
Es war eng und es war dunkel. Meine Knöchel juckten, zumindest kam es mir so vor. Ich konnte mich kaum bewegen und meine Beine schmerzten so sehr, dass ich mich auf das, was mit meinen Knöcheln passierte, nicht wirklich konzentrieren konnte. Jemand zerrte an mir, wollte mich in die Tiefe reißen, und auf meiner Schädeldecke spürte ich einen Druck, als ob noch ein anderer gewaltsam von oben nachschob.
Ich wehrte mich mit aller Kraft und versuchte, meinen Kopf zu befreien und hinaufzusehen – dorthin, wo der Himmel war, wo es irgendwann wieder heller werden würde und wo ich meinem Feind vielleicht ins Gesicht schauen konnte, denn ich hatte das untrügliche Gefühl, dass er auf keinen Fall erkannt werden wollte. Möglicherweise würde es mir gelingen, die Macht, die er über mich hatte, zu brechen, sobald mein Blick in seine Augen traf. Und offenbar war mein Wille stark genug. Ich schaffte es, die Schultern zu bewegen und den Kopf mit einem Ruck zur Seite zu drehen. Der Druck auf meinem Scheitel verschwand sofort und einen Lidschlag später sah ich in ein glühendes Augenpaar.
Kyan, durchzuckte es mich, aber er lachte nur. Laut und schallend. Und auf einmal war es Cyril, der sein Gesicht zu einer widerlichen Fratze verzerrte und mir einen Schwall pechschwarzes Wasser ins Gesicht spie.
Ich rang nach Luft und bäumte mich auf. Ein Sonnenstrahl traf mich mitten ins Gesicht, und mit einem Schlag wurde mir bewusst, dass es nicht Cyril war, der mich zu erdrücken versuchte, denn ich erinnerte mich daran, dass Gordian sich vor dem Einschlafen über mich gelegt hatte.
»Geh weg«, stöhnte ich und fing an, um mich zu schlagen und zu treten. Einen Moment wunderte ich mich noch über meine plötzlich wiedergewonnene Freiheit, da umfasste jemand meine Handgelenke und Tante Grace sagte ruhig, aber bestimmt: »Es ist alles in Ordnung, Elodie. Niemand tut dir etwas.«
Ein paar Sekunden lang war ich völlig verwirrt, dann kapierte ich, dass meine Großtante in einem geblümten Morgenrock neben mir saß und meine Arme neben meinem Kopf in die Kissen drückte.
»Wo ist Gordy?«, stieß ich keuchend hervor.
»In seinem Zimmer im Gästehaus, nehme ich an«, erwiderte sie.
»Aber …?«
»Nichts aber. Du hast geträumt«, sagte Tante Grace. Sie ließ mich los und seufzte. »Wie so oft in der letzten Zeit. Diesmal scheint es allerdings besonders … na ja, sagen wir mal intensiv gewesen zu sein. Ich habe deine Schreie bis hinunter in meine Schlafstube gehört.« Sie zupfte an meinem Trägertop. »Offensichtlich hast du Rotz und Wasser geheult. Ich glaube, ich werde mit deiner Mutter darüber beraten, ob es nicht sinnvoller ist …«
Ich schnellte hoch. »Nein!«
»Lass mich doch erst mal ausreden«, entgegnete meine Großtante. »Du weißt ja gar nicht, was ich sagen will.«
»Ich kann es mir denken.«
Tante Grace lächelte. »Das glaube ich kaum.«
Ich runzelte die Stirn und überlegte, in welche Falle ich wohl als Nächstes tappen würde.
»Ich habe den Eindruck, dass Gordian ein sehr feinfühliger junger Mann ist«, begann sie. »Auf jeden Fall finde ich ihn ausgesprochen sympathisch – auch wenn ihm das, was ich koche, offensichtlich nicht schmeckt«, fügte sie mit leicht tadelndem Unterton hinzu.
