Es ändert nichts, hörte ich Gordy sagen. Mir ist ganz egal, wer du bist, ich liebe dich genauso sehr wie zuvor.
Nachdem das Mädchen verschwunden war, hatte er mich gleich wieder unter die Oberfläche gedrückt. Wir waren bis zum Grund hinabgetaucht, und dort hatte er mich dann gezwungen, an mir herabzuschauen und den Unterschied zwischen seiner und meiner Schwanzflosse zu erkennen und damit zwischen ihm und mir.
Hast du es gewusst?, schrie ich ihn an. Hast du geahnt, dass ich eine Hainixe bin?
Es brachte mich fast um, weil es die Kluft zwischen uns wieder vergrößerte, vor allem aber, weil ich nun überhaupt keine Vorstellung mehr davon hatte, wer ich war, woher ich stammte und welchen Sinn das alles überhaupt hatte.
Nein, erwiderte Gordy leise. Ich habe so sehr gehofft, dass du … Er wollte mir über die Wange streicheln, aber ich drehte mein Gesicht zur Seite.
Ich fühlte mich innerlich so wund, dass ich keine Berührung ertragen konnte, nicht einmal seine.
Wir schwimmen jetzt in die Perelle Bay zurück, sagte Gordy. Er umfasste meine Taille und zog mich entschlossen weiter. Wir reden mit deiner Großtante. Wir sagen ihr alles. Und wenn ich alles sage, dann meine ich das auch so.
Ich war wütend auf ihn, aber ich ließ mich widerstandslos von ihm forttragen. Ohnehin hatte ich keine Wahl. Seit ein paar Stunden war mein ganzes bisheriges Leben so weit entfernt von mir selbst, dass ich plötzlich nicht einmal mehr Trauer oder Schmerz verspürte.
Gordian hielt mich fest umklammert und huschte mit schnellen geschmeidigen Bewegungen durch die felsige Unterwasserlandschaft, stets in Bodennähe und immer wieder um sich blickend. Ich spürte seine Unruhe und das machte auch mich zunehmend nervös.
Glaubst du, dass Kyan uns auflauert?
Ich traue ihm alles zu, erwiderte er.
Die Erinnerung an Gordys Kampf mit Kyan in der letzten Woche jagte mir einen Schauer über den Rücken. Als Plonx – also halb Mensch, halb Delfin – mochte Gordy ihm vielleicht überlegen sein, denn Kyan, Zak und Liam waren immer nur das eine oder das andere und damit entweder langsamer oder weniger beweglich, zumindest was den Einsatz ihrer Arme betraf, die in den Seitenflossen gefangen waren. Im Gegensatz zu Gordian war Kyan jedoch alles andere als friedliebend, und sein Hass verlieh ihm eine mörderische Kraft, die es erst mal zu besiegen galt. Würden alle drei zugleich über uns herfallen, hätten wir definitiv keine Chance.
Ich spürte, wie ein Adrenalinstoß meinen Herzschlag beschleunigte und die Muskeln meines Haischwanzes in Bewegung setzte. Aus den Tiefen meines Beckens stieg jetzt eine Energie in mir auf, die ich so noch nie empfunden hatte, und mit einem Mal war es ganz und gar unmöglich für mich, mich noch weiter von Gordy ziehen zu lassen. Mein Zorn auf ihn war verraucht und die Sorge um meine Abstammung kam mir auf einmal lächerlich vor. Stattdessen plagte mich nun ein ganz anderer Gedanke.
Hältst du es für möglich, dass Kyan einen Krieg provozieren will?
Nein. Gordians Antwort kam ohne das geringste Zögern.
Dazu ist er zu egoistisch und vor allem auch zu feige. Er greift andere nur an, wenn er sich ganz sicher ist, dass sie in der Unterzahl sind. Das allerdings kann man bei den Haien nie wissen. Sie bilden zwar keine Allianzen, sondern kämpfen in der Regel jeder für sich. Wird aber einer von ihnen angegriffen, verteidigt ihn die Gruppe bis aufs Blut. Sie denken nicht darüber nach, dass sie dabei ihr eigenes Leben verlieren könnten.
