30

ERWACHT

In Washington, D. C. schneite es. Große Flocken wirbelten aus den tiefhängenden grauen Wolken herab und ließen die Stadt leise und irgendwie gedämpft erscheinen. Lucien flog am Himmel dahin, noch ehe die Sonne durchbrach. Sein Haar war vereist, und an seinen Wimpern und den Rändern seiner Flügel klebte Schnee. Er horchte, aber ein undurchdringliches Rauschen verstopfte seine Verbindung zu Dante. Es knisterte und flüsterte, als seien geisterhafte Kräfte am Werk.

Er hatte seit jenem flüchtigen Moment in der Küche, als Dantes Qual das Rauschen und Luciens Herz durchbrochen hatten, nichts mehr von seinem Kind empfangen. Wahnsinn wogte durch diese Stadt, herzzerreißend und brennend vor Verzweiflung.

Lokis Stimme flüsterte leise in ihm: Du kannst ihn nicht davor bewahren, den Verstand zu verlieren, Bruder. Nicht allein.

Wie konnte er Dante davor bewahren, durch die Kenntnis seiner Vergangenheit verrückt zu werden? Der Junge hatte einen starken Willen, aber man hatte ihn seit seiner Geburt gequält und gefoltert.

Genevieve …

Die Bilder von Agent Wallaces CD hatten sich Lucien ins Gehirn gebrannt, und er würde sie nie mehr vergessen. Seine schöne kleine Genevieve, durch den starken Blutverlust blass und geschwächt, kämpfte darum, ihren Sohn zu berühren, den sie gerade geboren hatte – ihr gemeinsames Kind. Doch sie war an eine blutverschmierte Metallbahre geschnallt und konnte das schwarzhaarige, bleiche, ungewöhnlich stille Baby nicht erreichen.

 

»Ich will ihn halten«, sagt Genevieve. Das Ärzteteam in den grünen Kitteln huscht wie Schemen durch den sterilen, leeren Raum und scheint sie nicht zu hören. »Lasst mich mein Baby halten!«, ruft sie.

Die Schemen halten keine Sekunde lang inne. Sie waschen das Blut von dem Neugeborenen. Der Neugeborene mustert sie mit goldenen, wachen Augen. Er weiß, was um ihn herum geschieht. Vampir und Gefallener – und schon in diesem Moment verdammt.

»Dante«, wispert sie. »Mein Dante. Gib niemals auf. Mach dir die Hölle zu eigen. Kämpfe.«

Genevieve schließt die Augen. Eine Träne läuft unter ihren dunklen Wimpern hervor.

»Pourquoi tu nous as abandonnes? Je ne sais pas ce que j’ai fait pour vous faire partir, mais je t’en supplie, sauve ton fils«, betet sie. Ihre Hände ballen sich zu Fäusten. »Eloigné le d’ici. Mets-le l’abri. It est ma lumière et mon cœur – comme tu as pu l’être. Lucien, mon ange, s’il te plaît, écoute moi.«

 

Genevieves Worte, ihr unbeantwortetes Gebet schlangen sich um Luciens Seele und ließen sie beinahe verglühen – eine Kerze, die für immer in seinem Inneren brennen würde.

Dem Bericht zufolge hatte man Genevieve getötet, nachdem man die Milch in ihrer Brust genau analysiert hatte. Keine Aufnahmen oder Filme bezeugten ihren Tod – zumindest befanden sich keine in Dantes Akte. Seine Mutter war unwichtig geworden.

Graue, feuchte Wolkenfetzen rissen vor Lucien auf. Schnee bedeckte das Land unter ihm. Kummer verschleierte sein Herz. Wenn nur … er versuchte, nicht mehr an das zu denken, was hätte sein können und nie gewesen war. Obwohl sich schon immer die Ewigkeit vor ihm ausgebreitet hatte, wusste er schon lange, dass es so etwas wie ein »Zu spät« und ein »Nie mehr« gab.

Er konnte sich nur auf das konzentrieren, was war – und vielleicht sein würde.