»Tante Grace …«
Sie ließ mich nicht zu Wort kommen, sondern tätschelte mir sanft den Oberschenkel. »Es wird wohl daran liegen, dass ich mich mit den Ernährungsgewohnheiten eines Extremsportlers nicht so recht auskenne«, meinte sie lächelnd. »Davon abgesehen, ist es ohnehin seine Sache. Nur weil ich ihn hier wohnen lasse und zu den Mahlzeiten eingeladen habe …«
»Solltest du mich jetzt mit Vorwürfen überschütten wollen, Tante Grace …«, murmelte ich.
»Nein, entschuldige, das will ich selbstverständlich nicht«, unterbrach sie mich. »Schon gar nicht, nachdem du so schlecht geträumt hast. Also«, fuhr sie leise seufzend fort, »ich dachte mir, dass es vielleicht das Beste wäre, wenn Gordian auch über Nacht bei dir ist. Das Apartment hier ist ja groß genug!« Sie machte eine weit ausholende Geste und deutete anschließend auf die freie Stelle unter der Schräge gegenüber der Sitzgruppe. »Wir könnten dort drüben ein zweites Bett aufstellen. Das scheint mir kein Problem zu sein.«
Ungläubig sah ich sie an. »Tante Grace …«
»Selbstverständlich nur, wenn es ihm recht ist.« Sie erwiderte meinen Blick. »Und dir natürlich.« Noch einmal tätschelte sie meinen Oberschenkel, dann erhob sie sich von der Bettkante, räusperte sich ein wenig umständlich und fragte: »Ich nehme an, du hast ihm erzählt, warum du hier bist.«
»Ähm, ja.« Ich nickte.
»Gut. Dann rufe ich jetzt Rafaela an. Mich würde es jedenfalls außerordentlich beruhigen, wenn du nachts nicht allein hier oben wärst.«
»Okay«, sagte ich. »Wenn du meinst.« Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich konnte es kaum erwarten, dass sie das Zimmer verließ und ich endlich nachschauen konnte, wo Gordian abgeblieben war.
»Wir reden nachher noch einmal darüber.« Meine Großtante rückte ihr nachlässig umgebundenes violettes Haarband zurecht. »Und jetzt solltest du dich bitte rasch fertig machen. Jane zählt auf dich. Ich würde dich nur ungern gleich am ersten Tag bei ihr entschuldigen müssen.«
»Kein Problem«, beruhigte ich sie. »Es geht mir gut.«
Wenn man davon absah, dass mein T-Shirt und das Kopfkissen wieder einmal klatschnass waren – und zwar ganz sicher nicht, weil ich Rotz und Wasser geheult hatte.
»Fein«, sagte Tante Grace. »Dann erwarte ich dich in einer halben Stunde zum Frühstück.« Sie versuchte ein Lächeln. Es war unschwer zu erkennen, wie wenig ihr das Ganze gefiel – weder meine Albträume noch der Vorschlag, zu dem sie sich gerade durchgerungen hatte. »Also, bis gleich.«
Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, tauchte Gordy zwischen den Blättern der Birkenfeige am Kopfende des Bettes auf.
»Du hast so laut geschrien, dass ich nicht gehört habe, wie sie die Treppe heraufkam.« Zerknirscht zuckte er mit den Schultern. »Ich habe es einfach nicht mehr bis ins Badezimmer geschafft. Aber in Zukunft scheint das ja auch nicht mehr nötig zu sein«, meinte er lächelnd. »Wir werden sie nicht mehr anlügen müssen.«
Ich presste die Lippen zusammen und blitzte ihn wütend an. Die Sache mit Tante Grace war ja gut und schön, doch was Gordy betraf, hatte ich im Moment wirklich andere Sorgen.
»Was hast du mit mir gemacht?«, blaffte ich, fasste das nasse Top mit den Fingern und hielt es mir vom Körper weg. »Wolltest du mich ertränken?«
Gordian richtete sich zu seiner vollen Länge auf und zwinkerte mir zu. »Nein, ich habe nur versucht, mit dir zu schlafen.«
»Gordy, das ist nicht witzig! Sag mir einfach, was passiert ist!«, zischte ich. »Wer ist hier gewesen? Kyan?«
Er schüttelte den Kopf.
