18

ALLES FÜR DICH

Das Blut rauschte in Dantes Ohren, als er den dünnen schwarzen Strumpf in beiden Händen hielt. Ein gelbes Post-it klebte an dem zarten Stoff. Er zog ihn ab. 1616 St. Charles.

Dante hob den Strumpf an die Nase. Schnüffelte. Nichts war von Gina übrig. Keine Spur ihres Dufts nach Schwarzkirschen. Stattdessen nahm er den sauberen Geruch von Seife und den Gummiduft von Latexhandschuhen wahr. Er senkte den Strumpf; sein Hals fühlte sich trocken an. Sie war völlig ausgelöscht.

Er ballte die Faust um den Strumpf. Flammen loderten in seinen Adern; Zorn entzündete seine Gedanken und sein Herz. In der Ferne surrten Wespen.

Lebte Jay noch?

Wespen bohrten sich in Dantes Haut. Krochen in seinen Kopf. Sein Körper hallte von dem tiefen Dröhnen wider. Sein Kopf schmerzte.

Dante-Engel? Hat sie dir vertraut? Hat sie an dich geglaubt?

Leider ja, Prinzessin.

Jetzt weiß sie es besser, was, Dante-Engel?

Eine Hand ergriff sein Kinn, drehte gewaltsam seinen Kopf. Er öffnete die Augen. Heather starrte ihn an, blickte in ihn, sah nicht weg. Er hörte, wie ihr Herz raste.

»Atme weiter, Dante«, drängte sie und ließ ihn los. »Ist alles in Ordnung?«

Er hielt den Strumpf hoch. »Wie zum Teufel soll ich aufwachen? «

In Heathers blauen Augen lag Verständnis, doch etwas anderes überschattete ihr Gesicht. Sie zog den Strumpf aus seiner Hand, so dass der Stoff auf seiner Haut raschelte. Als er die Risse und Laufmaschen sah, holte er hörbar Luft. Er sah hinab auf seine Hände, seine Nägel. Ballte die Fäuste. Ein aufgedunsener Wespenunterleib verschwand zwischen seinen Knöcheln – glänzend, feucht und wie auf einem Bild von Giger. Er schüttelte sich.

»… er hat dich nicht nur am Haken, er holt dich auch ein.«

Dante sah Heather an. Sie musste schon eine Weile geredet haben, ehe er sie gehört hatte. Das Surren der Wespen wurde schwächer.

»Soll er doch.«

Heather runzelte die Stirn. »Das schon wieder«, brummte sie. »Er weiß etwas, was du nicht weißt. Er kennt deine Vergangenheit. Er weiß um deinen wunden Punkt. Ich wünschte nur, ich wüsste, wieso.«

»Das ist mir scheißegal.« Dante ließ den MG an und trat aufs Gas. Der Wagen erwachte dröhnend zum Leben. Er ergriff den Schaltknüppel.

Heathers Hand legte sich warm und stark um seine. Er sah sie an. »Er ist im Vorteil«, sagte sie.

»Ja, vielleicht«, sagte Dante. »Aber er ist der Mann, den du seit drei Jahren jagst. Willst du ihn jetzt laufen lassen?«

Er hielt ihrem Blick stand und lauschte dem regelmäßigen Schlag ihres Herzens. Sie roch herrlich süß, wie die Luft nach einem Sturm. Für einen Augenblick ließ das Surren und Dröhnen der Wespen in seinem Inneren nach und hörte dann sogar ganz auf.

Heather ließ seine Hand los und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Sie holte tief und lang Luft. »Wir sind ganz auf uns gestellt«, erklärte sie und schnallte sich an. »Der Fall ist offiziell abgeschlossen, ich kann also keine Verstärkung anfordern. «

»Ich auch nicht.«

Dante berührte seine Verbindung zu Lucien. Sie war verschlossen. Furcht hakte sich wie eine Klette in seinen Magen. Die plötzliche Sorge in Luciens dunklen Augen hatte ihn aufgeschreckt und von dem unbekannten Lied losgelöst, das die Nacht durchzog und im gleichen Rhythmus wie sein Herz sein Blut durchpulste.

Was konnte Lucien Angst machen? Die Frage jagte Dante einen eiskalten Schauer über den Rücken.

Dante schaltete in den ersten Gang und lenkte den MG hinaus auf die Fahrbahn. Leute in Feierlaune verstopften die Straße. Sie lösten sich nur widerstrebend voneinander, als ihnen der MG bedenklich nahe rückte.

