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Diesmal war es mir egal, ob Tante Grace es mitbekam. Sollte sie mir doch hinterherlaufen und mich zur Ordnung rufen, meinetwegen konnte sie auch versuchen, mich von meinem Vorhaben abzuhalten – es würde ihr nicht gelingen.

Und so achtete ich auf nichts und niemanden, nicht einmal auf Ruby, als ich aus dem Zimmer und die Treppe hinunterstürzte, die Haustür hinter mir zuwarf und in den Garten hinauslief. Noch während ich rannte, riss ich mir die Klamotten vom Leib, bis ich nur noch Slip und BH trug, und dabei flog ich geradezu die Terrassen hinunter auf die Klippen zu.

Ein ganzes Stück weit draußen glaubte ich, zwei Köpfe zu sehen, schwarz der eine, etwas heller der andere. Vielleicht irrte ich mich auch; was das Meer anging, war ich mir inzwischen ganz und gar nicht mehr sicher, wann etwas real oder bloß eingebildet war. Es schien ein böses Spiel mit mir zu treiben, aber darüber mochte ich jetzt nicht nachdenken, ich wollte einfach nur verhindern, dass Gordian etwas zustieß.

»Gordy!«, brüllte ich, so laut ich konnte. »Goooordiiiie! Cyriiil! Cyril, bitte, tu ihm nichts an. Lass uns reden! Cyril, bitteee!«

Je näher ich dem Wasser kam, desto heftiger brannten meine Beine. Ich spürte kaum noch den Boden unter den Füßen und auch nicht die spitzen Unebenheiten auf den Steinen, die mir in die Sohlen stachen.

Es war nicht das erste Mal, dass ich ins Meer stürzte, aber noch nie war es für mich vom Gefühl her so intensiv gewesen. Es hatte etwas Endgültiges, Unabwendbares, denn es war mir völlig egal, wie es ausging, und das machte mir die Entscheidung leicht.

Komm doch!, flüsterte das Meer, während es dunkel gegen die Klippen klatschte. Du gehörst mir. Du hast schon immer mir gehört. Und jetzt werde ich dich endlich besitzen.

Du wirst nicht viel Freude an mir haben, dachte ich, als ich zum Sprung ansetzte, es sei denn, es macht dir Spaß, Menschen zu töten. Einen Moment nur kamen mir Mam und Sina in den Sinn, und kurz bevor das Wasser über mir zusammenschlug, hörte ich noch Ruby und Tante Grace schreien. Ihre Stimmen verstummten mit dem Rauschen des Meeres in meinen Ohren und ich sank langsam hinunter in trübes, undurchdringliches Blau.

Ich wusste, dass ich nur ein paar Minuten hatte, aber ich wollte nichts unversucht lassen. Wenn Gordy noch lebte, wenn ich ihn irgendwie retten konnte, dann wollte ich alles dafür tun. Dass ich physisch dazu überhaupt nicht in der Lage war, zählte dabei nicht. Es war gegen jede Vernunft, aber ich konnte einfach nicht anders. Mein Inneres sagte mir, dass ich das einzig Richtige tat.

Und so überließ ich mich dem Ruf des Meeres, der mich immer weiter in die Tiefe zog, den dunklen Riffen und dem sandigen Grund entgegen. Das salzige Wasser brannte wie Feuer auf meiner Haut, doch ich verspürte keine Angst, alles kam mir ganz selbstverständlich vor. Ich glitt durch dieses fremde Element, als ob es meine zweite Heimat wäre. Mein Körper und das Meer waren eins. Es schmiegte sich an ihn und floss durch ihn hindurch. Ich »ertrank« ja nicht zum ersten Mal und kannte dieses unglaubliche Gefühl der Glückseligkeit, das mich dabei durchströmte. Aber diesmal war es anders. Intensiver. Geradezu überwältigend. Es berührte eine wunde Stelle in meiner Seele, die offenbar so tief vergraben gewesen war wie ein vor langer Zeit versunkener Schatz im Ozean, an den sich niemand mehr erinnern konnte.

Das Meer hatte auf mich gewartet und nun bekam es mich zurück. Ich öffnete mein Herz und schwamm mit langen, freudigen Zügen meinem Tod entgegen.

Niemals war ich mir selbst näher gewesen als in diesen Sekunden, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass ich gar nicht gestorben war.

Ich spürte kein Brennen mehr, sondern ein Streicheln, das so sanft wie eine Daunenfeder über meinen Körper glitt, und ich sah gestochen scharf: Muscheln und Schnecken, die auf dem weichen Meeresgrund lagen, wogende Algen und winzige Krebse, die in den Spalten der Riffe verschwanden.

Ich hatte die Arme eng an meinen Rumpf gelegt, meine Hüften und meine Beine schlugen im Rhythmus unsichtbarer Wellen und bewegten mich so schnell vorwärts, dass die Fischschwärme, die mir entgegenkamen, erschrocken auseinanderstoben und blitzartig zwischen den Felssteinen Zuflucht suchten.