Und Delfine schon?, vergewisserte ich mich.
Gordy nickte. Selbstschutz dient dem Schutz der ganzen Gruppe. Es ist eine vollkommen andere Philosophie. Ich persönlich glaube, dass die eine so gut funktioniert wie die andere.
Solange die Gruppen gleich stark sind, dachte ich, verzichtete jedoch auf einen Kommentar und konzentrierte mich stattdessen darauf, meine Bewegungen den seinen anzupassen, damit wir unser Tempo erhöhen und uns dabei möglichst eng umschlungen halten konnten. Da meine Flosse senkrecht stand, musste ich meinen Schwanz hin und her schwingen, um vorwärtszukommen. Gordys dagegen wogte auf und ab, wobei seine Hüfte unablässig gegen meine stieß, und obwohl ich mich entschlossen dagegen wehrte, brachte diese Berührung mein Blut allmählich zum Kochen, sodass ich schließlich aus dem Rhythmus kam.
Wenn du immer nur daran denkst, wirst du uns eines Tages noch umbringen, wisperte er. Es klang belustigt, aber ich registrierte auch den Ernst, der sich dahinter verbarg. Außerdem hatte er nun zum ersten Mal zugegeben, dass er alle meine Gedanken lesen konnte.
An Land muss ich mich sehr konzentrieren, ging er prompt auf meine Überlegungen ein. Im Meer fließt es von allein. Im Grunde verständigen wir uns hier ja über nichts anderes als unsere Gedanken.
Und wieso nehme ich dann von dir nur das wahr, was du mir mitteilen willst?
Gordy lachte leise. Eben drum. Ich habe gelernt, meine Gedanken zu verbergen.
Ja, natürlich! Gordian war damit aufgewachsen, er war es gewohnt, sein Echolot zu benutzen und gezielt Signale auszusenden oder sie bewusst zurückzuhalten.
Das ist nicht ganz richtig, erwiderte er. Zak und Liam sind ebenfalls so geboren und können es trotzdem nicht. Anfangs wusste ich mir das nicht zu erklären, mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass es auch damit zu tun hat, wie gut sie sich in die Gruppe einfügen beziehungsweise sich Kyan unterordnen.
Was du nicht getan hast, schlussfolgerte ich.
Gordy zuckte die Achseln. Na ja, zumindest immer weniger.
Und jetzt als Plonx bist du ohnehin völlig unabhängig von ihm, setzte ich hinzu.
Du wirst ebenfalls lernen, dich zu verschließen, meinte Gordian zuversichtlich.
Was? Habe ich etwa auch ein Echolot? … Oder ein Sonar?
Nein. Wieder musste er lachen. Jedenfalls nicht so wie ich.
Trotzdem wirst du es irgendwann schaffen, deine Gedanken vor mir zu verstecken.
Vielleicht will ich das ja gar nicht, entgegnete ich trotzig.
Meinetwegen, sagte Gordy. Es ist ja nicht so, dass ich sie mir nicht gern anhöre.
Grinsend legte er seine Arme um meine Taille und zog mich ganz plötzlich an der steilen Seite eines Riffs nach oben. Kurz bevor wir die Oberfläche erreichten, flachte der Fels ab, und im nächsten Moment saßen wir auf einem glatten Plateau inmitten sanft tanzender Lichtflecken, die die Sonnenstrahlen darauf malten.
Ich richtete den Blick nach oben. Die Wasseroberfläche war nur noch wenige Zentimeter entfernt, darüber strahlte der wolkenlose Himmel.
Wenn du vor dem Auftauchen sämtliches Wasser aus deiner Lunge presst, tut der erste Atemzug an der Luft nicht so weh, sagte Gordy.
Okay. Entschlossen leerte ich meine Lungen und wollte gerade nach oben schießen und mich an Land werfen, da packte Gordy meine Hüften und hielt mich zurück.