Er senkte den rechten Flügel und wirbelte auf die gerade erwachende Stadt zu. Mit Wallace hatte er vereinbart, sie am Flughafen zu treffen. Doch mit ihr oder ohne sie – er würde sein verletztes Kind finden. Mit ihr oder ohne sie würde er sich an der Frau rächen, die Genevieve ermordet und seinen Sohn durch eine Hölle hatte gehen lassen, die jenseits aller Vorstellungskraft lag.

Plötzlich erklang ein Lied in Lucien – chaotisch und kraftvoll. Dantes kompliziertes und dunkles Anhrefncathl erschallte unerwartet in Luciens Herz und Seele und erschütterte ihn bis ins Mark. Dantes Lied war anarchistisch, stark und wahnsinnig .

Lucien schloss die Augen. Er hörte Jahwes erschöpfte Stimme: Sollen sie mich haben.

Niemals.

Vor Tausenden von Jahren hatte er seinen Herzensfreund getötet – seinen Calon-Cyfaill –, um die hochgeborenen Elohim-Hochblüter daran zu hindern, den wahnsinnig werdenden Creawdwr ihrem Willen zu unterwerfen und seine Macht ihren selbstsüchtigen Zwecken nutzbar zu machen – etwa die Welt der Sterblichen zu ändern. Wieder einmal.

Wenn die Elohim erfuhren, dass ein anderer Schöpfer – entfesselt, ungebildet und furchtbar jung – auf der Erde weilte, würden sie mit ihm dasselbe tun.

Doch ohne das Gleichgewicht, das Dante durch die Verbindung zu Lucien bekam, würde er ohnehin in den Wahnsinn abgleiten – das Schicksal aller entfesselten Creawdwrs. Entfesselt und irrsinnig konnte er die Welt aus den Angeln heben und für immer zerstören.

Du kannst ihn nicht allein binden.

Lucien wandte sich von der schneebedeckten Stadt unter ihm ab und flog wieder himmelwärts, wobei seine Flügel die Luft zu durchschneiden schienen. Er flog gen Westen. Dantes dunkle Arie wurde immer schwächer. Bis sie verschwand. Lucien vermutete, er habe seine letzte Kraft in dieses Lied gelegt.

Es war Zeit, ein Risiko einzugehen. Zeit, Flüstern in Worte und Gerede in Tatsachen zu verwandeln. Zeit, Genevieves Gebet zu beantworten. Schon lange war es Zeit. Mit den Konsequenzen wollte er sich auseinandersetzen, wenn es so weit war.

Für meinen Sohn würde ich die ganze Welt in Schutt und Asche legen.

Mit schneller schlagenden Flügeln blieb Lucien am grauen Himmel stehen. Schnee schmolz auf seiner wärmer werdenden Haut. Sein Körper strahlte ein blaues Licht aus. Er strahlte wie ein Stern. Die Sonne ging nicht auf. Sie verschwand wieder. Statt ihrer funkelten nun die Sterne am erneut nächtlichen Himmel.

Nachtbringer.

Lucien sang seinen Wybrcathl. Sein Herz schlug im Rhythmus des Liedes und schlang die Melodie um seine Erinnerung an Dantes Chaoslied – hell und rein verwandelte er seine Arie in ein Duett aus Chaos und Ordnung. Das Lied klang klar und eindringlich durch die wiederkehrende Nacht.

Der Gefallene in Dante würde antworten.

Genau wie jeder Elohim, der sich in Hörweite des Liedes befand. Die Elohim würden auf Dantes Anhrefncathl antworten, falls sie es wegen seiner Kürze überhaupt vernommen hatten. Es war kurz gewesen, aber dafür umso kraftvoller.

Ein Wettrennen also.

 

Der Perverse setzte sich auf Dante. Durch sein Gewicht vermochte Dante einen Augenblick lang kaum zu atmen. Eine Klinge blitzte in Elroys rechter Hand auf. Zorn und Empörung verzerrten sein Gesicht. Er roch nach Tabak, Schweiß und bitterer Lust.

