31

WORTE WIE EINE FEUERSBRUNST

Johanna ging den leeren Gang entlang. Sie war durch ihre Wachmachertabletten in einer seltsam fiebrig aufgekratzten Stimmung. Ihre Absätze klapperten laut auf den glänzenden Fliesen. Was ist bei Sonnenaufgang passiert? Der Gedanke wirbelte durch ihren Kopf, und sie blieb abrupt mit pochendem Herzen stehen.

Es schneit, und der Schnee macht die erwachende Welt hinter ihrem Fenster leise. Der Himmel wird heller und erleuchtet dicke Flocken, die aus dem grauen Himmel fallen, dann …

Johanna ging weiter.

 

Dann flackert das Licht – wie eine Kerzenflamme, die eine Windböe plötzlich erfasst –, wird schwächer und geht aus. Finsternis breitet sich am Horizont aus. Der Tag dreht sich um. Eine unfassbare Macht erschüttert den Himmel. Eine Macht, die so stark ist, dass sie Johanna selbst in ihrem Haus erreicht, während sie fassungslos am Küchenfenster steht. Sie bleibt mit weichen Knien zurück und muss sich am Tisch festhalten. Worte formen sich in ihrem Inneren, flammen in ihrem Bewusstsein auf. Es sind Worte, die sie nicht erkennt – wie Symbole, wie uralte Glyphen –, und sie springen wie ein Feuer aus ihrem Mund. Plötzlich weht ein Wind in ihrem Inneren, und die Macht verschwindet. Ihr Kopf ist leer, und sie stürzt. Es ist wieder Morgen, und die Sonne geht auf. Der Himmel wird wieder heller.

 

Johanna tippte ihren Code in die kleine Tastatur neben ihrer Bürotür und neigte den Kopf, um in das Gerät zur Iriserkennung zu blicken. Ein dünner Lichtstrahl wanderte über ihr Gesicht. Sie blinzelte und konnte einen Augenblick lang nicht mehr klar sehen. Die Tür klickte und ging auf. Sie trat ein und schloss hinter sich ab.

Was war am Morgen passiert? Warum musste sie an Ronin und ihre verschwundenen Experimente denken? Nein, das stimmt nicht, korrigierte sie sich innerlich, als sie sich hinter ihren Schreibtisch setzte. An S, und denken war das nicht gewesen. Es war ein Gefühl – nicht greifbar, intuitiv und nicht zu analysieren.

Johanna schaltete das Bildtelefon ein, wählte eine Nummer. Musik. Es hatte mit Musik zu tun. Sie dachte an S, wie er am Rand eines Küchenstuhls saß, die Gitarre auf den Schenkeln eng an seinen Oberkörper gedrückt, während seine langen Finger sicher und schnell über die Saiten wanderten. Er wirkte versunken, wie in einer anderen Welt. Genauso versunken, wie als er seinen ersten Hals aufgerissen hatte. Wie damals, als er die Behausung der Prejeans in Schutt und Asche legte.

»Johanna, welche Überraschung«, sagte eine tiefe, vertraute Stimme.

Überrascht sah sie auf dem Bildschirm Bob Wells’ lächelndes Gesicht. Sie gab sich Mühe, überzeugend zu lächeln und schüttelte dann den Kopf. »Leider keine erfreuliche«, sagte sie, und Wells’ Lächeln verschwand. »Tut mir leid, aber ich habe schlechte Nachrichten.«

Wells rieb sich das Kinn. Er blickte einen Augenblick lang woanders hin. Als er seinen Blick wieder dem Bildschirm zuwandte, waren seine nussbraunen Augen völlig leer und ausdruckslos. Er sah sie teilnahmslos und mit undurchdringlicher Miene an.

»Sowohl E als auch S sind offline und zusammen. Ich vermute, jemand hat sich eingemischt und ihnen Informationen zugespielt, die sie nicht bekommen sollten.«

»Wer?«

»Ronin.«

Wells zog die Brauen hoch. »Dein père de sang? Du warst offenbar leichtsinnig.«

Johanna erstarrte. Sie beugte sich auf ihrem Stuhl vor. Das Leder knarzte unter ihr. »Ich habe dich angerufen, um dich zu warnen«, sagte sie. »Ich bin sicher, dass sie hierherkommen. Wenn man Ronins Beteiligung bedenkt, kann man im Grunde davon ausgehen. Aber ich nehme an, S will auch dich.«

»Er wird sich aber an dich erinnern«, entgegnete Wells, »und die ganze Aufmerksamkeit, die du ihm hast zuteilwerden lassen. Du hast es mir nie verraten, Johanna – aber wie hat eigentlich sein Blut geschmeckt?«

»Fang nicht schon wieder an, Bob«, antwortete Johanna. Sie bemühte sich, ein Pokerface aufzusetzen, aber ihre Fäuste, die unter der Tischplatte verborgen waren, ballten sich. »Du hast ihn auch geliebt. Ich an deiner Stelle hätte vor dem Tag Angst, an dem er sich an diese Liebe erinnert – und an dich.«

Ein Lächeln huschte über Wells’ Lippen. Er neigte den Kopf. »Touché.«

Interessante Reaktion, dachte Johanna. Aber die falsche. Sie trennte die Verbindung. Bob Wells’ Bild verschwand. Hatte da Belustigung in seinen Augen geblitzt? Sie sah aus dem Fenster. Dichter Schnee fiel schnell aus dem weißen Himmel.