»Können Messer dich verletzen?«, fragte Heather. »Oder Kugeln?«

Er warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Natürlich, alles kann mich verletzen. Eine Kugel im Kopf oder im Herzen würde mich eine Weile außer Gefecht setzen … das hat man mir jedenfalls gesagt.« Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Fahrbahn. »Aber bisher wurde ich noch nie angeschossen. «

»Du bist schnell. Kannst du es mit ihm aufnehmen?«

»Ja, wenn er sterblich ist. Wenn nicht, vielleicht«, sagte er, riss das Lenkrad nach rechts und betätigte die Hupe. Ein Feiernder stolperte rückwärts und grinste betrunken, während er den Mittelfinger gen Himmel streckte.

»Die DNS deutet auf einen Menschen hin.«

»Dann sollte es kein Problem sein.«

Er manövrierte das Auto durch die Menschenmenge, die die Straße verstopfte. Blitzschnell lenkte er den MG um Fußgänger und berittene Polizei, wobei er jedes Mal aufs Gas drückte, wenn er eine Lücke sah.

»Was hat Ronin mit ›Blutgeborener‹ gemeint?«, hakte sie nach.

Dante warf ihr einen Blick zu. »Fragst du als Freundin oder als Bulle?« Er schaltete in den zweiten Gang, als er in die Canal Street einbog.

»Ich bin beides, Dante. Daran hat sich nichts geändert. «

Dante nickte. Als er schneller fuhr, schaltete er in den dritten Gang. Neonlichter tanzten über die Windschutzscheibe. Scheinwerfer stachen ihm in die Augen wie die Begrenzungslichter einer Startbahn. Schmerz bohrte sich dornengleich in seinen Schädel. Er zuckte zusammen. Vor seinen Augen begannen bunte Punkte zu flimmern.

Er zog die Sonnenbrille aus dem Gürtel und setzte sie auf. Die entgegenkommenden Scheinwerfer waren jetzt nicht mehr so grell, und der Schmerz ließ nach. Dante holte tief Luft und versuchte, seine Schultern zu lockern, doch die Muskeln wollten sich nicht entspannen.

Heather wartete noch immer auf eine Antwort. Sie schwieg, aber er spürte ihre Anspannung.

Vierter Gang. Noch immer wurde er schneller. Die Lichter verschwammen.

»Ein Blutgeborener ist ein Vampir, der als solcher geboren wurde.«

»Geboren? Ist das möglich?«

»Angeblich schon.«

»Warum nennt er dich so?« Heathers Stimme klang weich und verblüfft zugleich. »Wenn du ein Vampir bist – und ich bin bereit, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen –, dann hat dich doch jemand dazu gemacht, oder? Wer war es bei dir und wann?«

Schmerz bohrte sich in Dantes Schläfe. Irgendwo in seinem Inneren, im Unterbewusstsein, zerbrach etwas. Er umklammerte das Lenkrad. Weißes Licht flackerte am Rand seines Sehfelds. Er biss die Zähne zusammen und versuchte verzweifelt, den Schmerz auszublenden. Nicht jetzt! Nur nicht jetzt!

Lautes Hupen ertönte, und Reifen quietschten, als Dante mit dem MG über eine rote Ampel raste. Straßenlichter, alte Eichen, die im Schatten standen und glänzende Straßenbahnschienen verbanden sich zu einem einzigen durchgehenden Bild vor seinen Augen.

»Mann!«

Dante hörte das Knacken von Plastik, als sich Heather mit beiden Händen aufs Armaturenbrett stützte. »Fahr langsamer«, sagte sie mit leiser, schmeichelnder Stimme. »Du magst bei einer solchen Geschwindigkeit einen Unfall überleben, ich nicht.«

Wespen summten. Gift brannte in Dantes Adern. Warme Finger legten sich um seine Hand an der Gangschaltung.

»Bitte, Dante. Fahr langsamer.«

Heathers ruhige Stimme war wie ein Wasserfall, der das ihn verzehrende Feuer löschte und die Wespen dazu brachte, wieder in die Tiefen seines zerbrochenen Inneren zurückzukehren. Zitternd holte er Luft und nahm langsam den Fuß vom Gaspedal. Er schaltete in den dritten Gang herunter. Lichter und Farben verwandelten sich von verschwommenen Schlieren wieder in klarere Bilder: Häuser, Bäume, Autos. Schweiß lief ihm über die Schläfen.

»Hör zu«, sagte Heather, ohne seine Hand loszulassen. »Man hat dir eine Falle gestellt. Das weißt du. Das weiß ich. Du willst mitten hineinspringen. Und dann?«

Dante sah sie an. Licht und Schatten huschten über ihr Gesicht. Die Straßenbeleuchtung ließ ihr Haar bronzen erscheinen. Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Das lasse ich auf mich zukommen. Aber ich werde mit Jay wieder herauskommen. «

Heather seufzte und massierte sich den Nasenrücken. »Aha.«

Dante wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu und hielt nach Straßenschildern Ausschau.