»Cyril?«
»Niemand außer dir und mir. Wenn du also denkst …«
»Was soll ich denn sonst denken?«, stieß ich hervor. »Du hast dich auf mich gelegt …«
Die Erinnerung daran, wie schön genau das gestern Abend gewesen war, war inzwischen verblasst.
»Ja … weil ich so nah wie nur irgend möglich bei dir sein wollte, aber ich habe dich nicht angerührt.« Gordian umrundete das Bett und kam nun langsam auf mich zu. »Niemand hat dich angerührt.« Er sah mir fest in die Augen.
»A-aber wieso … ich meine, ich habe geweint …«, stammelte ich.
»Ja, das hast du.«
»Aber wie …?«
Gordy strich mir besänftigend über die Schulter. In seinen Augen blitzte es. Ganz automatisch blickte ich auf das Grübchen über seiner Oberlippe und mein Zorn verrauchte auf der Stelle. »Du würdest es ohnehin nicht glauben«, sagte er leise.
»Was?«, murmelte ich irritiert.
Wie immer, wenn Gordian mich mit seinem besonderen Lächeln überrumpelt hatte, fühlte ich mich ein paar Sekunden lang wie benommen. Und als ich endlich wieder klar denken konnte, blieb mir keine Zeit, weiter nachzubohren, was in der Nacht wirklich passiert war und was das für glitzernde Kristalle waren, die gestern Abend in seinen Augen erschienen waren. Denn Tante Grace würde es garantiert nicht dulden, dass ich auch nur eine Minute zu spät zum Frühstück kam.
Aber all das würde ich nachholen, gleich heute Nachmittag. Und ich würde ganz sicher keine Ruhe geben, bevor er mir nicht alle Fragen beantwortet hatte.
»Es gefällt mir nicht«, sagte er, nachdem ich im Bad gewesen war und ihm anschließend hastig von meinem neuen Job erzählt hatte. »Solange du in dieser Silberschmiede bist, kann ich nicht auf dich aufpassen.«
Fast entlockte mir diese Bemerkung ein Grinsen. Hatte ich nicht gewusst, dass er genau das sagen würde?
»Ist das denn überhaupt noch nötig?«, bemerkte ich stattdessen spitz. »Offenbar ist ja nie jemand in meinem Zimmer gewesen. Niemand hat versucht, mir etwas anzutun. Ich habe das alles doch bloß geträumt!«
»Elodie …«
Ich sah, wie unglücklich er war und wie sehr er mit sich kämpfte. Doch ebenso wie ich würde er das aushalten und sich gedulden müssen.
»Bis nachher«, sagte ich, schlüpfte durch die Tür und eilte die Treppe hinunter.
Ich hatte weder Hunger noch Appetit, trotzdem aß ich zwei Toasts mit Rührei und Champignons und eine gebackene Tomate, nur um meiner Großtante zu signalisieren, dass sie sich keine Sorgen um mich zu machen brauchte.
Nach dem Frühstück gab sie mir eine Karte und erklärte mir den Weg.
»In gut fünf Minuten solltest du dort sein«, meinte sie. »Es ist ausgeschildert. Du kannst es gar nicht verfehlen.«
»Und notfalls hätte ich auch einen Mund, um nach dem Weg zu fragen«, versicherte ich ihr. Dann holte ich das Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr los.
»Wir sollten versuchen, miteinander auszukommen!«, rief meine Großtante mir nach. »Findest du nicht?«
Ich bremste ab, wendete in einer lang gezogenen Kurve auf der Kiesauffahrt und fuhr langsam zu ihr zurück. »Tut mir leid, ich wollte nicht schnippisch sein«, entschuldigte ich mich, schlang ihr meinen Arm um den Hals und küsste sie auf die Wange.