Hatte Wells Ronin die nötigen Informationen zukommen lassen? Um ihre Fähigkeiten zu testen? Oder die S’?

Johanna ließ den Blick zu dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch wandern. Einen Augenblick lang füllte ein Duft von starkem Tabak und Vanille ihre Nase. Sie glaubte, Dan Gifford dort sitzen zu sehen, die grauen Augen gelassen und aufmerksam. Er beugte sich vor, presste die Finger beider Hände aneinander und sagte: Verstehe – was soll ich tun?

Dreh die Zeit zurück.

Sie bereute nichts – außer dass sie Gifford nach New Orleans geschickt hatte. Jetzt wünschte sie sich, ihn bei sich zu haben und einen unwichtigeren Agenten auf Stearns und Wallace angesetzt zu haben.

Das Telefon summte. Johanna drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Ja?«

»Wallaces Flugzeug wird in wenigen Minuten landen.«

»Holen Sie sie ab. Bringen Sie sie zu mir ins Labor.«

»Verstanden.«

Johanna beendete das Gespräch. Es war Zeit, sich vorzubereiten. Ihr kam die Idee, Washington zu verlassen. Zum wiederholten Mal zog sie diese Möglichkeit in Erwägung. Sie konnte wegfliegen. Was hielt sie noch? Bis Ronin und die anderen sie gefunden hatten, würde sie genügend Zeit gehabt haben, einen Plan zu entwerfen und die Dinge ins Rollen zu bringen.

Doch der Gedanke, ihr kleiner Blutgeborener könnte in Ronins Händen sein, sagte ihr ganz und gar nicht zu. Ihr Magen verkrampfte sich, wenn sie nur daran dachte. Sie musste ihn wieder zu ihrem Eigentum machen. Was, wenn er bereits aufgewacht war und sich wieder erinnern konnte? Dann musste sie diese Erinnerungen eben erneut in ihm begraben und ihn wieder zum Schlafen bringen.

Johanna erhob sich und ging durch den weiß erleuchteten Raum zu einem Karteischrank aus Kirschholz. Sie sperrte die oberste Schublade auf, nahm eine unbeschriftete CD heraus und schloss dann den Schrank wieder ab. Mit der CD in der Hand kehrte sie zu ihrem Schreibtisch zurück, wo sie diese in einen gefütterten Briefumschlag steckte, den sie an Dante Prejean adressierte.

Wenn alles schieflief, wollte Johanna sicher sein können, dass Wells nicht ungeschoren davonkam, und wenn alles gut ging, nun, dann musste sich Wells vielleicht trotzdem Sorgen machen. Aber nicht wegen S. Vielleicht sollte er sich Sorgen wegen eines unangemeldeten Besuches Johannas machen.

 

Heather lief durch das volle Terminal und lauschte den Stimmen, die über Lautsprecher die Flüge nannten, die wegen des bevorstehenden Sturms storniert werden mussten. Sie sah sich die Gesichter der Leute an, an denen sie vorbeikam und die entweder bei der Gepäckausgabe warteten oder an den Imbissen und Kiosken etwas kauften.

Als sie frischen Kaffee und Speck roch, begann ihr Magen zu knurren. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie seit dem Nachmittag des Vortags nichts mehr gegessen hatte, und sie stellte sich sogleich in eine Schlange vor Sunnys Breakfast ’n’ More.

Während sich die Schlange vorwärtsbewegte, sah sich Heather nach Männern in Anzügen mit diesem typischen selbstbewussten FBI-Gang um. Sie suchte nach jemandem, der die Hand übers Ohr legte, schaute sich aber ebenso nach De Noir um. Außerdem passte sie auf, ob sich andere umsahen wie sie selbst.

Ihr Blick blieb an einem Mann in Anzug und Parka hängen, der mit einer Frau in einem beigen Trenchcoat sprach. Heather erstarrte. Der Mann musterte die Menge im Rücken der Frau, während sie miteinander sprachen, und Heather war sich sicher, dass die Frau dasselbe hinter ihm tat. Moores Leute? Flughafensicherheit?

»Nächster.«

Heather bestellte ein Sandwich mit Speck, Eiern und Käse zum Mitnehmen und zahlte bar. Sie hatte De Noir gesagt, er solle sie bei der Autovermietung treffen. Vielleicht war er schon da und wartete. Heather schob ihr eingewickeltes, dampfend heißes Sandwich in die Manteltasche und mischte sich unter die Leute. Ihr Herz begann zu rasen. Vorsichtshalber öffnete sie den Gürtel und die Knöpfe ihres Trenchcoats.

Für wen auch immer Parka und Trenchcoat arbeiten mochten – sie würden nicht so dämlich sein, sie in der Flughafenhalle abzufangen und aufhalten zu wollen. Nein, sie würden darauf warten, dass Heather den Flughafen verließ. In der Halle war sie in Sicherheit.