Nicht so schnell. Zuerst musst du dich vergewissern, dass dich niemand dabei beobachtet. Wir befinden uns nämlich direkt unterhalb des Hauses deiner Großtante.
Beim Gedanken an Tante Grace breitete sich ein Gefühl der Beklemmung in mir aus. Wie sollte ich ihr bloß begreiflich machen, was mit mir passiert war? Würde sie mir überhaupt glauben?
Du kannst es ihr jederzeit beweisen.
Ich wollte widersprechen, aber Gordy ließ mich nicht zu Wort kommen.
Du hast ohnehin keine Wahl, sagte er. Wie willst du ihr erklären, dass du nicht ertrunken bist? Außerdem weiß sie womöglich tatsächlich mehr, als sie bisher zugegeben hat.
Also gut. Ich nickte ihm zu. Zeig mir, wie ich mir sicher sein kann, dass niemand von den Klippen zu uns herabschaut, während wir uns verwandeln.
Schließ die Augen. Und jetzt hör gut zu, sagte Gordy. Wenige Zentimeter unterhalb deines menschlichen Ohrs befindet sich ein zweites Sinnesorgan. Es ist viel empfindlicher und lässt dich Geräusche aus mehr als einem Kilometer Entfernung wahrnehmen.
Okay, sagte ich noch einmal. Wieder presste ich sämtliches Wasser aus meiner Lunge, wieder wollte ich mich hochstoßen und wieder hielt Gordy mich zurück.
Warte!
Was ist denn noch? Allmählich wurde ich ungeduldig. Ich wollte es endlich hinter mich bringen.
Die Verwandlung vollzieht sich innerhalb von Sekunden. Du musst aufpassen, dass die Haut deines Schwanzes nicht ins Meer gleitet.
Ich seufzte. Keine Ahnung, ob ich das schaffe.
Wird schon. Notfalls bin ich ja auch noch da.
Gordian schloss nicht einmal die Augen, sondern schien einfach zu wissen, ob jemand in der Nähe des Ufers war. Blitzschnell verschwand er aus dem Meer, ohne dass die Wasseroberfläche sich kräuselte.
Ob ich das auch so hinbekam?
Entweder du versuchst es oder du paddelst für den Rest deines Lebens im Meer herum, sagte ich mir. Entschlossen leerte ich meine Lungen und zog mich über das Klippenplateau hinweg aus dem Wasser. In der Sekunde, in der meine Hüften mit der Luft in Berührung kamen, spürte ich ein sanftes Kitzeln auf der Haut. Reflexartig griff ich dorthin und schon hielt ich ein glattes, hauchfeines Tuch zwischen den Fingern. Für einen Augenblick fühlte es sich an, als würde ich in der Mitte geteilt, dann standen meine Füße so sicher auf dem glitschigen Fels, als wären ihre Sohlen mit Saugnäpfen versehen.
Hektisch und ein wenig umständlich fummelte ich mir das silberne Tuch um den Leib und knotete es über der linken Brust zusammen. Dabei fiel mein Blick auf meine Beine, und ich bemerkte, dass die Wunde über meinem rechten Knöchel vollständig verheilt und dort nicht einmal eine Narbe zurückgeblieben war.
»Nicht schlecht für den Anfang«, meinte Gordian und lächelte schief. »Das mit der Haut könnte zwar noch ein bisschen schneller gehen …« Er griff nach meiner Hand, zog mich zu sich heran und küsste mich zärtlich und ohne jede Scheu. »Du bist so wunderwunderschön«, murmelte er, als er sich wieder von mir löste.
Sein Kuss hatte mich ein wenig schwindelig gemacht, und deshalb dauerte es einen Moment, bis ich kapierte.
»Ich war viel zu langsam, stimmt’s? Du hast alles gesehen …?«
Gordy zuckte die Achseln. Seine Pupillen waren groß und schwarz.