»Ich glaube, er hält dich für ein Nachtgeschöpf«, sagte Heather. »Entsprechend wird er also geplant haben. Aber mit mir rechnet er nicht. Selbst Ronin dachte, ich sei in Pensacola. «

1500. Sie waren ganz in der Nähe. Dante reduzierte die Geschwindigkeit. Sein Blick wanderte von einem schwach beleuchteten Lagerhaus zum nächsten. Noch ein Block. Ein Ziegelbau rechts mit einem verblichenen Schild, auf dem FLEISCHWAREN stand. Vernagelte Fenster. Anscheinend leerstehend. Er sah wieder auf das Schild. FLEISCHWAREN. Er begann, sich entschieden unwohl zu fühlen.

»Fahr vorbei«, murmelte Heather.

Dante fuhr mehrere Blocks weiter und bog dann links ab. Er lenkte den MG in eine Parallelstraße und hielt am Bordstein an. Dann schaltete er den Motor aus. Er steckte die Schlüssel ein und öffnete die Tür. Eine Hand griff nach ihm, Finger legten sich um seinen Unterarm.

Ein Zucken, und er wäre frei.

Würde er eine Freundin oder eine Polizistin zurücklassen?

Er lehnte sich zurück. Sah Heather an. Er hätte beides zurückgelassen.

»Ich werde dir folgen«, sagte sie. Adrenalin ließ ihren Geruch salziger werden und wärmte ihr Blut. »Ich bin deine Rückendeckung.« Plötzlich wurden ihre blauen Augen noch blauer. Sie strahlte eine verzweifelte, fast aggressive Emotion aus, die Dante nicht benennen konnte. »Versprich mir, vorsichtig zu sein.«

Er hielt ihrem Blick stand, atmete ihren Adrenalinduft ein und lauschte dem regelmäßigen Schlag ihres Herzen. Dann strich er ihr mit dem Rücken seiner Finger über die Wange. Sie fühlte sich fiebrig an.

»Nein.«

Heather nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Sie ließ ihn los.

Er glitt aus dem Wagen.

Vertraut sie dir auch, Dante-Engel?

Leider, Prinzessin.

Er rannte los.

 

Ronin ließ den Camaro am Bordstein ausrollen, dann schaltete den Motor aus und sah auf den GPS-Empfänger. Dante war unterwegs, seiner Geschwindigkeit nach zu urteilen raste er gerade wie ein Geschoss auf das Schlachthaus zu.

Hoffentlich ist Etienne bereit.

Ronin öffnete die Tür auf der Fahrerseite, schob sich hinter dem Lenkrad hervor und stieg aus. Langsam schlenderte er über die Straße. Natürlich hatte Etienne keine Ahnung, worauf er sich einließ. Er war von seinem Zorn, seiner Trauer und dem Wunsch, Dante zumindest andeutungsweise ähnlich leiden zu sehen, wie er selbst gelitten hatte, derart verblendet, dass er den Blutgeborenen nicht als solchen erkannt hatte. Er hatte nicht den Tod bemerkt, der in dem schmalen Körper von etwa einem Meter fünfundsiebzig hauste, und die Gefahr in dem hübschen, bleichen Gesicht.

Hatte Dante tatsächlich Etiennes Haus angezündet? Wenn ja, so hatte er sich nicht das erste Mal als Brandstifter betätigt. Oder hatte jemand anders die Tat begangen und Dante in die Schuhe geschoben? Ronin hatte keine Ahnung. Im Grunde war es auch einerlei. Das Einzige, was zählte, war, dass Etienne Dante für verantwortlich hielt und alles tun würde, um ihn zu bestrafen und leiden zu sehen.

Mit dem GPS-Empfänger in der Hand bewegte sich Ronin wie der Nachtwind über die leer daliegende Straße. Er hielt nach Wallace Ausschau. Es hatte ihn kalt erwischt, als er sie im Club gesehen hatte. Das hatte er nicht erwartet. Mit wachsamen blauen Augen hatte sie neben Dante auf diesem Podest gestanden, als ob sie dorthin gehören würde.

Wie eine Gleichberechtigte. Eine Sterbliche.

Er hatte sie anscheinend unterschätzt. Sie hatte die Botschaften verstanden, als Dante noch keinen blassen Schimmer gehabt hatte; sie hatte auch Johannas verzweifeltem Vertuschungsmanöver keinen Glauben geschenkt, was unabwendbar zu der Frage führte: Wie lange hatte Agent Wallace noch zu leben?

Ronin kannte seine fille de sang. Wallaces Rückkehr nach New Orleans kam bei Johanna einem Todesurteil gleich. E würde sie vermissen, aber schließlich hatte auch er nicht mehr allzu lange zu leben.