In Dantes Adern flossen noch immer die Injektionen, und sein Denkvermögen ebbte nur schwach vor sich hin. Sein Körper surrte und schien fast zu schweben, wenn ihn nicht die Handschellen und das Gewicht des Perversen auf der blutbespritzten Luftmatratze gehalten hätten.

»Nenne die, die du liebst.«

Dante sah in Elroys zusammengekniffene Augen. »Nein.«

Heathers Gesicht, schön und errötet, blitzte in seinem Geist auf. Ein zerbrochenes Bild von Chloe zeigte sich einen Augenblick lang und wich dann Jays blassem Antlitz und seinen lichtlosen Augen.

»Sie gehört mir!«

Elroy unterstrich seine Worte, indem er die Klinge in Dante stieß. Dann schlug er zu. Unerträglicher Schmerz riss Dante fast entzwei. Verschlang ihn. Er hustete und glaubte, ertrinken zu müssen. Weißes Licht blendete ihn und blinkte brennend am Rand seines Sehfelds. Dante schloss die Augen und wandte den Kopf ab. Der Schmerz raubte ihm fast den Verstand.

Drück es weg oder nutze es, verdammt.

Die Luft roch nach Blut und dem sauren Schweiß des Perversen. Seine Gedanken hallten in Dantes Bewusstsein wider und bohrten sich wie geistige Klingen in ihn: Hatte Dante mit Heather Sex gehabt? Hatte er ihr Blut getrunken? Hatte sie ihn um mehr angefleht?

Drück es weg oder nutze es, verdammt.

Die Klinge glitt zwischen Dantes Rippen und blieb dort. Finger packten sein Kinn, zwangen ihn, den Kopf zu drehen. In seinem Inneren brannte der Schmerz. Er hörte auf, sich zu wehren und sprang stattdessen in die wütenden Flammen. Glühend heiß, schmelzend, verbrennend. Schatten brannten sich in die Kellerwand, ein flammender Plüschorca – alles züngelte an ihm und legte seine Selbstbeherrschung in Schutt und Asche.

Asche, Asche, wir gehen alle unter.

Hier, nimm meine Hand, Prinzessin. Wir werden zusammen fortgehen. Für immer und ewig.

Ein Lied erklang in ihm, anarchistisch und mit einem düster vibrierenden Refrain. Die Melodie loderte vor Zorn. Hunger gab den Rhythmus vor. Brannte.

Eine undeutliche Gestalt stieg aus der Asche auf. Feuer loderte in seinen Adern. Er hob den Kopf. S öffnete die Augen. »Genug«, sagte er.

S drang in Elroys Bewusstsein ein und kanalisierte den Schmerz, den der kranke Abschaum mit seiner Klinge hinterlassen hatte, um ihn zurückzugeben. Er zwang ihn, seine eigenen Qualen zu erleben.

Hier. Nimm auch was. Wie fühlt sich das an, Scheiße nochmal?

Elroy hielt die Hand an die Schläfe. Er presste die Augen zusammen und schrie – ein Laut, der in S’ Ohren wie Musik klang. Der Perverse fiel von S herunter und kroch über den mit Teppich ausgelegten Boden des Vans, während er sich den Kopf hielt und markerschütternd heulte.

Infernos Musik drang aus den Lautsprechern:

I’m waiting for you,
I’ve watched and I’ve watched,
I know your every secret.

Blut hustend und nach Luft ringend, riss S an den Handschellen. Diese knallten gegen das hintere Ende des Autos. Er atmete tief ein und versuchte es von neuem, wobei er die wenige Kraft, die ihm noch geblieben war, ganz in seine Arme verlagerte. Metall riss, und etwas gab einen leisen Knall von sich. Schwarze Punkte flimmerten vor seinen Augen, als er endlich wieder die Arme senken konnte. Neugierig betrachtete er den Haken, der an der Kette zwischen den Fesseln baumelte und gerade noch an der Decke des Autos befestigt gewesen war.