Sie schob sich durch die Menge und arbeitete sich zur Theke der Autovermietung vor. Dort standen zwar bereits Leute, aber keiner von ihnen war fast zwei Meter groß und hatte schwarzes Haar, das bis zur Taille reichte. Wo war De Noir? War ihm etwas passiert? Er hatte ihr versichert, er werde am Flughafen sein, wenn sie dort landete.

Es sei denn …

Nichts gegen Lucien, aber Ihre Sicherheit wird nicht seine Hauptsorge sein.

Hatte De Noir Dante durch ihre Verbindung erreicht? Vor dem Schlaf?

Einen Augenblick lang regte sich in Heather Hoffnung. Dann wäre es nicht mehr nötig, Johanna Moore zur Rede zu stellen. Stattdessen konnte sie mit der Akte über Dante eine Anklage gegen sie zusammenstellen und sie verhaften lassen. Sie verraten? Wenn sie das tat und ihre Beweise den Medien vorlegte, war ihre Karriere beim FBI für immer vorüber.

Aber war sie das nicht ohnehin schon? War ihre Karriere nicht schon so tot wie Stearns? Was war mit Dante? Würde er seine Vergangenheit – einschließlich seiner Verbrechen – als Schlagzeilen und gefundenes Fressen für die Boulevardpresse sehen wollen?

Heather trat an die Theke. Ein Angestellter lächelte. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ja. Ich habe eine Reservierung. Wallace.«

Heather drehte sich um, den Rücken zur Theke. Hinter den Fenstern der Flughafenhalle wütete der Sturm. Der herabfallende Schnee schien eine solide Wand aus Eis zu bilden. Autos und Taxis waren in der weißen wirbelnden Welt nur noch als unscharfe graue Flecken am Bordstein auszumachen.

Hatte der Sturm De Noir erwischt?

Sie würde eine Weile warten und dann bei Dante anrufen, um zu erfahren, ob Simone oder Von etwas von De Noir gehört hatten. Sie griff in die Manteltasche, holte das noch warme Sandwich heraus und wickelte es zum Teil aus.

Plötzlich spürte sie, dass jemand hinter sie getreten war. Heather erstarrte. Noch während sie sich umdrehte, legte sich eine Hand auf ihren Oberarm. Sie blickte hoch und sah Parkas glattrasiertes Gesicht und seine blauen Augen.

»Agent Wallace«, sagte er.

»Nehmen Sie die Hand von meinem Arm«, antwortete sie leise, während sie sich nach seiner Partnerin im Trenchcoat umsah.

»Kein Grund, eine Szene zu machen.«

»Das sehe ich anders.« Heather ließ ihr Sandwich fallen, drehte sich zu Parka und löste seine Finger von ihrem Oberarm. Dann umfasste sie mit einer Aikido-Bewegung seine Hand – Finger ums Handgelenk, den Daumen auf den Rücken der Hand – und drückte sie so nach hinten und unten, was Parka in die Knie zwang. Er zuckte mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen.

Heather sah auf und entdeckte Trenchcoat, die sich durch die Menge schob. Sie konnte nicht auf De Noir warten oder den Parkplatz nach ihrem Mietwagen absuchen. Vielleicht blieb ihr noch Zeit, ein Taxi zu schnappen – mehr aber nicht.

Als sie Parkas Hand losließ, stieß sie ihn heftig von sich. Er schlitterte über den marmorgefliesten Boden. Sie wirbelte herum und rannte auf die Glastüren zu, während sie die Hand in die Manteltasche schob und den Griff der Achtunddreißiger umschloss. Noch nicht. Zu viele Zivilisten.

Die Menge keuchte kollektiv auf. Scheiße! Jemand hat eine Waffe gezogen, dachte Heather und warf sich zu Boden. Etwas streifte ihren Rücken knapp über dem Hintern, als sie sich abrollte. Getroffen? Schrapnell von einer danebengegangenen Kugel? Sie sprang auf, und ihr Herz raste, als sie den Blick auf den Ausgang und die Taxis dahinter richtete. In dem Schneesturm konnte sie die beiden möglicherweise abschütteln.

Etwas kribbelte in ihren Adern. Doch getroffen? Die automatischen Türen gingen auf, und sie rannte in den Sturm hinaus. Die Kälte schlug ihr entgegen und sog ihr die Luft aus der Lunge. Ihr wurde schwindlig. Benommen taumelte sie aufs nächste Taxi zu, wobei sie auf einmal das Gefühl hatte, keine Knochen mehr zu haben. Betäubt, wurde ihr klar.

Heather rutschte im Schnee aus und knallte gegen das Taxi. Sie fasste nach dem Türgriff, um nicht zu stürzen, doch ihre Hand funktionierte nicht, sondern hing wie tot an ihr herab. Sie fiel, und die Welt um sie herum drehte sich weiß … weiß … weiß. Die Helligkeit tat in den Augen weh. Ein Mann beugte sich über sie und musterte sie besorgt.