»Nein, du wolltest mir nur zu verstehen geben, dass du schon groß bist«, erwiderte sie und drückte mich sanft. »Und du hast recht: Ich sollte dich nicht so bevormunden.«
»Zu spät«, sagte ich und schenkte ihr ein Lächeln. »Nun werde ich mir deine Jane und ihr Atelier mal ansehen. Vielleicht ist dieser Job ja gar nicht so übel. Und mit Mam telefoniere ich eigentlich auch ganz gern. Sooo verkehrt ist deine übertriebene Fürsorge also gar nicht.«
»Na, dann bin ich ja beruhigt.« Tante Grace kniff mich zärtlich in die Wange und verpasste mir anschließend einen Klaps auf den Hintern. »Und nun mach, dass du fortkommst! Sonst verspätest du dich womöglich doch noch.«

Ich verspätete mich nicht, sondern kam pünktlich auf die Minute bei der Schmuckwerkstatt an. Jane’s Jewellery stand in fein geschwungenen Lettern auf einem Blechschild an der lavendelfarben getünchten Mauer, die das Grundstück der Schmuckschmiede umgab.
Ich sprang vom Rad und schob es durch das schmiedeeiserne Tor in einen mit Kopfsteinen gepflasterten Innenhof. Überall lugten Grashalme und winzige weiße Blumen aus den Ritzen hervor, und rechts und links des Hauses, dessen grob verputzte Wände in einem etwas dunkleren Lilaton als die Außenmauer gestrichen waren, wuchsen riesige Kamelienstauden. Das Haus schien um einiges größer zu sein als die Cottages von Tante Grace und es hatte zwei Eingänge. Der eine befand sich unmittelbar gegenüber dem Tor, und den zweiten erreichte man, wenn man einem aufgemalten weißen Pfeil und dem Hinweis Schmuckwerkstatt – Ausstellungsraum folgte.
Ich hob meinen Drahtesel in einen rostigen Ständer, der Platz für drei weitere Fahrräder bot, und trat durch einen sonnendurchfluteten Glasvorbau in die Werkstatt.
»Hallo! Du musst Elodie sein!«, rief eine etwas rauchige, aber überraschend junge Stimme aus dem Dunkel des angrenzenden Raumes. »Komm nur herein … oder nein, warte … ich komme zu dir.«
Es ertönte ein Geräusch, als ob etwas Hölzernes – vielleicht ein Hocker – über einen Steinboden geschoben wurde, und kurz darauf tauchte eine zierliche Frau in der Tür auf. Alles an ihr lachte mich an, die aufrechte Körperhaltung, die verschiedenen bunten T-Shirts, Tuniken und Westen, die sie übereinander trug, das helle herzförmige Gesicht, eingerahmt von wilden roten Locken, die nussbraunen Augen und die schmalen, aber fein geschwungenen Lippen.
»Ich bin Jane«, stellte sie sich vor. »Jane la Belleigne. Aber nenn mich einfach Jane.«
Ich ergriff die schmale Hand, die sie mir entgegenstreckte, und war überrascht von dem kräftigen Druck ihrer schmalen Finger und dem Schwung, mit dem sie meinen ganzen Arm schüttelte.
»Deine Großtante Grace und ich kennen uns schon seit mindestens elf Jahrtausenden.« Sie lachte ein witziges keckerndes Lachen. »So zumindest kommt es mir vor. Und umso glücklicher bin ich, dass du mir ein wenig behilflich sein willst.«
»Okay.« Unschlüssig blickte ich mich in dem vollkommen leeren Glasraum um. »Was soll ich denn überhaupt machen? Ich bin nämlich nicht sonderlich geschickt mit den Händen, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Also, du musst hier ganz sicher nichts tun, was dir nicht zusagt«, erwiderte Jane und ein leicht verlegenes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Ich weiß ja nicht, ob Grace es dir gesagt hat, aber der Lohn für deine Arbeit wird nicht besonders üppig sein.«
»Oh … ach so.« Ich nickte. »Dann ist es wohl eher als eine Art Beschäftigungstherapie gedacht.«
Jane zuckte mit den Schultern. »Deine Großtante befürchtet, dir könnte sonst womöglich die Decke auf den Kopf fallen «, meinte sie und seufzte leise. »Sie hat es dir also nicht gesagt!«
»Was?«
»Dass ich dir nicht mehr als lächerliche drei Pfund die Stunde geben kann.«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber das macht überhaupt nichts. Ich bin ja nicht hier auf Guernsey, um Geld zu verdienen, sondern weil Tante Grace …«
»Ja, das dachte ich mir«, unterbrach sie mich grinsend und seufzte dann gleich noch einmal. »Das bedeutet im Klartext, dass du am liebsten sofort wieder die Biege machen würdest, stimmt’s?«
»Nein«, sagte ich und das war eine absolut ehrliche Antwort.
