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WAS HÄTTE SEIN KÖNNEN

» Hi. «

Heather sah auf. Dante stand in Leder und Latex unter der Tür, eine Hand am Rahmen. Fluoreszierendes Licht schimmerte unter seinem Halsreifen und den Ringen an seinen Fingern hervor. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln und erhellte sein bleiches, umwerfendes Gesicht. Er schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn.

Er nahm ihr immer noch den Atem. Sie vermutete, dass sich das auch nicht ändern würde.

Hinter ihm im Flur starrten ihn Krankenschwester und Pfleger an und überlegten sich wohl, wer in Lederklamotten und mit einem Bondagekragen um den Hals Krankenbesuche abstattete und wer da gerade aus der eisigen Nacht zu ihnen hereingekommen war.

»Hey«, sagte Heather.

Sie drückte die Hände auf die Matratze, um sich aufzurichten, doch Dante war bereits neben ihr und schlang die Arme um sie, um ihr zu helfen. Seine Hände fühlten sich heiß an. Schmerz durchfuhr sie, und sie hielt den Atem an.

»Was ist?«, fragte Dante rasch. »Soll ich …«

»Es geht schon wieder.«

Er sah sie lange an, wobei seine dunklen Augen ihr Gesicht aufmerksam musterten. Dann holte er tief Luft. Er zog einen Stuhl ans Bett, setzte sich und wartete. Heather war sich ziemlich sicher, dass er wusste, was sie sagen wollte – oder dass er es zumindest vermutete.

Sie streckte die Hand aus und griff nach der Dantes. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über seine Lippen. Er streichelte ihr mit dem Daumen den Handrücken. Sie sah aus dem Fenster, wo sich das Zimmer im schwarzen Himmel dahinter widerspiegelte, ebenso wie zwei Leute, die sich an den Händen hielten und schwiegen.

Heather dachte an die verwirrten, verwunderten Gesichter der Ärzte, als sie festgestellt hatten, dass die schlimmsten Verletzungen ihrer Aorta und ihres linken Lungenflügels verheilt, sich von selbst verschlossen oder wie kauterisiert waren. Mit solchen Wunden hätte sie eigentlich innerhalb weniger Minuten verbluten müssen. Sie erinnerte sich an den Geschmack von Dantes Lippen, den Amaretto-Geschmack seines Bluts und an das kühle Feuer, das er in sie geatmet hatte.

Natürlich konnte Heather den Ärzten nichts davon erzählen – ebenso wenig wie den Untersuchungsbeamten des FBI, die ihre Aussage aufnahmen, sie eingehend befragten und von ihr erfuhren, was passiert war. Jedenfalls die offizielle Version. Sie wusste, dass es besser war, nichts von Bad Seed verlauten zu lassen und nur von ihrer Jagd nach dem Serienmörder zu erzählen und wie sie diesen schließlich ausfindig gemacht hatte.

Eines wusste sie mit absoluter Sicherheit: Ihre Karriere beim FBI war vorbei. Es war eine Entscheidung, die sie für sich getroffen und noch niemandem gegenüber erwähnt hatte. Sie wusste, dass es mächtige Leute innerhalb der Organisation gab, die sie lieber für immer hinter einen Schreibtisch in irgendeiner obskuren Stadt verbannt gesehen hätten, als sie einfach so gehen zu lassen.

Keinem Agenten gegenüber erwähnte sie Dante. Er hatte ihr das Leben gerettet. Auch ohne diese Tatsache hätte sie ihn nie dem Wolfsrudel des FBI ausgehändigt. War Johanna Moore nicht schon wölfisch genug gewesen?

Johanna Moore. Was Dante ihr angetan hatte … Heather konnte es noch immer nicht fassen. Was hatte er eigentlich gemacht ?

 

Dante umfasst Moores Gesicht. Seine Hände zittern. Sie beginnen, in einem blauen Licht zu schimmern. Blaue Flammen steigen auf, und sein Haar schlängelt sich in die Luft. Energie knackt und prasselt. Heather bekommt eine Gänsehaut. Auch ihre Haare stellen sich auf. Sie riecht Ozon in der Luft.

Blaues Licht dringt in Moores Körper ein, explodiert in ihren Augen und ihrem aufgerissenen, schreienden Mund. Sie … teilt sich … in zahlreiche nasse, rot und blau glänzende Stränge. Dante fädelt sie auseinander, zerlegt sie in ihre Einzelteile.

Johanna Moore sackt zu einem flüssigen Haufen zusammen.