Es irritierte ihn, dass er E in letzter Zeit nicht mehr gesehen hatte. War er da draußen, um die Zeitungen eines Besseren zu belehren? Schmollte er? Die Tatsache, dass er den nervösen Psycho nicht mehr auf seinem GPS-Empfänger finden konnte, hatte ihm einen kalten Schauder über den Rücken gejagt. Hatte Johanna ihn bereits abgeschaltet, wenn man das so nennen konnte? Oder hatte E eine Wahrheit herausgefunden, die Ronin bisher vor ihm geheim gehalten hatte?

Ronin glitt in die Schatten zwischen den Häusern. Er setzte seine Sonnenbrille auf, um sich nicht durch seine leuchtenden Augen zu verraten. Eine Bewegung über ihm erregte seine Aufmerksamkeit. Er erstarrte und blickte vorsichtig nach oben.

Dante kletterte auf das Dach des Schlachthauses. Das Mondlicht spiegelte sich in Leder und Metall. Geschmeidig und schnell kroch er am Rand des Daches entlang, wobei er sich ganz auf den Beton unter seinen Füßen konzentrierte.

Ronin zog seine Schilde fester um sich und stellte sein vorwitziges Gehirn ruhig. Dante schien mit seinem schwarzen Haar und dem vom Mond erhellten Gesicht ein Teil der Nacht zu sein – am Rande von Träumen entlangwandernd, ein Wesen aus alten, uralten Zeiten.

Er erinnerte sich, wie sich Dantes Lippen auf seinen angefühlt hatten, die plötzliche Wärme seiner Hände auf seinem Gesicht. Er erinnerte sich an seinen Duft aus Rauch, Moschus und Frost.

Er erinnerte sich, was Dante gegen seine Lippen geflüstert hatte.

Du wirst nie mein Blut schmecken.

Ronins Hände pressten sich gegen die Mauer hinter ihm. Seine Handflächen drückten sich gegen die Ziegelsteine und den rauen Mörtel. Das werden wir noch sehen, mein Kind, das werden wir noch sehen.

Dante blieb stehen. Er neigte den Kopf und horchte. Dann schlich er zur Mitte des Daches, wo er wieder innehielt, ehe er einen weiteren Schritt machte. Das Geräusch zersplitternden Glases hallte durch die leere Straße wider.

Über Ronins Lippen huschte ein Lächeln. Es war wirklich nicht leicht vorauszusagen, was der Junge als Nächstes tun würde.

Dante war durch das Oberlicht in die Halle hinuntergesprungen.

 

Heather spürte noch die Berührung seiner Finger auf ihrem Gesicht, während sie Dante nachsah. Er rannte so blitzschnell quer über die Straße, dass sie wie zuvor nur eine verschwommene Bewegung wahrnahm. Dann verschwand er in der Nacht. Oder verschmolz mit ihr.

Sie starrte auf den leeren Gehsteig. Der Motor des MGs tickte und knackte, während er abkühlte. Ihr Magen verkrampfte sich vor Anspannung, und Zweifel stiegen in ihr auf. Sie öffnete die Beifahrertür.

Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie Collins anrufen sollte. Doch damit würde sie ihn bitten, seine Karriere aufs Spiel zu setzen. Er war höchstwahrscheinlich sogar dazu bereit.

Heather stieg aus und drückte leise die Tür zu. Auf der Straße war keine Bewegung zu bemerken. Um die surrenden Straßenlaternen breiteten sich dunkle Schatten aus. In den meisten Häusern brannte kein Licht mehr – ebenso wenig wie in den Lädchen und Geschäften in der Straße. Es waren die typischen Tante-Emma-Läden, die es in solchen Gegenden oft gab. Dazwischen lagen Antiquariate und Trödler.

Sie ging über die Straße, wobei die Gummisohlen ihrer Skechers keine Geräusche erzeugten. Ihre Tasche schlug gegen ihre Hüfte, und sie blieb stehen. Jetzt war es zu spät, zum MG zurückzukehren. Also schob sie die Tasche auf den Rücken und lief dann die enge Gasse zwischen einem Trödelladen und einem Antiquar entlang, die nicht geteert war, sondern voller Kies.

Wo war Dante? Schon drinnen?

Versprich mir, vorsichtig zu sein.

Nein.

Seine Stimme, leise und bestimmt, hatte ihr Herz auf dieselbe Weise berührt wie zuvor seine Finger ihr Gesicht. In ihr stieg Zorn auf und entfachte ein Feuer in ihrem Bauch. Attraktiv, sexy, aber stur und offenbar übermäßig loyal.

Simones Stimme flüsterte in ihrem Inneren: Sie sollten wissen, M’selle, dass Dante nie lügt.