Bei allem, was ich tat, atmete ich in vollen Zügen. – Ich atmete Wasser! – Und im selben Augenblick, als ich das begriff, erschrak ich so sehr, dass mir für einen Moment die Sinne schwanden. Mein Körper erschlaffte und ich trudelte unkontrolliert auf ein Riff zu. Kurz bevor ich dagegen zu schlagen drohte, riss ich reflexartig die Hände hoch und stützte mich an einem Felsvorsprung ab.

Meine Arme zitterten und mein Herz pulsierte schnell und fest. Obwohl ich ahnte, nein: wusste und fühlte, was passiert war, wagte ich kaum, an mir herunterzuschauen. Wie benommen starrte ich gegen das mit weichen Pflanzen und schillernden Muscheln überwucherte Riff und tat noch ein paar tiefe Atemzüge, bevor ich meinen Blick schließlich langsam an meinem Körper hinabgleiten ließ.

Bis zur Taille war alles noch so, wie ich es kannte. Rosige zarte Haut spannte sich über einen schlanken Menschenleib, auch mein Nabel saß an der gewohnten Stelle, doch nur wenige Zentimeter darunter ging meine alte Haut in eine neue, silbern schimmernde über. Anstelle meiner Beine und Füße besaß ich nun einen glatten Fischschwanz, der in einer Doppelflosse endete.

Ich wollte ein Keuchen ausstoßen, musste allerdings feststellen, dass das unter Wasser gar nicht möglich war. Mein Atem ging für ein paar Augenblicke ein wenig schneller, das war alles.

Plötzlich packte mich die Furcht, dass mich jemand bei meiner Verwandlung beobachtet haben könnte. Wie ertappt riss ich den Kopf hoch und sah mich nach allen Seiten um. Ich fühlte mich, als hätte ich etwas Verbotenes getan.

Die Unterwasserlandschaft war wunderschön, viel farbenprächtiger, als ich sie mir vorgestellt hatte. Doch ich konnte mich nicht daran erfreuen, dazu wirbelten zu viele Dinge durch meinen Kopf. Ich brauchte jetzt einen sicheren Ort, an dem ich zu mir kommen, mich orientieren und meine Gedanken ordnen konnte.

Und so glitt ich vorsichtig im Schutz des Riffs weiter nach unten und suchte es nach einer Ausbuchtung, einem größeren Vorsprung oder einer Höhle ab. Letztere fand ich nicht, dafür jedoch eine Kuhle, die sich hinter einem hohen Felsen verbarg, der mich von seiner Form her an einen uniformierten Soldaten erinnerte. Hastig schlüpfte ich hinein und ließ mich in einen weichen Algensitz sinken.

Meine Flosse wogte in der recht starken Strömung hin und her, und ich spürte, dass ich über kräftige Muskeln verfügte, die mühelos dagegenhalten konnten. Außerdem fiel mir auf, dass ich ein Stück oberhalb, parallel zur Hauptflosse, noch zwei weitere, kleinere Flossen besaß.

Zögernd fuhr ich mit den Fingerkuppen über die silberne Haut. Von der Hüfte abwärts fühlte sie sich glatt an, als ich meine Finger jedoch zurückbewegte, nahm ich einen sanften Widerstand wahr, und bei genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass die Fischhaut aus unzähligen winzigen Schuppen bestand.

Das Meer hatte mich nicht getötet, es hatte mich verwandelt! Aber welchen Grund, welchen Sinn hatte das? Warum war es passiert – und wie hatte es überhaupt geschehen können? Siebzehn Jahre lang war ich niemand anders als Elodie Saller gewesen – wer aber war ich jetzt?

»Du bist immer noch Elodie Saller«, hörte ich Sina sagen. »Wer sonst?«

Erleichtert schloss ich die Augen. Die Stimme meiner besten Freundin, dem vernünftigen, realitätsbezogenen Teil in meinem Leben, war zum Glück ebenfalls immer noch da.

»Du hast deinen Selbstmordversuch überlebt«, fuhr sie fort. »Was hindert dich also daran, deine Mission zu einem glücklichen Ende zu führen?«

»Das war kein Selbstmordversuch«, wollte ich widersprechen, doch mit einem Mal spürte ich Gordy so stark in meinem Herzen, dass ich mir ganz sicher war: Er lebte! Und womöglich konnte er tatsächlich meine Hilfe brauchen.

Sina hatte recht. Was saß ich hier noch herum? Das Meer hatte aus mir – einem lahmen, hilflosen Menschenmädchen – eine schnelle, wendige Nixe gemacht und mir damit die Möglichkeit gegeben, Gordy zur Seite zu stehen.

Ich bin jetzt wie er, dachte ich, und eine Mischung aus Euphorie und erneut aufflammender Angst um ihn durchflutete mich.

Ich wollte mich gerade vom Riff abstoßen, da bemerkte ich links von mir eine Bewegung, und kurz darauf huschte hinter dem Felssoldaten ein länglicher Körper vorbei. Mein Herzschlag setzte aus. Blitzschnell zog ich den Schwanz hoch und duckte mich tief in die Kuhle. Durch einen schmalen Spalt zwischen dem Soldaten und dem Hauptriff sah ich, dass der Körper silbern schillerte, außerdem schien er eine ähnliche Größe zu haben wie ich. Möglicherweise ein Delfin oder ein Hai oder ein besonders stattlicher Rochen. Da ich mich nie für das Leben in den Meeren interessiert hatte, hatte ich auch keine Vorstellung davon, welchen Tieren ich hier im Ärmelkanal begegnen könnte. Und noch viel weniger wusste ich, wie gefährlich sie mir werden konnten.