»Miss, alles in Ordnung?«

Hinter sich hörte Heather eine Frau sagen: »Keine Sorge. Ihr geht es gut. Sie hat nur etwas zu viel getrunken. Angst vorm Fliegen.«

Schneeflocken hingen in Heathers Wimpern und schmolzen in ihren Augen. Sie versuchte zu sprechen, aber ihre Zunge versagte ihr den Dienst. Als sie den Kopf zu schütteln versuchte, um den Taxifahrer aufzuhalten, funktionierte auch das nicht.

Hände hoben sie hoch. Ihr Kopf rollte nach hinten. Der weiße Himmel mischte sich mit dem schneebedeckten Boden. »Entspannen Sie sich«, sagte eine männliche Stimme »Kämpfen Sie nicht dagegen an.«

»Wir bringen Sie zu Doktor Moore.«

Kälte drang eisig in Heathers Bewusstsein, dann sah sie nichts mehr.

 

Schmerz pochte, als drücke ihm jemand ein glühendes Eisen auf den Knochen. E schlug die Augen auf. Ihm drehte sich der Magen um. Er schluckte schwer – Ich brauche meine Tabletten – und sah sich im Van um. Die blutverschmierte Luftmatratze war leer, und das unbenutzte Kopfkissen erinnerte ihn an das Messer in seinem Oberschenkel.

E sah an sich hinab. Das Bein mit der Klinge brannte höllisch. Auf seiner Jeans umgab ein Ring getrockneten Bluts das Messer. Beschissener Blutsauger-Bastard! Etwas Dunkles, Erregtes regte sich in ihm und schien darauf zu warten, dass seine Wut nachließ. Er dachte an die Klingen, die in Dantes blasser Haut vergraben waren, und ein eisiger Schauder huschte ihm über den Rücken.

Ein rascher Blick über die Schulter zeigte ihm, dass Dante dort auf dem Boden lag. E rutschte zur Seite, um ihn besser betrachten zu können. Der hübsche kleine Blutsauger lag bäuchlings auf dem Teppich, auf der sicheren Seite der Vorhänge, hinter denen das Tageslicht brannte.

Den Kopf zur Seite gedreht und auf einen angewinkelten Arm gelegt, fiel ihm das Haar ins Gesicht. Dante – hoppla, besser S – sah aus, als wäre er einfach umgekippt und in Schlaf gefallen. Oder als hätte er einen weiteren Kopfschuss abbekommen.

Es Blick wanderte über Dante. Gierig nahm er jede Einzelheit in sich auf. Er wünschte sich, S wäre erst erwacht, nachdem er fertig mit ihm gespielt hatte. In gewisser Weise wünschte er sich sogar, er hätte ihn gar nicht geweckt, und er wünschte sich, er hätte den Schlüssel zu diesen verdammten Handschellen.

Mit zusammengebissenen Zähnen zog E sein angeschwollenes, blauschwarz angelaufenes Handgelenk aus der Verbandsschlinge. Schmerz und Übelkeit brachten seinen Magen erneut dazu, sich zu verkrampfen. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er schluckte die Galle, die ihm hochkam, wieder hinunter und lehnte den Kopf an die Seite des Transporters. Was sollte er mit der Klinge machen? Er bezweifelte, dass er sie herausziehen konnte, jedenfalls nicht, ohne wieder das Bewusstsein zu verlieren.

Abermals sah er Dante an. Der war erst mal weg vom Fenster. Er konnte so viel Lärm machen, wie er wollte – Dante würde nichts mitbekommen. Besser gesagt S. E erzitterte, als ihm einfiel, wie ihm Dante hasserfüllt seine eigenen Worte entgegengeschleudert hatte – hart und kalt wie die Stimme des Blutsaugers.

So ist er – mein liebes Bad-Seed-Bruderherz.

In diesem Moment war sich E sicher gewesen, er würde sterben, und zwar auf die schlimmste, furchtbarste und hässlichste Weise.

Aber Dante wollte Ginas letzte Worte hören, und nur E konnte sie ihm sagen. Deshalb war dieser Augenblick vorübergegangen, und sein Herz schlug noch. Es würde noch schlagen, lange nachdem Dantes aufgehört hatte.

Es Blick blieb an der schwarzen Mappe und seiner Tasche mit den Werkzeugen hängen. In der einen waren Schmerztabletten und in der andere Drogen für Dante. Genau, was der Doktor ihnen verordnet hatte.

Mit vorsichtigen Bewegungen griff E nach der Tasche. Er erwischte sie an der Ecke. Rasender Schmerz schoss durch seinen Arm in die Schulter, und er schrie unwillkürlich auf. Aber er hatte Recht gehabt, was Dante betraf – den Schlaf des Blutsaugers erschütterte so leicht nichts. Schwarze Punkte tanzten vor Es Augen, als er schließlich die Tasche erwischte und mit einem geschwollenen Finger langsam den Reißverschluss aufschob. Es klappte. Schweiß lief ihm über die Schläfen.

E fischte mühevoll ein paar Pillen heraus und legte sie auf seine Handfläche. Einige fielen auf den Boden und sprangen in alle möglichen Richtungen, nur nicht zu ihm. Mit zitternder Hand ließ er die erhaschten Tabletten in seinen Mund fallen. Er schluckte. Sein Magen fühlte sie hart wie eine geballte Faust an. Er lehnte sich gegen die Innenwand des Vans und atmete. Ein. Aus. Ein. Aus. Die Übelkeit verschwand.