Wie sollte er ihr also versprechen, vorsichtig zu sein, wenn es Jay das Leben kosten konnte, wenn er nichts wagte? Was, wenn Jay bereits nicht mehr lebte? Sie schob den Gedanken beiseite.

Leise trat sie aus der Gasse und eilte auf den dunkel daliegenden Bürgersteig. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war der Haupteingang von FLEISCHWAREN. Die Fenster waren vernagelt, und die tiefrote Farbe der Hauswand hatte sich in ein verwaschenes Rost verwandelt.

Der laute Ton zerbrechenden Glases hallte durch die Stille. Heather zog hastig die Achtunddreißiger aus der Tasche ihres Trenchcoats. Während sie über die Straße rannte, wurde ihr klar, dass sich das Gewicht der Waffe falsch anfühlte. Sie war ungeladen. Als sie einen raschen Blick darauf richtete, bewegte sich etwas vor ihr, und sie riss den Kopf wieder hoch.

Sie ließ sich aufs feuchte Trottoir fallen, rollte nach links und richtete sich auf die Knie auf. In einer fließenden Bewegung nahm sie die Pistole in beide Hände und zielte damit auf den schwarzen Schatten, der mit einer Geschwindigkeit auf sie zukam, dass ihr beinahe das Herz stehen blieb. Sie schoss und erhellte so einen Augenblick lang die Nacht, ehe die Kugel in Fleisch eindrang. Heather atmete langsam aus; vor Aufregung hatte sie die Luft angehalten. Sie mochte zwar kein Magazin dabeihaben, aber eine Kugel war zum Glück noch im Lauf gewesen.

Etwa einen halben Meter von Heather entfernt stand Thomas Ronin und presste sich eine Hand gegen die Seite. Blut rann über seine Finger, während er verblüfft auf seine Wunde starrte.

»Scheiße.«

Heather sprang auf und richtete erneut die Waffe auf ihn. Sie hatte noch ein Magazin in ihrer Handtasche, doch jetzt war nicht die Zeit, es einzulegen.

»Keine Bewegung.« Sie richtete die Mündung der Pistole auf die Stirn des Mannes und hoffte inbrünstig, dass er nichts von ihrem Bluff merken würde. »Eine Kugel im Gehirn dürfte Sie zumindest eine Weile außer Gefecht setzen«, fügte sie hinzu.

Ronin sah sie an und grinste. »Dieser Dante. Plaudert er doch glatt unsere Geschäftsgeheimnisse aus. Noch erstaunlicher ist freilich, dass Sie ihm glauben.« Er schüttelte den Kopf. Etwas glitt über seine Finger und fiel mit einem leisen Klirren zu Boden.

»Hat er Ihnen gesagt, dass es wehtut? Sehr?«

Heathers Hände waren schweißnass. »Wenn Sie nicht wollen, dass es noch mehr wehtut, rühren Sie sich besser nicht von der Stelle.«

Ronin wischte sich die blutigen Finger an der Jeans ab und lachte. »Sie haben viel Mut.«

»Sind Sie wegen der Story hier?«, fragte Heather, wobei sie weiter die Waffe auf Ronins Stirn gerichtet hielt und hoffte, dass er ihr pochendes Herz nicht hören konnte. »Oder haben Sie uns die Falle gestellt?«

Ronin neigte den Kopf zur Seite. »Da ist es schon wieder … uns. Ich habe Dante eine Falle gestellt. Es ist nicht meine Schuld, wenn Sie mit von der Partie sind.« Er bewegte sich absurd schnell.

Etwas knallte gegen Heathers Kopf. Blaues Licht blitzte vor ihren Augen auf. Sie kam ins Wanken, und er riss ihr die Achtunddreißiger aus den Händen, wobei sich der Nagel ihres Abzugsfingers bis zum Nagelbett ablöste. Heftiger Schmerz schoss bis in ihren Ellbogen, während eine Art Feuerrad durch die Luft flog. Ihre Pistole fiel klappernd auf das Dach des Schlachthauses. Grobe Hände wirbelten sie um die eigene Achse, und ein Arm legte sich um ihren Hals und begann zuzudrücken.

»Zeit für Dante, endlich aufzuwachen«, flüsterte Ronin mit glatt klingender Stimme, »und Zeit, dass Sie Gute Nacht sagen.«

Heather wurde schwarz vor Augen. Sie rammte in der Hoffnung, Ronins verwundete Seite zu treffen, den Ellbogen nach hinten. Gleichzeitig trat sie ihm auf den Fuß.

Er drückte härter zu.

Sie röchelte und krallte sich mit den Fingernägeln in seinen Arm.

Dann verschlang die Dunkelheit sie.