»Und, war es schlimm?«, fragte ich rau. »Hast du mit dem Gedanken gespielt, mich zu töten?«
»Mit dem nicht.« Seine Stimme klang dunkel und samtig.
»Mit dem anderen schon.«
Meine Knie wurden weich, und ich musste mich an ihm festhalten, um nicht zusammenzusacken. »Du machst mich wahnsinnig, weißt du das?«, seufzte ich.
»Tut mir leid, aber …« Aus tiefgrünen Augen blickte Gordian mich an. »Dein Anblick hat mich wirklich … umgehauen.
Besonders deine Rückseite ist … sehr bezaubernd.«
»Sie ist gar nicht so einmalig«, sagte ich etwas verlegen. Keine Ahnung, wieso mir ausgerechnet jetzt Aimee einfiel. »Es gibt ein Mädchen, eine Freundin von Ruby. Sie sieht mir sehr ähnlich. Vor allem von hinten.«
Gordy zog mich in seine Arme. »Das ist völlig unmöglich.«
»Doch«, beharrte ich. »Sie hat sogar meine Haarfarbe.«
»Für mich bist du einmalig.« Zärtlich strich er mir über die Wange. Sein nasses goldblondes Haar glänzte in der Sonne und seine Haut schimmerte samtig. Er sah zum Dahinschmelzen aus. »Bitte verzeih mir«, sagte er leise.
»Was?«, hauchte ich erschrocken.
»Deine Großtante … Sie steht bereits in der Tür und könnte jeden Augenblick dort oben im Garten auftauchen.«
Gordian tastete nach meiner Hand und ich wandte den Blick zum Cottage hinauf.
Zwischen einer violett blühenden Kamelie und einem knorrigen Birnbaum, mitten im strahlenden Sonnenschein, stand Tante Grace und starrte zu uns herunter.
Mein Herz polterte los. Instinktiv drückte ich mich dicht an Gordy.
»Sieh mich an«, flüsterte er.
Ganz kurz nur trafen sich unsere Blicke, ich nahm das Blitzen in seinen Pupillen fast gar nicht wahr, aber es reichte aus, um mich vollkommen zu entspannen. Ich spürte einen leichten Schwindel, mein Herzschlag normalisierte sich, und die Aussicht, in weniger als einer Minute vor meiner Großtante zu stehen und ihr alles erklären zu müssen, machte mich nicht im Geringsten nervös.
Und so stiegen wir Hand in Hand die Terrassen hinauf. Mein Schatten folgte mir bei jeder Bewegung, Gordy dagegen schien geradezu über den Boden zu schweben.
Einige Schritte vor Tante Grace blieben wir stehen. Uns noch immer an den Händen haltend, sahen wir sie an.
Sie musterte uns ohne jede Regung. Es war unmöglich zu erkennen, ob sie sich freute, erleichtert, überrascht oder eher wütend war.
»Ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt, vielleicht doch die Wasserschutzpolizei zu verständigen«, sagte sie schließlich.
Noch immer zeigte sich keinerlei Gefühlsregung in ihrem Gesicht, und plötzlich hatte ich nicht mehr den geringsten Zweifel daran, dass sie sehr genau wusste, was mit mir passiert war. Wahrscheinlich hatte sie sogar die ganze Zeit darauf gewartet.
»Als ich neulich dieses hohe Fieber hatte«, begann ich stockend, »… und im Delirium lag … da hast du auch bloß drüber nachgedacht, mich ins Krankenhaus zu bringen, stimmt’s? Und Cyrils Verletzung … selbst da hast du es nicht für nötig befunden, einen Arzt hinzuzuziehen, oder?« Ich atmete einmal tief durch, bevor ich es aussprach: »Du hast gewusst, dass seine schlimme Wunde in kürzester Zeit ganz von allein heilen würde. Und du hast gewusst, dass Cyril ein Nix ist. Ein Hainix.«
Tante Grace nickte kaum merklich, dann richtete sie ihren Blick auf Gordy. »Wir sollten im Haus weiterreden. Bevor Sie noch jemand sieht.«