Natürlich war die Aussicht, auf der Stelle wieder heimfahren und die Zeit mit Gordy verbringen zu können, außerordentlich verlockend. Doch irgendwie genoss ich es auch, hier zu sein. Es tat gut, die Nordsee ein paar Kilometer entfernt zu wissen und mit jemandem Kontakt zu haben, der nichts mit Nixen zu tun hatte und mit dem ich über all das auch nicht sprechen musste. Zumindest hoffte ich, dass Jane die Morde auf Sark und das Abschlachten der sogenannten Mörderbestie nicht zum Thema machen würde.
»Fein«, sagte sie jetzt, »dann könnten wir ja so eine Art private Abmachung treffen, wenn du magst.«
»Klar.«
»Ich erkläre dir, was ich vorhabe, und du entscheidest, wann und wie oft du kommen willst, um mir dabei zu helfen, okay?«
»Klingt super.« – Wenn zudem noch Tante Grace mitspielte! – »Und was soll ich jetzt tun?«
»Kisten raustragen … Und zwar von dort drinnen …« Sie deutete hinter sich und zeigte anschließend auf den Boden des Glasraums, der aus breiten dunklen Holzdielen bestand. »… nach hier draußen.«
»Aha?«
»In den Kisten befindet sich Schmuck«, erklärte sie mir.
»Den du entworfen und hergestellt hast?«
»Genau«, bestätigte sie. »Heute Nachmittag werden zwei Thekenvitrinen und ein Schrank angeliefert.«
Ich runzelte die Stirn. »Wenn ich nicht mehr hier bin?«
»Beim Aufstellen der Vitrinen können mir die Anlieferer helfen«, meinte Jane. »Das sind in der Regel kräftige Männer. Für uns zarte Geschöpfe sind die Dinger ohnehin viel zu schwer. Wir stellen jetzt erst mal die Kisten raus. Danach trinken wir einen Kaffee oder eine heiße Schokolade. Und morgen beginnen wir damit, den Schmuck in die Vitrinen zu räumen. Wir haben ein paar Tage Zeit dafür. Die Neueröffnung ist nämlich erst am nächsten Wochenende. Also alles halb so wild«, setzte sie grinsend hinzu, knuffte mich leicht in die Seite und wandte sich um. »Dann komm mal mit.«
Ich folgte ihr in den angrenzenden Raum, der nur ein winziges Sprossenfenster und eine weitere Tür hatte und auch ein wenig kleiner war als der gläserne Anbau.
»Den Wintergarten habe ich mir im letzten Jahr geleistet«, erzählte sie. »Allmählich wird es Zeit, dass ich ihn auch nutze.«
»Heißt das, du hast deinen Schmuck bisher nicht ausgestellt? «, fragte ich, während ich mich umsah.
Der Boden bestand aus blaugrauem Granit und gab mir das unangenehme Gefühl, verschluckt zu werden. Zwar waren die Wände in einem hellen Creme gestrichen, doch das konnte seine Wirkung nicht entfalten, da ringsherum bis knapp unter die Zimmerdecke Pappkisten aufgestapelt waren.
»Nicht hier«, war Janes knappe Antwort, und ich kapierte sofort, dass es besser war, nicht nachzuhaken.