E schloss die Augen. Er wünschte sich, er hätte seine Sonnenbrille noch. Wünschte sich eine Zigarette. Eigentlich hätte Dante gefesselt sein und Schmerzen haben sollen. Er hätte sich alles Mögliche wünschen sollen, während E selig schnarchte. Wie zum Beispiel sich, dass er nie geboren worden wäre. Wichser. Er trank sein Blut.

Glühte es noch in Dante? Wenn E die Augen öffnete, würde er dann seinen eigenen goldenen Schimmer sehen, der von dem im Schlaf liegenden Vampir ausging? Sein Herz setzte einen Augenblick lang aus und schlug dann so heftig wie zuvor weiter. Er öffnete die Augen.

Honiggoldenes Licht strömte zwischen Dantes Lippen hervor und aus seiner Nase. Es umgab seinen schmalen Körper und wand sich in goldenen Strudeln um seinen Kopf.

Es fesselte ihn. Verband ihn mit dem Gott in Handschellen.

E grinste. Er gehört mir. Sobald die Pillen ihre Wirkung taten und der Schmerz in dem pochenden Arm nachließ, würde er eine Spritze und eine Ampulle mit Blutsauger-Mitteln aus der schwarzen Mappe holen. Er würde sie in seine Armschlinge stecken und dann gottgleich geduldig darauf warten, dass seine Zeit kam.

Dass ihm dieser hinterhältige kleine Bastard den Rücken zuwandte.

 

Lucien landete. Seine nackten Füße berührten das verschneite Gras. Seine Flügel schlugen noch einmal, um Eis und Schnee abzuschütteln, und falteten sich dann auf seinem Rücken zusammen. Bleierne Wolken verbargen die Sonne. Hinter dem Rastplatz rasten Autos auf der Interstate vorbei, wobei die Reifen im Schneematsch ihre Spuren hinterließen. Zwei Wagen standen noch auf dem Parkplatz: ein weißer Van mit einem Kennzeichen aus Alabama und ein Sattelschlepper. Beim Anblick des zerbrochenen Sattelschlepperfensters wusste Lucien, dass sein Sohn getrunken hatte, wobei die kaputte Scheibe darauf hindeutete, dass er ziemlich verzweifelt gewesen sein musste.

Lucien schob die Flügel in ihre Scheiden und ging zum Transporter hinüber. Er war Dantes verklingendem Chaoslied gefolgt. Doch der Zorn, der Schmerz und der Wahnsinn des Liedes hatten nicht nachgelassen; sie brannten noch in Luciens Herz.

Dante hatte sich in seinem eigenen verletzten Geist verloren.

Etwa eine Stunde zuvor war die elektrostatische Störung verschwunden, die ihre Verbindung blockiert hatte, und Lucien war ihr wie einer ätherischen Spur bis zu seinem im Schlaf liegenden Kind gefolgt.

Er legte die Finger um den eiskalten Türgriff. Verriegelt. Indem er die Hand flach auf die Tür legte, ließ er Energie ins Schloss strömen. Blaue Funken regneten auf den Asphalt herab und schmolzen den Schnee unter ihm. Er fasste erneut nach dem Türgriff. Diesmal ließ sich die Tür problemlos öffnen.

Die Luft roch nach Blut und Gewalt, nach Schweiß und abgestandenen Zigaretten. Sie schlug ihm wie dunkler Rauch nach einem Feuer entgegen. Er hielt einen Augenblick lang den Atem an, denn neben diesem Geruch nahm er auch noch den verbrannten und bitteren Gestank von perverser Lust und Bösartigkeit wahr – wie von Kohlen, die noch in einem Hügel Asche vor sich hin schmorten.

Lucien lauschte dem gleichmäßigen, schläfrigen Schlagen von Dantes Herz. Das Geräusch beruhigte ihn. Ich habe meinen Sohn gefunden. Er stieg in den Van, schob den Vorhang beiseite und kletterte nach hinten, wobei er aufpasste, dass die schwache Wintersonne sein Kind nicht berührte.

Er betrachtete den im Schlaf liegenden Dante auf dem Boden des Wagens. Ein Schrei, als verbrenne er im Sonnenlicht, die Qualen eines Kindes – seines Kindes –, hallten in Dantes Traumsplittern wider. Sie erinnerten Lucien an das, was er gespürt … was er gehört hatte, während er mit Agent Wallace in der Küche gewesen war.

Chloe. Meine Prinzessin. Mein Ein und Alles.

Ich werde nicht zulassen, dass sie dir etwas tun.

Lucien kniete nieder und nahm seinen Sohn in die Arme. Dante strahlte eine solche Hitze aus, dass sie sofort auf ihn überstrahlte. Hitze, wo er eigentlich vom Schlaf kühl hätte sein müssen. Blut lief aus seiner Nase und benetzte seine Lippen.

Ach, mein Kleiner, sie haben sie weggenommen. Du hättest nichts tun können. Nichts. Du warst doch auch nur ein Kind.