 

Dante landete in einem Regen aus splitterndem Glas in der Hocke auf dem Betonboden des Schlachthauses. Alte Ausdünstungen von Blut und Angst durchtränkten das ganze Gebäude, hingen an ihm wie ein ausgehungerter Blutegel. Er richtete sich auf, wobei Glasscherben von seinen Schultern und aus seinem Haar rieselten und sich auf dem fleckigen, staubigen Boden verteilten. Dicke Fleischerhaken und baumelnde Ketten schimmerten im Dunkeln. Kein Strom. Kein Licht. Nur ein klein wenig Mondschein fiel durch das kaputte Oberlicht. Doch mehr Licht brauchte er nicht, er sah, was er sehen musste und mehr.

Ein Bild flackerte vor seinem inneren Auge auf: Blutspritzer auf weißen Wänden, nichtssagende Gesichter, ein Fenster. Eine Stimme fragte: »Was sagt er?«

Das Bild löste sich ebenso schnell wieder in Luft auf, aber Dantes Erregung nahm zu. Er schob die Sonnenbrille auf die Stirn und lauschte. Zwei Herzen. Eines schlug langsam und unregelmäßig, das andere stark und gleichmäßig. Ein Sterblicher, ein Nachtgeschöpf. Adrenalin brannte in seinen Adern. Er sog die verunreinigte Luft tief in seine Lungen und rannte.

In Dantes Kielwasser klirrten Ketten. Eine Erinnerung griff mit kalten Fingern nach ihm. Hinter seinen Lidern begann es qualvoll zu prickeln. Er achtete nicht darauf. Als er das Ende der riesengroßen Halle erreichte, öffnete sich eine Tür. Metall kratzte auf Beton. Es roch eindeutig nach Nachtgeschöpfen. Sauber und würzig, blutgetränkt und warm. Bekannt.

Flackerndes Licht – Kerzenlicht – fiel aus der offenen Tür des Gefrierraums, und eine Gestalt raste mit der Geschwindigkeit eines Vampirs auf ihn zu. Schwarze Zöpfchen, milchkaffeefarbene Haut, Augen so schwarz wie gebrannter Kaffee – und ebenso bitter.

Etienne.

Dante rannte auf ihn zu, wobei er sich im Laufen duckte, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren. Etienne bog im letzten Augenblick ab, doch Dante erwischte ihn trotzdem und schlug ihm den Unterarm ins Gesicht.

Aus Etiennes gebrochener Nase lief Blut. Er fiel mit einem dumpfen Knall zu Boden. Dante landete auf ihm. Die Luft schien aus seiner Lunge zu bersten. Dante packte eine Handvoll der Zöpfchen mit den blauen Perlen, riss Etiennes Kopf hoch und schlug ihn dann immer wieder gegen den Beton. Etwas brach. Dante war nicht sicher, ob es der Schädel oder der Boden war. Heftiger Schmerz durchzuckte seine rechte Seite. Als er nach unten blickte, bemerkte er, dass Etienne wie wahnsinnig mit der Faust auf seine Rippen eindrosch.

Er schlug gegen Etiennes geschwollene Nase. Die Augen des Vampirs rollten weiß nach oben, und sein Körper wurde schlaff. Dante hielt inne, die blutverschmierte Faust erhoben, während er in der anderen Hand noch den Büschel Zöpfchen festhielt. Er lauschte aufmerksam, und die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf.

Zu leicht. Viel zu leicht.

Heather irrte sich. Entweder ahmte jemand – Etienne? – ihren Killer nur nach, oder ihr Killer arbeitete nicht allein. Die DNS eines Sterblichen, hatte sie gesagt.

Glas knirschte unter Stiefeln. Sofort ließ Dante Etienne los und senkte die Faust. Noch ein Herzschlag. Wieder ein bekannter Geruch nach Nachtgeschöpf. Seine Muskeln spannten sich. Er glitt von Etiennes bewegungslosem Körper und richtete sich auf. Sein Haar flatterte, als der Neuankömmling an ihm vorbeiraste. Dante atmete einen Duft aus dunklem Tabak, Tinte und Wüstensand ein. Seine Fäuste ballten sich.

Wie wäre es zum Beispiel, wenn der CCK in Wirklichkeit ein Vampir-Journalist samt perversem Assistenten wäre, der sich gerne voyeuristisch betätigte?

Dante fuhr herum, so dass er wieder der offenen Tür des Gefrierraums gegenüberstand. Ronin lehnte an der Wand, ein Bein abgestützt, ein kaltes Lächeln auf seinen Lippen. Seine Augen leuchteten. In seiner Hand hielt er eine Sonnenbrille.

»Verlogener Wichser«, spie Dante.