Noch immer schießt Energie aus Dante, blaue Tentakel peitschen die Luft und verändern alles, was sie berühren. Eine Arbeitsplatte verwandelt sich in dunkle, atmende Ranken mit dicken blauen Dornen. Die Betäubungspistole schlängelt sich in die Schatten.

Dantes schönes Gesicht ist verzückt, genau wie damals, als er das Haus der Prejeans anzündete.

 

In diesem Augenblick fürchtete sich Heather vor Dante. Vor dem, wozu er in der Lage war. Vor seiner Kraft, seinem Potenzial, und dennoch … war Dante nicht in diesem Augenblick eine Stimme für seine Mutter und für alle Opfer Johanna Moores gewesen?

»Sprich mit mir«, sagte Dante.

Heather wandte den Blick vom Fenster. Traurig lächelnd drückte sie seine Hand. Er brannte auf ihrer Haut und fühlte sich fiebrig an. »Geht es dir gut? «, fragte sie.

»Ça va bien. Es geht mir gut.« Dante hielt ihrem Blick stand. Er sah sie offen und unerschüttert an. »Sprich mit mir, Heather.«

Sie nickte. Vielleicht half es zu reden. »Was du mit Moore gemacht hast … was … wie …«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Dante. Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar. »Ich habe … ich habe das noch nie zuvor gemacht. Dieses Lied, das du auch gehört hast … es gehört irgendwie dazu. Ich spüre es in mir. « Er hob ihre beiden noch immer verschränkten Hände und führte sie oberhalb seines Herzens an seine Brust. »Es ist fast, wie wenn ich an den Saiten meiner Gitarre zupfe oder auf dem Keyboard ein Lied komponiere. «

»Ist das eine Fähigkeit, die alle Nachtgeschöpfe oder Gefallenen haben?«

Dante starrte sie verblüfft an. »Woher weißt du das?«, fragte er.

»Dein Vater hat es mir gesagt.«

Dante nickte und sah dann weg. Ein Muskel zuckte in seinem Kiefer. Nach einem Moment meinte er: »Ich bin ziemlich sicher, dass es eine Fähigkeit der Gefallenen ist. Ich dachte früher immer, es sei typisch für Nachtgeschöpfe, aber jetzt …« Er zuckte die Achseln.

»Kannst du es kontrollieren?«

»Nicht immer. Nein.« Er sah Heather an. In seinen Augen spiegelte sich Licht.

»Hast du es da kontrolliert?«

»Mehr oder weniger.«

»Das heißt?«

»Das heißt, dass ich im Grunde nicht wusste, was ich erreichen wollte«, erklärte er leise. »Aber ich wollte es zu Ende bringen. Ich wollte ihr böses Spiel endlich beenden.« Wieder strich er mit dem Daumen über ihren Handrücken – vor und zurück, vor und zurück. Es war eine tröstliche Geste für beide, wie sie zu spüren meinte.

Dante war ein Nachtgeschöpf, ein Gefallener und ein Mörder. Mehr als genug, um die meisten Frauen – jedenfalls Frauen mit gesundem Menschenverstand – schreiend davonrennen zu lassen. Aber da war so viel mehr: ein Junge, der seiner Prinzessin eine gute Nacht wünschte und dann allein in den Keller ging; ein Mann, der mit seinen Gefühlen kämpfte, als er seine Jacke über die Leiche einer Freundin breitete und sich neben sie setzte, damit sie nicht allein sein musste; ein Geliebter, der so sehr zu ihr passte – ihrem Körper und ihrem Herzen –, wie das noch nie zuvor ein Mann getan hatte und der sie bat zu bleiben.

Es ist so still, wenn ich mit dir zusammen bin. Der Lärm verstummt.

Lauf so weit weg, wie du kannst.

Spiegelte eine dieser Äußerungen Dantes wahren Kern wider? Oder möglicherweise sogar beide? Hatte er je ein Leben geführt, das ihm allein gehörte? Heather schaute in seine dunklen Augen, in sein schönes, perfektes Gesicht. Trotz allem oder vielleicht gerade weil er so war, hatte er ihr Herz gewonnen. Sie wusste nicht, was sie am meisten von all dem ängstigte. Sie wusste nur eines: Sie musste erst einmal Antworten finden. Sie musste erst einmal wieder zu Atem kommen.