Die Handschellen waren vampirsicher, aber der Haken war es nicht.

S führte seine noch immer gefesselten Handgelenke zu der Klinge, die zwischen seinen Rippen steckte, und zog sie heraus. Er ließ sie auf die Matratze fallen und setzte sich mühsam auf. Alles drehte sich um ihn, und ihm wurde schwarz vor Augen. Er senkte den Kopf und wartete, bis der Schwindel vorüberging.

Stimmen flüsterten und krallten nach seinen Gedanken. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Hunger durchbohrte sein Inneres. Er brauchte Blut. Langsam zog er die mentalen Finger aus Elroys Hirn, und das Schreien hörte auf.

S glitt von der Luftmatratze auf und kroch zu Elroy. Er stieß den Kopf des Perversen beiseite und vergrub die Reißzähne in dessen schweißnassem Hals.

I’ve stood in every room of your house
and dreamt of you,
wanting me.

Heißes, beerensüßes Blut sprudelte in seinen Mund. Er schluckte unablässig. Elroys panischer Herzschlag schob das Blut noch schneller in seinen Mund, so dass er mit dem Schlucken kaum mehr hinterherkam. Der Sterbliche wand sich und versuchte sich zu befreien. S rammte das Knie zwischen Elroys Beine. Das Zucken hörte auf. Angst und Adrenalin würzten das Blut, das weiterhin in S’ Mund floss.

Moschusartige Pheromone und der durchdringende Geruch von Blut – S’ Blut – lagen in der Luft. Elroy der Perverse war atemlos, verängstigt und weiterhin erregt, obwohl Reißzähne in seinem Hals steckten.

Als seien all die Messer und das Blut für ihn nur ein Vorspiel gewesen.

Etwas Kaltes, Dunkles legte sich um S’ Herz und jagte ihm eisige Schauder über den Rücken. .

Très joli, der da, wie ein Engel.

Spielen Sie mit ihm, solange Sie wollen, aber stecken Sie nichts in seinen Mund. Der Junge beißt.

S bohrte seine Fänge noch tiefer in Papas Hals. Der Bastard zuckte wieder. Er roch nach Verzweiflung. Der Wichser hatte Chloe aufgeschlitzt. Hat er sie gequält wie mich?

Das Bild einer dunkelhaarigen Frau mit dunklen Augen blitzte vor S’ geistigem Auge auf. Der Duft von Schwarzkirschen ließ ihn noch fester zubeißen … Elroy der Perverse und … Gina. Nicht Papa. Nicht Chloe. Weißes Licht flackerte am Rand seines Sehfelds.

Wo bin ich? Wann bin ich?

Ein Lied pulsierte durch S und leuchtete wie der aufgehende Mond. Er zog die Fänge aus Elroys Fleisch, legte den Kopf zur Seite und horchte, ehe er die Augen schloss. Der Rhythmus seines Herzens wandelte sich, um sich an die Musik anzupassen, die in ihm widerhallte – Luciens Lied.

Nachtbringer. Gefährte. Vater. Lügner.

Der Rhythmus wirbelte durch S hindurch und nahm seine Seele gefangen. Chaos und Ordnung. Barmherzigkeit und Feuer. Er erzitterte und antwortete. Er schlug dunkle Akkorde an. Wut, Sehnsucht und Trauer durchzogen in gleichem Maße den immer wiederkehrenden Refrain. Das Lied stach aus seinem Herzen wie eine von Elroys Klingen.

Seine eigene, tiefe Stimme drang aus den Lautsprechern zu ihm durch:

I’ve watched you as you slept,
I know you’ve watched me too,
I’ve seen your footprints,
beneath my window …

Nicht meine. Dantes Stimme. Bevor er sich dem Feuer überließ. Ich bin nach dem Feuer.

Nein, Kind, nein. Luciens Gedanke durchbrach das Rauschen der Drogen, das ihre Verbindung störte.

Schmerz zerfetzte S’ Geist. Er vermochte nicht mehr, klar zu sehen. Dunkelheit ergriff ihn.

