auf der anderen Seite überraschte es mich aber auch nicht. Genau genommen war es mir sogar egal … Das Einzige, was mich wirklich ärgerte, war sein lapidares – und vor allem viel zu spätes – Geständnis, dass er derjenige gewesen ist, der Mitte April in meinem Zimmer war. Damals hatte Cyril nicht nur mit meiner Angst gespielt, sondern das Ganze auch noch den Delfinnixen anlasten wollen. – Ein weiterer Minuspunkt auf meiner Sympathie-Skala! Aber was bedeutete das schon? Ich würde Cyril ohnehin nie wiedersehen!

Ruby und Ashton bereiteten mir da schon etwas mehr Kopfzerbrechen. An sie zu denken, tat einfach nur weh.

Doch ich durfte sie nicht länger im Ungewissen lassen. Sie waren meine Freunde, die Einzigen, die wussten, wer ich war, und die meinen Schmerz verstehen konnten. Sie litten ebenfalls und hatten ein Recht darauf zu erfahren, was mit mir los war.

Von:Elodie Saller Elodie. [email protected]

Gesendet: Samstag, 5. Mai 2012 23:04

An: Ruby Welliams, Ashton Clifford

Betreff:eure E-Mails

Liebe Ruby, lieber Ashton,

es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht bei euch gemeldet habe, aber ich habe es einfach nicht geschafft, das, was passiert ist, in Worte zu fassen.

Und es fällt mir auch jetzt immer noch unsagbar schwer.

Javen Spinx hat mir klargemacht, dass ich nicht weiter mit Gordy zusammenbleiben darf. Delfinnixe und Hainixe würden sich bekriegen und nicht nur sie, sondern vor allem die Menschen auf den Inseln würden darunter leiden.

Ja, Ruby, ich weiß, was du jetzt denkst, aber ich sage dir: Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem Gordy und ich auf Dauer leben könnten. Wo auch immer wir wären, würden wir zwischen die Fronten geraten.

Er ist ein Plonx, das scheint seine Bestimmung zu sein. Möglicherweise hat das Meer sogar eine besondere Aufgabe für ihn vorgesehen. Wie auch immer: Das alles hat nichts mit mir zu tun.

Und deshalb werde ich versuchen, ihn – und mit ihm auch meine Zeit auf Guernsey – zu vergessen und hier in Lübeck noch einmal von vorn zu beginnen.

Ich liebe euch.

Elodie

Der volle Mond stand hoch am nachtschwarzen Himmel und brachte mit seinem Licht die winzigen Sandkörner des Strandes in der Belvoir Bay zum Funkeln.

Kyan stand bis zu den Knien im Wasser und blickte aufs Meer hinaus. Die Luft war so klar, dass er in der Ferne die französische Küste ausmachen konnte.

Das europäische Festland war sein Ziel. In genau drei Wochen, am Ende des Monats Mai, würde er zum dritten Mal aus dem Meer steigen und Frankreich betreten. Ohne Liam, Niclas und Pine, denn für seine Kameraden hatte er andere Pläne. Verantwortungsvolle Aufgaben, die sie zweifellos ganz in seinem Sinne erfüllen würden.

Die Erinnerung an ihren ersten Landgang verblasste allmählich. Inzwischen wusste Kyan kaum noch, wie die beiden Mädchen aussahen, die er mit seinen Küssen ertränkt hatte. Und auch Liam schien Olivia längst vergessen zu haben. – Gut so!

Kyan wollte sich nicht mit der Vergangenheit belasten. Was zählte, waren Gegenwart und Zukunft.

Allmählich wurde es Zeit, nach Elodie Ausschau zu halten.