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VERTRAUENSBRUCH

Lucien schloss die Augen. Von seinem Aussichtspunkt auf dem Dach aus konnte er den Mississippi riechen – kaltes Wasser, Moos und Schlamm. Er lauschte und wartete, ob Dantes Gedanken ihre Verbindung berührten – eine Berührung, die er möglicherweise nie mehr spüren würde. Die Verbindung war geschlossen, aber nicht durchtrennt. Noch nicht. Der Junge wusste vielleicht nicht, dass eine solche Trennung ihnen beiden schaden würde.

Trotz der Schilde um Luciens Bewusstsein zerrten Dantes blutrünstiger Zorn und seine kurz darauf folgende Euphorie an ihm. Sie drangen als Chaoslied an sein inneres Ohr – wie bei ihrem ersten Treffen unten am Fluss. Er hielt sich am Dach fest, so dass sich seine Krallen in die Ziegel bohrten. Seine Krallen … dicker und stärker als zuvor. Durchzogen von der Fantasie des Creawdwrs.

Luciens Muskeln bebten unter seiner Haut. Sein neu geschaffener Körper schmerzte. Sein Haar flatterte in der winterlichen Brise. Was hatte Dante noch verändert, als er versucht hatte, ihn zu retten?

Noch ein Band, das sie unlösbar verknüpfte: Vater und Sohn, Freund und Vertrauter, Schöpfer und Geschaffener.

War es möglich, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen?

Ein jäher Schmerz, scharf wie Glassplitter, durchbrach ihre Verbindung und schnitt in seine Schilde. Lucien stieß den Schmerz fort. Sein Kind hatte das Bewusstsein verloren und sie auf diese Weise beide für eine Weile befreit.

Ein Bild spukte durch Luciens Kopf wie ein Nachbild nach einem grellen Blitz: ein Betonbau, flackerndes Licht, tropfendes Wasser. Ein Bild, an dem er vorbeigekommen war.

Llygad.

Hab’s.

Lucien unterdrückte den Wunsch, sich in die Luft zu erheben, rang mit dem Bedürfnis, zu Dante zu fliegen, ihn in die Arme zu nehmen und nach Hause zu bringen. Seine Flügel spreizten sich und flatterten, doch er blieb auf dem Dach sitzen, lauschte in die Nacht hinaus und wartete.

 

Heather legte den zweiten Ring der Handschellen um das Stuhlbein und klickte ihn zu. Der andere Ring lag um Stearns’ rechtes Handgelenk. Sie richtete sich wieder auf und strich sich das Haar aus den Augen.

»Das ist unnötig«, erklärte Stearns. »Ich will nur mit Ihnen reden.«

»Kaffee?«, fragte sie und trat an die Anrichte, wo die Kaffeekanne stand. Der starke, aromatische Duft des Kaffees erfüllte die Küche.

Während sie den frisch gekochten Kaffee in denselben Becher goss, den sie in der Nacht zuvor benutzt hatte, wurde ihr Herz schwer. Etwas mehr als vierundzwanzig Stunden zuvor hatte sie hier mit Dante gesessen, Kaffee und Cognac getrunken und über den Serienmörder gesprochen, der ihn zu verfolgen schien.

Der ihn inzwischen gefunden hatte.

Ihr Körper verkrampfte sich beim Gedanken an Elroy Jordan und wie er auf der Couch hier im Salon gelegen hatte. Er war wahrscheinlich der Mörder, den sie seit drei Jahren verfolgte. Sie dachte daran, wie er sich mutmaßlich über sie gebeugt hatte, als sie schlief, und wie er dann sein Mobiltelefon und alles, was ihm gehörte, mitnahm und verschwand, ohne jemandem etwas anzutun.

»Gehen Sie zu meinem Auto, holen Sie sich die Akte und schauen sie sich an. Sie werden erkennen, welches Monster Dante in Wirklichkeit ist.«

Heather drehte sich um, wobei sie sich mit den Händen an der Kante der Arbeitsplatte hinter ihr festhielt. Stearns rutschte mit dem Stuhl zur Seite, damit er sie besser sehen konnte. Seine Miene wurde ausdruckslos, als er ihr in die Augen sah.