Du bist Dante Baptiste, Sohne Luciens und Genevieves. Nicht S. Nicht das Kind von Monstern.

Falsch, dachte S mit schmerzendem Kopf. Ich bin S. Muss so sein. Starben nicht deshalb Gina und Jay? Schaffe ich es nicht nur so, Heather am Leben zu halten?

Luciens Gesang endete mit einem letzten, widerhallenden Akkord, einem Versprechen, das hell und rein wie der Vollmond durch den Himmel klang: Ich komme! Ich komme!

Nein. Ich werde nicht mehr hier sein.

S’ Gedanke prallte zu ihm zurück. Erneut verhinderten elektrostatische Störungen, Schmerz und der starke Blutverlust seinen Weitertransport.

S stieß Elroys glühenden, in sich zusammengesackten Körper von sich. Noch immer verspürte er unstillbaren Durst. Er betrachtete den Perversen und stellte sich vor, wie er ihn leertrank. Er stellte sich vor, seine Brust aufzureißen und sein schmutziges, verkrüppeltes Herz zu zerquetschen.

Für dich, Chloe.

»Ich kann dir helfen!«, schrie jemand. »Du brauchst mich! Dante, du brauchst mich!«

S sah wieder klarer. Er saß auf Elroy, die Brust des Sterblichen war entblößt, das Hemd aufgerissen. Blutige Furchen klafften im Fleisch oberhalb des pochenden Herzens. Blut lief aus Elroys Hals, wo die Haut durchbohrt und zerfetzt war.

Das berauschende Aroma von Adrenalin und Angst erfüllte den Van. Schweißperlen standen auf der Stirn des Mannes, doch seine Miene war ausdruckslos. Reglos.

S griff nach der Sonnenbrille des Perversen und schleuderte sie durch den Wagen. Braune Augen blickten in die seinen. Etwas Beklemmendes, Dunkles blitzte in ihnen auf. »Du brauchst mich«, wiederholte er.

Do you know my every secret?, flüsterte Dante aus den Lautsprechern.

S beugte sich über den Sterblichen, so dass seine Lippen nur noch ein Flüstern von dessen stoppeligem Kinn und Wangen entfernt waren. »Nein.«

»Ich weiß Kram, von dem du keine Ahnung hast«, sagte Elroy, dessen Stimme so ausdruckslos war wie sein Gesicht. »Kram, der nicht in diesen Unterlagen steht. Bad Seed hat uns zu Brüdern gemacht. Du hängst da nicht allein drin. Ich will auch mein Pfund Fleisch oder zwei – genau wie du.«

S lachte.

Elroy schluckte hörbar und wandte hastig den Blick ab.

S drückte mit seinen gefesselten Händen Elroys Kopf zur Seite und vergrub seine Reißzähne erneut in dem bereits verletzten Hals des Mannes. Er saugte an dem mit Adrenalin gewürzten Blut und lauschte dem heftigen Klopfen von Elroys Herz.

Locks won’t keep me out,
words won’t turn me away,
I’ve long dreamt of this moment.

»Ich war nicht dabei, als Ronin deinen kleinen Liebling kaltgestellt hat«, sagte der Perverse. Seine Stimme ließ S’ Lippen vibrieren. Das Herz des Perversen begann, wieder langsamer zu schlagen und beruhigte sich dann. »Aber ich war bei Gina dabei. Ich weiß, was passiert ist, was Ronin ihr angetan hat. Ich kenne ihre letzten Worte.«

S erstarrte. Ihm fiel ein schwarzer Strumpf ein, aus dem man alles, was einmal an Gina erinnert hatte, herausgewaschen hatte. Er dachte an einen anderen Strumpf, der um ihren Hals gewickelt war, und erinnerte sich daran, dass sie fortgegangen und Schweigen ihr einziger Abschied gewesen war.