Ronin spreizte die Finger. »Das sagt der Richtige. Du hast fast dein ganzes Leben lang eine Lüge gelebt.« Er klopfte sich mit dem Finger an die Stirn. »Wach auf, S. Zeit, aufzuwachen. All das ist für dich.« Er betrat den Gefrierraum und näherte sich der Quelle des unregelmäßigen Pulsschlags eines Sterblichen.

Jay.

Dante stieß sich ab, hechtete über die Schwelle in das flackernde orangefarbene Licht. Er rollte sich ab, sprang auf, blickte nach oben und erstarrte.

Eine Gestalt hing mit den Fußgelenken von einem Metallhaken. Sie war von Ketten umwickelt und in den weißen Kokon einer Zwangsjacke gezwängt. Das blonde Haar fiel bis auf den Boden. Das Gesicht war bleich. Fast weiß. Die Augen waren geschlossen.

Bilder blitzten und wirbelten durch Dantes Geist. Rotes Haar. Der Mief gerinnenden Blutes. Das kalte Schimmern von Ketten. Sein Kopf barst fast vor Schmerz. Er fiel auf die Knie, als hätte er einen heftigen Schlag verpasst bekommen. Er sah nur noch grelle Farben.

Dante-Engel?

Was sagt der kleine Psycho?

»Du kannst ihn noch retten, Blutgeborener. Du musst nur aufwachen.«

Wespen surrten und krochen aufgebracht unter Dantes Haut. Schwankend erhob er sich, schwindelig vor Schmerz, und warf sich auf Ronin.

Der Journalist trat gewandt zur Seite und stieß Dante, als dieser an ihm vorbeirannte. Der Stoß ließ Dante sein Gleichgewicht verlieren, und er knallte mit voller Wucht mit der Schulter gegen die Wand. Als er sich umdrehte, packte ihn eine Hand am Hals und rammte ihn nochmals gegen die Mauer. Dantes Schädel schlug gegen den Beton. Vor den Augen sah er bunte Schlieren.

Die Finger um seinen Hals begannen zuzudrücken. Dante schlug um sich, um Luft zu bekommen, und ergriff Ronin an dessen eisenhartem Handgelenk. Energie schlug gegen Dantes Schilde. Schweiß lief ihm über die Stirn, brannte in den Augen. Seine Schilde bebten und brachen zusammen. Er keuchte und schlug mit der anderen Faust ununterbrochen auf Ronins Bauch ein.

Dieser beugte sich vor, um seinen Bauch zu schützen, wodurch er Dantes Hals loslassen musste. Dante sog Luft in seine brennende Lunge, umfasste das Gesicht des Journalisten, riss dessen Kopf nach unten und rammte dann die selbstzufriedene Miene des voyeuristischen Lügners gegen sein angewinkeltes Knie.

Knochen brachen. Blut spritzte.

Dante stieß Ronin von sich und katapultierte ihn dabei komplett aus dem Gefrierraum. Der Journalist stolperte und versuchte, das Gleichgewicht zu wahren.

Blut lief über Dantes Hals. Er wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. Blut, das im Kerzenlicht fast schwarz schimmerte, war auf seiner Haut verschmiert. Er zuckte zusammen, denn das Licht tat weh. Als er nach seiner Sonnenbrille griff, musste er feststellen, dass er sie in der Hitze des Gefechts verloren hatte.

Übelkeit stieg in Dante auf. Die Migräne durchbohrte sein Hirn mit gleißend grellen Lichtsplittern und hinderte ihn daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Nur ein Gedanke blieb – Jay.

Er schob den Schmerz beiseite und stieß sich von der Wand ab, um mit großen Schritten in die Mitte des Gefrierraums zu eilen. Jay öffnete die Augen. In ihren grünen Tiefen spiegelte sich Erleichterung. Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht.

»Mon ami«, wisperte er. »Er tut mir leid …«

»Pssst. Je suis ici.«

Dante umkreiste Jays gefesselte, herabbaumelnde Gestalt, hielt die Augen aber weiter auf Ronin gerichtet. Der Reporter richtete sich auf. Seine dunklen Augen über dem blutverschmierten Gesicht wirkten ruhig und gesammelt. Ohne Ronin aus den Augen zu lassen, legte Dante die Arme um Jay, hob ihn hoch und nahm ihn vom Haken. Als er in die Hocke ging, um Jay auf den Boden zu legen, feixte Ronin zufrieden. Dann bewegte er sich wieder in jenem absurden Tempo.

Dante federte hoch, stellte sich über Jay und wappnete sich gegen Ronins Angriff. Jeansstoff glitt über Latex. Als sich Dante duckte und drehte, verfing sich etwas in seinen Haaren. Sein Kopf wurde nach hinten gerissen, und Schmerzen schossen über seine Kopfhaut.