»Monster? Ich habe heute Nacht schon einige Monster gesehen«, erklärte sie mit heiserer Stimme. »Zwei, um genau zu sein.« Die Erinnerung an Jay, der in seinem Blut lag, stieg in ihr auf. »Dante mag kein Mensch sein, aber das macht ihn noch nicht zum Monster.« Sie starrte Stearns an. »Darauf würde ich mein Leben verwetten.«

»Das haben Sie schon«, meinte er. »Sie wissen es nur noch nicht.« Er sah weg. »Ich bin Ihretwegen hier, Heather.«

»Meinetwegen? Oder Dantes wegen?«

Stearns blickte sie an. Sein Gesicht mit dem Drei-Tage-Bart wirkte erschöpft und merkwürdig offen zugleich. »Ihretwegen. Sie stehen auf der Abschussliste. Ich auch.«

Obgleich sie schlechte Nachrichten erwartet hatte – wirklich schlechte Nachrichten –, seit sie von der Vertuschung erfahren hatte, schockierte sie diese eindeutige Äußerung doch so sehr, als ob sie eine Ohrfeige verpasst bekommen hätte. Sie nahm ihren Becher, trat an den Tisch und setzte sich Stearns gegenüber.

»Weil jemand den CCK schützen will?«, fragte sie. »Oder weil mich meine Nachforschungen zu Dante führten?« Mit ruhiger Hand gab sie einige Löffel Zucker in ihren Kaffee, obwohl sie sich leer und verbraucht fühlte.

Auf der Abschussliste.

»Beides. Dante ist Teil des Projekts, das auch den CCK schuf.«

Heather holte tief Luft. Noch ein Schlag in die Magengrube. WACH AUF S. Die Mosaiksteinchen ergaben langsam ein Bild, das sie zutiefst erschreckte. »Wer leitet das Projekt?«

»Johanna Moore.«

»Doktor Moore? Sind Sie sicher?«

»Todsicher. Sie erschafft seit Jahren Psychopathen. Um sie zu beobachten und immer wieder zu untersuchen.«

Heather hatte das Gefühl, sich plötzlich in einer anderen Realität wiederzufinden. Sie sah genauso aus wie die alte, aber unter der Oberfläche stellte alles und jeder eine umgedrehte, zweideutigere Kopie ihrer Pendants in Heathers bisheriger Welt dar. Wie ein Negativ.

Entweder das, oder sie war eingeschlafen und stürzte geradewegs in den schlimmsten Alptraum, den sie jemals gehabt hatte.

Doch so viel Glück hatte sie nicht.

Sie rührte in ihrem Kaffee und dachte an ihre Zeit an der Akademie und an Dr. Moore – hochgewachsen, blond, charismatisch und brillant. Ihre Kurse in forensischer Psychologie waren immer faszinierend gewesen. Ihr Verständnis eines psychopathischen Geistes hatte etwas Unheimliches an sich gehabt, und die Fallanalysen, die sie erstellte, waren immer exakt und zutreffend gewesen.

Aber Psychopathen erschaffen?

»Sie steckt hinter Pensacola«, erläuterte Stearns. »Sie waren zu dicht dran.«

Heather blickte ihn an. Kalte Gewissheit bemächtigte sich ihrer und spülte wie ein eisiger Fluss durch ihr Inneres. Er sagte die Wahrheit. »Wie weit nach oben reicht das?«, fragte sie.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte er und schüttelte den Kopf. »Aber ich denke, es ist das Beste, sich zu verhalten, als würde es auf jeden Fall bis ganz nach oben reichen.«

Heather nahm einen Schluck Kaffee, während ihr die Gedanken nur so durch den Kopf rasten. Elroy Jordan und Thomas Ronin bildeten also zusammen den Cross-Country-Killer – und Dante? Warum sollte ein Teilnehmer dieses Projekts einen anderen verfolgen? War Dante ein fehlgeschlagenes Experiment? Oder sollte auch er ausgelöscht werden – so wie sie und Stearns?

Aber was war, wenn er genau das war, was er angeblich sein sollte: ein psychopathischer Mörder?

Sie schob den Stuhl zurück und stand auf. Müdigkeit wogte wie eine Welle durch sie hindurch, und für einen Augenblick wurde ihr schwarz vor Augen. Sie hielt sich an der Tischkante fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Wir reden später weiter«, meinte sie, als sie wieder klarer sehen konnte. »Jetzt muss ich erst mal Dante finden.«

»Nehmen Sie sich nur fünf Minuten«, drängte Stearns mit ernster Stimme. »Holen Sie die Akte und schauen Sie sie sich an.« Mit der freien Linken fasste er in die Jackentasche und fischte einen Schlüsselbund heraus, den er auf den Küchentisch warf. »Bitte, Heather.«

Sie starrte auf die Schlüssel und fragte sich, ob in der Akte Geheimnisse aus Dantes Vergangenheit standen. Falls ja, konnten sie ihn von den Migräneanfällen und dem Nasenbluten heilen? Hätte die Wahrheit Annie vor aufgeschnittenen Pulsadern, Ärzten, Medikamenten und Sanatorien gerettet?