Er löste den Mund von Elroys Hals, setzte sich auf und starrte in die undurchdringlichen Augen des Perversen. Ihre letzten Worte. Eine Chance für Gina, einen Augenblick länger zu leben. Hinter seinen Pupillen begann es schmerzhaft zu blitzen.

»Ich weiß auch, was mit Ronin passiert ist«, fügte Elroy hinzu.

»Was soll mich davon abhalten, dir das alles aus dem Hirn zu reißen?«

»Ich werde sicherstellen, dass ich sterbe, bevor du es erfährst. « Elroys Blick wirkte entschlossen.

»So ist er, mein liebes Bad-Seed-Bruderherz.«

Elroys Gesicht wurde wieder ausdruckslos. »Der große Kerl hat sich Ronin geschnappt.«

S wandte den Blick ab, seine Muskeln verkrampften sich. Der Bastard hat mir gehört.

»Das Arschloch wollte sich im Übrigen auch Heather schnappen. «

Heather. S wandte den Kopf wieder Elroy zu. »Ist sie …«

»Ihr geht es gut«, antwortete dieser. »Sie warf mir eine Kusshand zu, als wir davonkurvten. Na ja, eigentlich hat sie auf mich geschossen, aber ist das nicht dasselbe?« Er lachte.

Erleichterung breitete sich in S aus und löste die Knoten in seinen Muskeln. Er glitt von Elroy und kroch zu der Luftmatratze. Plötzlich drehte sich alles um ihn herum. Vor seinen Augen tanzten flackernde Punkte. Er lehnte sich gegen die Matratze.

»Sieht so aus, als bräuchtest du jetzt diese Batman-Pflaster«, sagte S und wies mit dem Kopf auf den blutverschmierten Riss an Elroys Hals. S’ Speichel würde zwar die Wunde schließen. Ein paarmal lecken, und schon wäre die Sache erledigt. Aber … der Kerl konnte ihn mal.

Der Perverse richtete sich auf und presste eine Hand auf die Wunde.

»Nimm mir die ab«, meinte S und hielt die Hände mit den Handschellen hoch. Der Haken hing noch zwischen den Kettengliedern.

Der Mann wischte sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang. »Alles wieder cool?«, fragte er und richtete dann den Blick auf S. »Oder willst du mich noch immer töten?«

S grinste. Elroy starrte ihn mit offenem Mund an. Nach einem kurzen Augenblick sah er hastig in Richtung der Fahrerkabine. S hörte regelrecht, wie das verschlagene Gehirn des Kerls überlegte, ob es sich lohnte, abzuhauen und ob er es schaffen würde, seinem geschwächten Spielzeug zu entkommen.

»Versuch’s.«

Elroy sah ihn an, dann neigte er den Kopf zu einer Seite. Leckte sich die Lippen. »Wer bist du?«

»Das solltest du doch wissen. Du hast mich doch aufgeweckt. «

Der Perverse nickte. Dann wischte er sich wieder die Nase ab. »Demnach wissen wir ja jetzt, dass wir mit der MamaSchlampe noch ein Hühnchen zu rupfen haben, und zwar beide

»Ein, zwei oder auch drei Pfund Fleisch, nicht wahr?« S warf einen Blick auf seine gefesselten Handgelenke. »Nimm mir die endlich ab.«

»Tötest du mich dann?«

»Ja. Aber erst, wenn wir mit Moore abgerechnet haben.«

Elroy setzte sich auf seine Hacken und dachte über den Vorschlag nach. Er fuhr sich mit der Hand durchs schüttere Haar, ehe er sich hinkniete und die Hand in die vordere Hosentasche schob. Er zog einen Schlüssel heraus.

Elroy rutschte zu S hinüber und schob den Schlüssel in das dafür vorgesehene Schloss in den Handschellen. Dann blickte er S an. »Aber erst danach, einverstanden?«

»Oui.«

Elroy nickte und sperrte die Handschellen auf. S schüttelte sie sich von den blutig geschürften Handgelenken. Die Handschellen fielen scheppernd auf den Teppichboden, ehe S sein Shirt hochzog und sich das Blut vom Gesicht wischte.