Während ich über all das nachdachte und mich nach Kräften mühte, meine Furcht vor dem Unbekannten abzuschütteln, fiel mir auf, dass auf dem Grund kein Schatten zu sehen war.

Gordy!, durchzuckte es mich – und nicht einmal einen Atemzug später tauchte sein Gesicht hinter dem Soldaten auf. Seine Augen weiteten sich. Ungläubig starrte er mich an.

Elodie! … Das ist doch wohl nicht möglich!

Gordy! Ich versuchte zu sprechen, aber das gelang mir natürlich nicht.

Warum bist du hier unten?

Er kam nun ganz hinter dem Soldaten hervor und musterte mich von oben bis unten. Fassungslosigkeit, Belustigung, aber auch Schrecken spiegelten sich abwechselnd in seiner Miene wider.

Ich hatte solche Angst um dich! Es ging mir einfach durch den Kopf, und mit einem Mal funktionierte es.

Du bist schon wieder ins Meer gesprungen! Obwohl du mir versprochen hast …

Ja, verdammt, aber ich dachte, dass die Haie dich jagen, dass sie dich töten würden …

Und da wolltest du mir helfen? Gordian schüttelte den Kopf. Elodie, das ist wirklich zauberhaft, aber … Er brach ab und wieder huschte ein Schmunzeln über sein Gesicht. Ich habe noch nie eine Nixe gesehen, die einen BH trägt. Wahrscheinlich hättest du die Haie allein schon durch deinen Anblick in die Flucht geschlagen.

Ich zog eine empörte Grimasse. Wie konnte er sich in dieser Situation nur über mich lustig machen!

Ist dir eigentlich klar, was ich riskiert habe!

Das Schmunzeln verschwand und schlagartig wurde Gordians Ausdruck todernst. Ja. Du hast dein Leben für mich riskiert. Und das nicht zum ersten Mal. Du musst endlich damit aufhören. Diesmal hätte ich dir nämlich nicht helfen können, setzte er finster hinzu.

War ja auch nicht nötig, schnappte ich. Diesmal habe ich mir selbst geholfen.

Darum geht es doch gar nicht! Gordy senkte den Kopf, und als er kurz darauf seinen Blick wieder auf mich richtete, sah er tief verletzt aus. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du durch meine Schuld dein Leben verlierst, sagte er leise.

Augenblicklich löste sich mein Zorn auf. Es war, als würde er einfach vom Meer davongetragen.

Siehst du!, sagte ich ebenso leise. Ich hätte es auch nicht ertragen können!

Mit einem sanften Flossenschlag bewegte ich mich auf ihn zu, legte meine Hände auf seine Schultern und streichelte zärtlich seinen Nacken hinauf. Wir sollten nicht streiten, Gordy. Und uns gegenseitig Vorwürfe machen. Gerade jetzt, wo wir nicht mehr …

Er ließ mich nicht ausreden, sondern drückte kurz seine Lippen auf meine. Dann zog er mich fest in seine Arme. Stumm versank mein Blick in seinem. Im Grünblau des Meeres leuchteten seine Augen noch schöner und auch die Berührung seiner Haut auf meiner fühlte sich hier unter Wasser viel intensiver an.

Gut, dass ich diesen BH trage, scherzte ich.

Gordy legte seine Stirn auf meine. Und dann küsste er mich. Liebevoll umschlossen seine Lippen meinen Mund und seine Zunge strich sachte über meine. Mein Herz erzitterte unter diesem Kuss, und wären wir an Land gewesen, hätte ich sicher für eine Weile den Atem angehalten. Das Meer jedoch schien seinen eigenen Gesetzen zu folgen. Es war körperlicher als Luft, es atmete mich und es atmete Gordy, strömte durch meine und seine Lungen und umspielte auf eine geradezu betörende Weise unsere Körper. Vollkommen befreit von der Angst, die Kontrolle verlieren und mich ertränken zu können, überließ Gordy sich seinen Gefühlen und küsste uns in einen Rausch, der uns alles um uns herum vergessen ließ.

Schon nach wenigen Augenblicken wusste ich nicht mehr, wo ich war, und es spielte auch keine Rolle, denn ich spürte nur noch ihn: seine Arme, die mich hielten, sein Herz, das mit meinem in völligem Gleichklang schlug, und seinen Delfinschwanz, der sich zart an meinen schmiegte.

Die Strömung trug uns mit sich fort, durch ein Meer von Farben und goldenen Lichtreflexen, und spielte mit uns, indem sie uns wie Tanzende umeinander drehte. Es war, als würde das Wasser unsere Seelen zu einer Einheit verschmelzen. Niemals zuvor hatte ich mich Gordy so nah gefühlt – und mich selbst dabei so frei.