»Wohin führt das alles?«, fragte Dante und sah sie aufmerksam an. Sein Daumen lag jetzt reglos auf ihrer Hand. »Heather?«

»Ich will nach Hause«, sagte sie leise, aber entschlossen. »Sobald ich entlassen werde, fliege ich nach Seattle zurück. Ich muss wahnsinnig viele Dinge klarstellen und abarbeiten. «

»Das musst du nicht allein tun.«

»Doch.« Heather zog ihre Hand aus der seinen und hielt sich an dem kühlen Metallgitter fest, das ihr Bett umgab. »Doch, Dante. Ich muss mir über einiges klarwerden. Ich muss nachdenken. Ich brauche ein wenig Raum. Ein wenig Zeit. Nichts von alldem, woran ich geglaubt habe, ist so, wie ich es bisher angenommen und geglaubt habe.«

Auf seinen Lippen zeigte sich die Andeutung eines Lächelns. »Nichts und niemand. Ich verstehe, was du meinst.«

Heather legte eine Hand auf seine Wange. »Da bin ich mir sicher.«

Dante schloss die Augen und lehnte sich gegen ihre Hand, ehe er die seine darauf legte.

»Du brauchst auch Zeit«, flüsterte sie. »Du mehr als alle anderen.«

»Sag mir nicht, was ich brauche.« Dantes Stimme klang belegt und rau.

»Sturkopf«, murmelte sie.

Auch wenn er es leugnete, so war doch seine Welt, ja sein ganzes Leben in tausend Stücke zerrissen und seine verborgene Vergangenheit ans Tageslicht gezerrt worden. Wusste er das schon? Hatte De Noir ihm davon erzählt? Sollte sie es vielleicht tun?

»Hat dein Vater schon mehr über Bad Seed erzählt?«, fragte sie und ließ die Hand sinken, mit der sie seine Wange berührt hatte.

Dante schlug die Augen auf. Etwas flackerte in ihren Tiefen – Schmerz oder Trauer oder auch Zorn. Dann verschwand es wieder. »Nein. Elroy hat mir davon erzählt. Aber ich kann mich nicht daran erinnern. Es entgleitet mir immer wieder.« Er schüttelte den Kopf. »Ganz gleich, wie sehr ich es auch versuche.«

Jordan. Diese Qualen. »Oh, Dante. Es tut mir so leid«, flüsterte sie.

»Das muss es nicht.« Ein Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Er nahm die Brille von der Stirn und setzte sie auf. »Es ist ja nicht deine Schuld.« Entschlossen stand er auf, beugte sich noch einmal zu ihr herab und streifte mit den Lippen die ihren.

»Das muss kein Abschied für immer sein«, murmelte Heather an seinem warmen Mund. » Du bedeutest mir viel. Das weißt du, oder?«

»Du mir auch«, flüsterte er und strich mit dem Finger an ihrem Kinn entlang.

Heather schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war Dante verschwunden. Doch das Gefühl, wie sich seine Lippen auf die ihren drückten, blieb noch eine Weile, während sein Duft im Zimmer hing. Sie stellte ihn sich vor, wie er in die winterliche Nacht hinausging. Allein.

Sie nahm an, dass er nicht glaubte, sie je wiederzusehen. Sie hatte gewusst, dass es wehtun würde, wenn er sie verließ; sie hatte nur nicht geahnt, wie sehr. Doch es schmerzte sie unendlich, grausam und qualvoll. Tränen liefen ihr über die Wangen und in die Ohren. Sie legte die Arme über ihre Augen und weinte.

Um die stimmenlosen Toten, die Elroy Jordan zurückgelassen hatte.

Um die Gerechtigkeit, die es nicht gegeben hatte.

Um Dante.

Sie dachte an all das, was hätte sein können: Reisen zwischen New Orleans und Seattle; Dante, der Musik machte, durch die Welt tourte und sich allmählich wieder an seine Vergangenheit erinnerte. Sie als Anwältin oder Privatdetektivin, die denjenigen half, die nicht mehr für sich selbst sprechen konnte, während sie – zusammen – Dantes Verletzungen heilten und ihm die Erlösung brachten, nach der er sich sehnte.

Das war noch immer möglich. Nichts ist in Stein gemeißelt.

Sühne.

Konnte er erlöst werden? Sie hielt ihn für wert, es zu versuchen. Sie musste nur zuerst herausfinden, ob sie stark genug war, ihm zu helfen. Und sich selbst.

Ich werde dich nicht im Stich lassen.

Ein Lied wisperte plötzlich durch Heather, und für einen Augenblick glaubte sie, Dantes Stimme zu hören – rauchig und leise, lodernd wie eine Flamme in ihrem Herzen.

Still. Je suis ici. Für immer.