»Können wir trotzdem spielen?«, fragte der Perverse. Seine Stimme klang verlangend, während er mit einer Hand über S’ Schenkel fuhr.

Dieser schlug die Hand des Mannes beiseite und blickte ihn an. In seinen Augen schwelte ein Feuer. Er strich mit zitternder Hand das zerschnittene, blutige T-Shirt über die darunterliegenden, noch immer schmerzenden Wunden. Eine Erinnerung nagte an ihm – ein Keller –, dann löste sie sich wieder auf. Der Schmerz zog sich zurück, wartete ab.

I am what you made me,
no matter where you hide,
where you run,
I will find you …

S’ Hand wanderte zum Reißverschluss seiner Jeans. Er zog ihn zu und schloss den Gürtel. »Fass mich noch einmal an, und niemand wird dich mehr retten können.«

Elroy wandte den Blick ab. Er biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. S bückte sich und hob die Handschellen auf. Der Mann beobachtete ihn, ohne die Fäuste zu öffnen. Wortlos packte S eine der Fäuste und ließ eine der Handschellen darum schnappen.

»He, ich dachte, alles wäre cool«, protestierte Elroy, als S den anderen Metallring an einem Gestell festmachte.

»Der Schlaf naht«, sagte S, »und ich traue dir nicht.«

Elroy lehnte sich gegen die Tür des Vans. »Na gut. Ich dir auch nicht.« Er wies auf das Kopfkissen und zog eine Braue hoch.

»Willst du es dir bequem machen?« S nahm eine der blutigen Klingen und sah Elroy an. Dann stieß er ihm das Messer in den Oberschenkel. »Du kannst mich mal.«

Elroy sog hörbar die Luft durch die Zähne und verzerrte schmerzerfüllt sein Gesicht. An seiner Schläfe pochte eine Ader. »Du entkommst mir nicht«, flüsterte er.

»Ach – echt?«, antwortete S und kletterte in den vorderen Teil des Autos. »Da bin ich anderer Meinung.«

Als er den Vorhang beiseiteschob, warf er noch einmal einen Blick auf den Sterblichen. Leichte Beute. Er wurde wieder hungrig. Das Verlangen nach Blut war so stark, dass er sich fast danach verzehrte. Aber der Gedanke an das bittere Blut des Perversen, das bereits jetzt durch seine Adern, durch sein Herz lief und sein Gehirn wieder funktionstüchtig machte, ließ ihn kalt. Was, wenn er tatsächlich Ginas letzte Worte kennt?

S glitt durch den Spalt im Vorhang, setzte sich auf den Vordersitz und öffnete die Autotür. Er sprang auf den Asphalt hinaus. Die Nacht kühlte sein Gesicht. Er schlug die Tür hinter sich zu und sog die verschiedenen Düfte ein: feuchtes Gras, Diesel, heißes Gummi und wilde Rosen. Eine Autobahnraststätte.

Halb gehend, halb schwankend bewegte er sich auf einen Sattelschlepper zu. Seine Stiefel gaben auf dem Boden keine Geräusche von sich. Hunger raubte ihm die letzte Kraft. Die Drogen hatten seinen Körper durcheinandergebracht und sein Bewusstsein vernebelt. Am grauen Horizont zeigten sich die ersten Anzeichen des Sonnenaufgangs, und ihn ergriff wieder Schwindel. Er musste dringend etwas zu sich nehmen und dann wieder zum Van zurückkehren, um sich im Schlaf zu erholen.

Er sprang auf das Trittbrett des Sattelschleppers und versuchte, die Tür zu öffnen. Verriegelt. Also zerschlug er mit der Faust das Fenster. Glasscherben regneten auf den Asphalt und in die Fahrerkabine. Er hielt sich am Fensterrahmen fest und glitt hinein. Seine Bewegungen waren so schnell, dass der Fahrer noch verschlafen blinzelte, als sich S schon auf ihn geworfen hatte.

Er hielt ihn fest, riss seinen warmen Hals auf und trank.