»Hab ich dich, marmot.« Etienne hatte sich vom Betonboden hochgerappelt und griff in den Kampf ein.

Ein Wirbel aus Fausthieben und Handkantenschlägen prasselte auf Dante nieder. Dann sprang Ronin zur Seite. Jeder Schlag hatte ein Minenfeld von Schmerzen ausgelöst. Gegen den unteren Bereich des Halses, das Brustbein, den Magen, den Schritt. Dante rang nach Luft, keuchte aber stattdessen erbärmlich, als seine brennenden Organe zu versuchen schienen, ihr Inneres nach außen zu stülpen. Er spuckte Blut, und vor seinen Augen verschwammen die Bilder.

Ronin fuhr herum, um ihn wieder anzugreifen. Dante riss die Arme hoch und blockte so zwei weitere Faustschläge. Die letzten beiden brannten noch in seinem Brustkorb, als wäre es mit Messern durchbohrt worden. Er konnte kaum mehr atmen.

Drück es weg oder nutze es, verdammt.

»Deine charmante FBI-Agentin wird dir übrigens nicht beispringen können«, meinte Ronin mit kalter Stimme. Er kniete sich neben Jay. »Schade. Wäre sicher lustig geworden.«

Heather. Der Gedanke schmerzte wie ein scharfer Glassplitter. Grelles Licht wirbelte durch Dantes Blickfeld. Sein Kopf tat unerträglich weh. Schmerzen pochten dröhnend gegen seine Schläfen. Jay.

Drück es weg oder nutze es, verdammt.

Dante lehnte sich nach hinten gegen Etiennes warmen Körper, trat dann blitzschnell einen Schritt vor und rannte los. Seine Kopfhaut schien zu explodieren, als Etienne ihm die Haare, die er immer noch um die Finger gewickelt hatte, büschelweise ausriss. Blut rann ihm in den Nacken – warm und klebrig.

»Wach auf, S«, flüsterte Ronin. Sein Zeigefinger glitt über Jays Kehle.

Blut spritzte auf den fleckigen Boden, in Ronins Gesicht und die weiße Zwangsjacke. Jay keuchte.

»Nein!«

Dante fiel neben Jay auf die Knie und biss sich ins Handgelenk. Blut schoss hervor, dunkel, strotzend vor Leben.

Jay sah ihn an, seine Augen waren geweitet und verängstigt – und erloschen.

Arme legten sich wie Stahl um Dante und rissen ihn zurück. Er versuchte, sich zu befreien und rammte Etienne den Ellenbogen in die Rippen. Der Vampir hinter ihm japste gequält, ließ ihn los und fiel auf ihn. Dante befreite sich und sprang auf. Doch noch war er Etienne nicht los. Er bohrte seine Fingernägel in das Latexshirt und riss an Dantes Haut, so dass Dante vor Schmerz zischte.

Das Blut floss schon langsamer aus Jays Hals. Es bildete eine immer größer werdende Lache auf dem Boden um Jay und färbte dessen blondes Haar rot. Jays halb geschlossene Augen waren starr auf Dante gerichtet.

»Halt durch«, sagte Dante. »Halt durch.«

Ein Lächeln huschte über Jays bleiche Lippen.

Er warf sich mit letzter Kraft und angeheizt durch das Adrenalin, das noch durch seine Adern pumpte, nach vorn, wobei er Etienne mitriss. Er kroch auf Jay zu. Schweiß lief ihm in die Augen. Schmerz bohrte sich wie Nadeln in seine Schläfen. Er versenkte die Reißzähne in sein bereits verheilendes Handgelenk. Wieder quoll Blut heraus.

Ich wusste, du würdest kommen.

Jays Gedanke durchdrang den Schmerz in Dantes Geist und brachte die flüsternden Stimmen zum Schweigen.

Ich wusste, du würdest kommen.

Ein weiteres Gewicht fiel auf Dante herab und presste ihn auf den Betonboden. Ein weiteres Paar Hände riss an ihm und zog ihn auf die Knie. Hielt ihn mit einem eisernen Griff umschlossen. Schenkel schlossen sich um ihn. Eine Hand legte sich um seinen Hals, um den Kragen.

Ich wusste es.

Dante wehrte sich gegen die Hände und Schenkel, die ihn festhielten, und bemühte sich, seinen Mund an sein Handgelenk zu pressen. Es gelang ihm, sich etwa einen halben Meter nach vorn zu bewegen, ehe ihn die Kraft verließ.

Ein Seufzer kam über Jays Lippen. Sein Herz hörte zu schlagen auf. Seine Augen brachen.

Eine Hand schob Dantes Haar beiseite. Glühende Lippen berührten sein Ohr.

»Wie fühlt sich das an, marmot

Dante schrie.