Lucien strich Dante das Haar aus dem Gesicht und berührte die kühlen Silberringe in seinen Ohren.

Seine Vergangenheit verschlingt ihn.

Lucien senkte den Blick. Sein Herz verkrampfte sich, als er die Schnitte in seinem T-Shirt anstarrte. Er roch Blut – Dantes. Behutsam schob er den Stoff hoch. Zahllose Wunden, die bereits verheilten, übersäten Brust und Bauch. Schnitte. Stiche. Messerwunden.

Gehören Klingen zur üblichen Ausrüstung eines journalistischen Assistenten?

Endlich wandte Lucien seine Aufmerksamkeit dem schlafenden Sterblichen zu, der gefesselt im hinteren Teil des Fahrzeuges lag und schlief. Er hatte einen geschundenen, zerbissenen Hals, ein Arm hing in einer Schlinge, die Finger waren blau angeschwollen. Eine Klinge steckte bis zum Anschlag in seinem Schenkel. Luciens Blick wanderte zu dem Jungen in seinen Armen zurück, verweilte dort einen Moment lang und wandte sich dann wieder Jordan zu.

Neben Jordan lag eine Matratze, die über und über mit Blut besudelt war. Dantes Blut. Auch an den Wänden und der Decke des Wagens war Blut. Ein Buch – mit Gedichten? – und einige verstreute Papiere bedeckten den Teppich neben der Luftmatratze.

Lucien erstarrte. Er erkannte die Bilder. Es waren die gleichen, die er sich zusammen mit Wallace angeschaut hatte. Jordan hatte Dante seine Vergangenheit also mit Blut und Messern präsentiert. Ein Sterblicher mit toten Augen.

Dennoch war es Dante irgendwie gelungen, sich zu befreien. Warum war Jordan noch am Leben?

Hatte der Schuft etwa um sein Leben geschachert? Lucien betrachtete wieder die Papiere mit den Berichten und die Bilder. Womit?

Sein erster Impuls war, Dante so in seinen Armen zu behalten und mit ihm nach Hause zu fliegen. Sobald sein Kind in Sicherheit war, würde er zurückkehren. Dann würden Jordan und Moore einen Tag der Abrechnung erleben, einen Jüngsten Tag in der Tradition der Elohim, und einen alttestamentarischen Tod.

Doch draußen brannte das Tageslicht. Er musste bis Sonnenuntergang warten, bis er Dante heimbringen konnte. Er beugte sich vor und drückte seine Lippen auf die Dantes, um ihm Kraft einzuhauchen – genau wie er es getan hatte, als Agent Wallace mit dem Durchsuchungsbefehl gekommen war. So weckte er sein Kind aus dem Schlaf. Aus der Asche, in der es lag, die Arme sehnsüchtig um ein kleines Mädchen geschlungen.

Schmerz schlug gegen Luciens Schilde. Er holte tief Luft und wehrte ihn ab. Mit den Fingerkuppen berührte er Dantes Schläfen, um kühles Licht in den schmerzverwüsteten Geist und den fiebrigen Leib seines Sohnes fließen zu lassen.

Dante atmete tief ein. Er schlug die Augen auf und sah Lucien an, doch in den geheimnisvollen Tiefen seiner Pupillen zeigte sich kein Erkennen. Er stieß Lucien vielmehr zurück und rollte auf die Knie. Mit sprungbereitem Körper und angespannten Muskeln fauchte er Lucien an.

Eisige Angst erfasste Lucien. War Dante ganz dem Wahnsinn anheimgefallen? War er ein ungebundener Creawdwr, der den Verstand verloren hatte? Oder lag es einfach am Schlaf, der ihn noch nicht ganz freigegeben hatte? Es war immer riskant, jemanden aus dem Schlaf zu wecken.

Lucien hob beruhigend eine Hand. »Dante, Kind, du bist in Sicherheit. Ganz ruhig.«

»Nicht Dante«, flüsterte eine Stimme. Jordan. »Das ist S.«

»S gibt es nicht«, sagte Lucien. »Nur Dante. S ist ein Teil von dir, Kind. Den Zorn, den du unterdrückst, der Schmerz, den du ignorierst.«

»In letzter Zeit hat er seinen Zorn nicht unterdrückt«, mischte sich Jordan erneut ein.

Ohne die Augen von Dante zu wenden, wies Lucien mit dem Finger auf den Sterblichen. Ein Energieblitz fuhr in den Mann. Er stieß einen Schrei aus. Der Gestank von Ozon lag in der Luft.

Lucien blickte in Dantes rot geäderte, glühende Augen. Jetzt sah er es. Schlaf lag noch in ihren Tiefen. »Sie kann nicht mit dir aufstehen. Tut mir leid, aber du musst sie zurücklassen und weiterschlafen lassen.«

»Nein.« Dante ballte die Fäuste. Qualen und der Schlaf überschatteten sein Gesicht. »Ich habe es ihr versprochen: für immer und ewig.«

»Kind, das hast du auch gehalten«, antwortete Lucien heiser. »Sie wird für immer und ewig bei dir sein. Aber dazu muss sie nicht hier sein. Du warst mit Elroy Jordan in einem Auto unterwegs. Er hat dich verschleppt. Dich gefoltert. Wach auf, Dante.«

Dante zuckte zusammen. Sein bleiches Gesicht wirkte eingefallen. Er berührte mit bebenden Fingern seine Schläfen. »Chloe«, wisperte er. »Noch kann ich sie retten. Noch immer.«

»Es ist zu spät, Dante.«

Dante sah Lucien an, und der Schlaf wich aus seinen Augen. Er schluckte und wandte den Blick ab. Nach einer Weile nickte er.