»Okay«, sagte ich also nur. »Und die sollen alle in den Wintergarten? «
»Nein, nur diese hier.« Jane deutete auf die Kisten, die an der Wand standen, in der sich das Fenster befand. Sie zog eine Trittleiter heran, und mir fiel auf, dass sie ihren linken Fuß ein wenig nachzog.
»Soll ich das nicht lieber machen?«, bot ich an.
»Ja, gut.« Sie war sofort einverstanden. »Du reichst sie mir, und sobald wir eine Reihe abgetragen haben, bringen wir sie raus.«
Mir schien es zwar sinnvoller zu sein, zuerst die Vitrinen aufstellen zu lassen, ich hütete mich aber, etwas in dieser Richtung zu äußern. Das hier war Janes Laden. Sie würde schon wissen, was sie tat.
Und so arbeiteten wir eine gute halbe Stunde schweigend vor uns hin, dann standen annähernd vierzig Kisten in der Mitte des Wintergartens.
»Sehr gut.« Janes braune Augen strahlten. »Das ging viel schneller, als ich dachte. Tja«, fuhr sie achselzuckend fort, »aber normalerweise habe ich ja auch keine Hilfe.«
Vielleicht irrte ich mich, aber ich glaubte, eine Spur von Wehmut in ihrer Stimme vernommen zu haben. Unentschlossen sah ich sie an und sie bemerkte mein Zögern sofort.
»Was ist?«
»Ähm …«
»Jetzt sag nicht nichts«, kam sie mir zuvor.
»Na ja …« Ich zog die Schultern hoch. »Das klingt irgendwie ein bisschen … einsam.«
»Ich lebe allein und ich bin oft einsam, das stimmt«, gab Jane unumwunden zu. »Das bedeutet aber nicht, dass ich keine Freunde habe. Sie sind nur …«
»Was?«
Sie winkte ab. »Ach, nichts.«
Ich versuchte ein Lächeln. »Jetzt hast du nichts gesagt.«
Jane nickte. »Ja, hab ich.« Wieder so eine knappe Antwort, die mir signalisierte, dass Nachhaken keinen Sinn hatte, und allmählich begann ich, mich zu fragen, wer von uns beiden diese Therapiestunden eigentlich nötiger hatte.
»Ich mach uns jetzt mal einen Latte macchiato«, sagte Jane, umrundete die Kisten und verließ den Wintergarten.
Ich lief ihr hinterher und überlegte, wie alt sie wohl sein mochte. Weil sie sehr zierlich war und sich so hippiemäßig kleidete, wirkte sie fast noch wie ein Mädchen, trotzdem kam ich zu der Überzeugung, dass sie mindestens dreißig sein musste.
Jane führte mich zum Eingang des Haupthauses, einer weißen Holztür mit einem quadratischen Fenster, das den Blick nach innen durch eine zarte pinkfarbene Spitzengardine abschirmte.
Wir betraten einen schmalen Flur, der in ein großes helles Zimmer mündete, welches offensichtlich Wohnraum und Küche zugleich war. Ein warmer honigartiger Geruch schlug mir entgegen, der irgendwie nicht so recht zu dieser Insel passen wollte, aber ich fühlte mich sofort wohl.
Durch ein riesiges Fenster und eine weit offen stehende doppelflügelige Glastür fiel Sonnenlicht herein. Dahinter lag ein total verwilderter Garten mit einem recht großen Teich, an dem eine Bank aufgestellt war sowie ein schnörkeliger runder Eisentisch, der bereits reichlich Patina angesetzt hatte.
»Geh ruhig schon mal raus, ich bin sofort bei dir!«, rief Jane mir zu und verschwand geschäftig hinter einer Art Tresen im Küchenteil.
Ich lief durch weiches, beinahe wadenhohes und von gelben Blüten durchsetztes Gras.
Mit jedem Schritt, den ich auf den Teich zumachte, juckten meine Knöchel heftiger, und ich war bereits drauf und dran umzudrehen, aber da hatte ich ihn bereits unmittelbar unter der Wasseroberfläche schwimmen sehen – den kleinen, nicht viel mehr als einen halben Meter messenden Hai!