Lucien legte beide Hände auf Dantes Wangen. »Du bist mein Sohn«, sagte er. »Du kannst mich hassen, so sehr willst, aber das ändert nichts an der Wahrheit: Du bist der Sohn Genevieves und Luciens.«

Dante riss den Kopf weg und stieß mit fieberheißen Händen gegen Luciens entblößte Brust, bereit, ihn von sich zu weisen. Doch dann hielt er inne. Ein einzelner, reiner Ton erklang in Lucien, pulsierte durch seinen Körper und durchdrang Dantes Handflächen. Dantes Gesicht strahlte. In seinen Augen funkelte es golden, während die Energie zwischen ihnen hin und her pendelte – ein Creawdwr, angezogen von seiner Schöpfung, ein Aingeal, gefangen genommen von seinem Schöpfer.

Dante riss die Hände von Luciens Brust. Lucien sah die Frage in seinen Augen, während das goldene Licht schwächer wurde: Was war das? Was ist eben geschehen?

»Das sind die Dinge, die ich dir beibringen muss«, entgegnete Lucien. »Ehe es zu spät ist.«

Dante schüttelte den Kopf, ballte erneut die Fäuste und presste sie auf seine Oberschenkel.

Lucien hätte sein aufmüpfiges Kind am liebsten geschüttelt und zur Vernunft gezwungen – genauso, wie er es in die Arme schließen und in Sicherheit bringen wollte. »Doch. Ob du willst oder nicht. «

»Der große Kerl ist dein verfluchter Papa? Heilige Scheiße!«, lachte Jordan.

Blaue Flammen züngelten um Lucien und brannten in seinen Adern wie ein reinigendes, eisiges Feuer. Er drehte sich um. Seine Hand packte den Sterblichen am Hals und drückte zu. Jordans Augen quollen heraus. Seine Zunge trat zwischen den Lippen hervor. Er zappelte und schlug um sich, aber Lucien wehrte alle Schläge einfach mit dem Arm ab. Schade. Es würde ein leichter Tod werden, nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte.

»Nein!« Dantes Finger legten sich fest um Luciens Handgelenk.

»Was hat er dir versprochen?«, fragte Lucien mit leiser Stimme. Jordan trat erneut aus, seine Augen rollten nach hinten, so dass man nur noch den weißen Augapfel sehen konnte. Speichel trat ihm aus dem Mund. »Was, Dante?«

»Er wird mir sagen, wie Ginas letzte Worte hießen.«

»Was will er dafür?«

»Einige Stunden Leben«, antwortete Dante. »Ich … S …« Er wirkte einen Augenblick lang verwirrt. »Ich … ich habe ihm versprochen, ihn erst nach Moore zu töten.«

»Ach Kind«, seufzte Lucien. Er lockerte seinen Griff um Jordans Hals, ohne ihn ganz loszulassen. Sein Blick richtete sich wieder auf Dante. »Ihre letzten Worte werden nichts ändern, und woher willst du wissen, dass er nicht lügt?«

»Das kann ich nicht wissen«, sagte Dante. »Aber ich werde Ginas Worte ohne Probleme von etwas Erfundenem unterscheiden können.« Schmerz und Verlust überschatteten sein Gesicht.

Fragil, erkannte Lucien. Dante hat zu viel durchgemacht. Er braucht Schlaf. Blut. Ruhe.

»Für die, die schon tot sind, kannst du nichts tun«, sagte er. »Aber Heather sucht dich in Washington. Sie braucht dich. Nicht die Toten. Ihre Bedürfnisse sind mit ihnen gestorben.«

»Heather … oui«, murmelte Dante. Er ließ Luciens Handgelenk los. »Ist sie in Sicherheit? Wer ist bei ihr?«

Jordan durchbohrte die Eifersucht so schwarz, bitter und scharf, dass Lucien es spüren konnte.

»Sie ist allein«, sagte er und richtete den Blick auf Jordan. Er beugte sich vor und flüsterte dem Sterblichen ins Ohr: »Sie sehnt sich danach, in Dantes Bett zurückzukehren, in seine Arme. Dich hat sie schon lange vergessen.«

Damit ließ er ihn los. Der Sterbliche sackte zu Boden, keuchte und rang nach Luft. Nur sein Arm, der mit der Handschelle am Wagen festgemacht war, zeigte noch nach oben. Heißer, öliger Hass strömte aus ihm heraus und umgab ihn wie ein Ölfilm. Lucien lachte.

»Was zum Teufel tust du?«, fragte Dante verdrießlich und ärgerlich. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Wir haben keine Zeit für Spielchen. Jemand versucht, Heather umzubringen, und sie ist allein. Ich muss nach Washington.«

Lucien schüttelte den Kopf. »Wenn die Sonne untergeht, werde ich dich heimbringen und …«

»Nein. Ich werde das hier zu Ende bringen.« Dantes Pupillen weiteten sich plötzlich. Sein Körper spannte sich an. »Du kannst verdammt nochmal tun, was du willst, aber ich gehe nach D.C.«

Schmerz flüsterte vor Luciens Schilden – Schmerz und dröhnende Stimmen. Warum lässt ihn die Vergangenheit nicht endlich los? Er streckte die Hand nach Dante aus. Er spürte, wie sich die Erinnerung in Dante weit öffnete und drohte, ihn zu verschlingen. Wie sie ihn erschütterte. Lucien hielt den Jungen an sich gepresst, dessen Herz wie verrückt raste. Seine Augen rollten nach hinten, sein Körper zitterte und bebte.

Erinnerungsattacke.

Dante erinnerte sich nicht. Nein, dachte Lucien, dieses Wort ist zu schwach für das, was er erfährt … durchlebt … erduldet. Ein Augenblick aus Dantes Vergangenheit tauchte auf wie eine versunkene Insel im Ozean, ehe er wieder in der Finsternis verschwand.

Dante erduldet es. Lucien schnürte es den Hals zu, während er den zitternden Körper seines Kindes festhielt und ihm das schwarze Haar aus dem blassen Gesicht strich. Aber wie lange kann er es noch ertragen? Er konnte Dante vor den Elohim verstecken, ihn vor den Nachtgeschöpfen und den anderen Wesen dieser Welt beschützen – aber er konnte ihn nicht vor seiner Vergangenheit oder seinem eigenen Ich bewahren.

Dante muss sich der Vergangenheit stellen, zu der ihn meine Abwesenheit verdammte. Muss sich Johanna Moore stellen. Dann wird die Wunde in ihm vielleicht heilen.

Vergib mir, geliebte Genevieve. Ich habe es nicht geschafft, unseren Sohn zu schützen.

Aber jetzt stehe ich ihm bei und werde ihn für immer und ewig beschützen.

»Sa fini pas«, flüsterte Dante. Er schlug die Augen auf. Er wirkte erschöpft und hatte dunkle Schatten unter den langen Wimpern.

»Psst«, flüsterte Lucien und berührte Dantes Schläfen. »Es wird eines Tages zu Ende sein. Ich fahre, während du Schlaf nachholst. Heute Abend werden wir in Washington sein.«

Dante schloss die Augen, und der Schlaf übermannte ihn von neuem.

Lucien legte seinen Sohn auf den blutbefleckten Teppich, ohne dass dieser aus dem Schlaf erwachte. Dann warf er einen Blick auf den gefesselten Mann. Jordan starrte ihn voll Hass und Eifersucht an.

Lucien trat neben ihn, legte seine Finger um die Klinge, die aus seinem Schenkel ragte, und blickte in Jordans ärgerlich funkelnde Augen, ehe er sie herausriss. Der Sterbliche sog durch zusammengebissene Zähne die Luft ein.

Lucien neigte den Kopf und horchte. »Ein Gott? Ich kenne Götter. Du bist nur verfaulendes Fleisch, das man begraben sollte.«

Ein Grinsen umspielte Jordans Mundwinkel. »Ach ja? Tja, wissen Sie was? Ich stehe unter Dantes Schutz.« Er warf einen Blick auf Dantes im Schlaf liegende Gestalt. »Ist das nicht saublöd?«

Der Gestank schweißiger Lust stieg auf. Lucien packte Jordan am Kinn und zwang ihn dazu, den Blick von Dante zu wenden. »Wenn du ihn noch einmal anfasst, ziehe ich dir dein faules Fleisch von den Gebeinen, während du mit lidlosen Augen zuschaust.«

Jordan riss sich los. »Ich weiß etwas, was er wissen will.«

Lucien zuckte die Achseln. »Du hast mit Dante verhandelt – nicht mit mir. Vergiss das nicht.«

Jordan wandte den Blick ab. Ein Muskel zuckte an seinem Kiefer.

Eine Stunde später lenkte Lucien den Van auf die I-75 nach Tennessee. Jordan saß auf dem Beifahrersitz, seine rechte Hand war an dem Griff über dem Fenster befestigt. Mit finsterer Miene starrte er reglos geradeaus.

Dante lag hinter dem Vorhang auf der Rückbank, die Lucien aufgeklappt hatte, im Schlaf. Er hatte ihn von Kopf bis Fuß zugedeckt. Die blutige Luftmatratze und die darüberliegende Plastikplane waren in einer Mülltonne gelandet. Mit Hilfe von Jordans Zippo hatte Lucien die Berichte über S verbrannt. Die Bilder von Dante hatte er aufbewahrt.

Schnee rieselte aus dem grauen Vormittagshimmel. Lucien lauschte auf die trillernden Wybrcathls, doch im Himmel blieb es still. Keiner der Elohim flog auf sein Wybrcathl hin durch die Lüfte und suchte nach dem Creawdwr, der diese mächtige chaotische Erwiderung gesungen hatte.

Noch nicht.