Möglicherweise, dachte Heather und nahm die Schlüssel. Sie steckte sie in die Hosentasche. Eventuell würde sie das noch immer. Stearns öffnete den Mund, aber sie schüttelte den Kopf. »Sagen Sie nichts mehr.«

Sie verließ die stille Küche und trat wieder auf den Flur hinaus. Ihre Reisetasche und ihr Laptop standen dort an der Wand. Etwas weiter den Gang entlang fiel schwaches blaues Licht auf den herbstlich wirkenden Teppichläufer. Es kam aus einer Tür neben der Treppe. Sie hörte das leise Murmeln von Simones Stimme, als sie in einem schnellen Singsang mit ihrem Bruder Cajun sprach.

Heather erinnerte sich an Dante, wie er im Schlachthaus unter der Tür zum Kühlraum gestanden hatte, die Hände am Rahmen abgestützt, die dunklen Augen rot durchzogen. Sie erinnerte sich an die Qual, die in seinem Tonfall lag: Lauf so weit weg, wie du kannst.

Als sie den Flur entlang auf das blaue Licht zulief, fiel ihr auch wieder Etiennes baumelnder Kopf ein, den Dante in der blutverschmierten Hand gehalten hatte. Sie dachte an die heiße Berührung seiner Lippen auf ihrem Hals und an das seltsam widersprüchliche Gefühl aus Angst und Leidenschaft in ihrem Inneren und erinnerte sich an das Erstaunen, das in seiner Stimme anklang, als er ihren Namen ausgesprochen hatte.

Selbst wenn das, was Stearns behauptete, stimmte, dann war doch eindeutig, dass Dante dagegen ankämpfte, wozu jemand sein zersplittertes Gehirn irgendwann einmal programmiert hatte. Er liebte andere – etwas, wozu ein Psychopath nicht in der Lage war. Dantes Bereitschaft, sich für Jay zu opfern, war ihr Beweis genug.

Dennoch kroch Ronins Stimme in ihr Bewusstsein.

Sie hieß Chloe, und du hast sie getötet.

Dante kämpfte dagegen an. Aber hatte er das schon immer getan?

Sie schob den Zweifel beiseite, auch wenn sie wusste, dass sie sich eines Tages damit würde auseinandersetzen müssen. Für den Augenblick war sie Dantes Partnerin, seine Verstärkung, und würde ihn nicht allein Ronin gegenübertreten lassen.

Heather öffnete die Tür zum Computerraum. Simone kniete neben ihrem Bruder, der ans Netz angeschlossen war. Trey lag in einem Liegesessel und trug wie immer seine Brille. Den Blick zur Deck gerichtet, schoben seine Finger, die in kleinen Metallhüten steckten, Daten durch die blau schimmernde Luft, während sie die Informationen suchten, um die Heather gebeten hatte: Er verfolgte Elroy Jordans Spuren über die vergangenen drei Jahre.

 

Dante-Engel?

Chloe zerrt an den Handschellen, und die Kette macht tacktack-tack am Bettpfosten. Wach auf! Papa hat den Vorhang weggenommen. Dante-Engel, wachaufwachaufwachauf …

Dante öffnete ein Auge. Licht bohrte sich in seinen bereits schmerzenden Kopf. Er schloss das Auge wieder. Im MG. Er lehnte sich vorsichtig gegen die Kopfstütze und massierte sich die Schläfen. Im Wageninneren roch es nach Blut, Benzin und Tequila.

»Scheiße.«

Etwas Hartes drückte gegen Dantes Rücken. Er zuckte in dem fluoreszierenden Licht zusammen, beugte sich vor und fasste hinten in den Bund seiner Lederhose. Seine Finger umfassten etwas Glattes, Zylindrisches und zogen es vorsichtig heraus.

Dante starrte auf die Waffe – eine Neunmillimeter, flüsterte ihm eine Stimme zu – in seiner blutigen Hand. Ihm stockte der Atem, während vor seinem inneren Auge abscheuliche Bilder aufleuchteten. Der unerwartete Gewaltausbruch – stürmisch, erbarmungslos und überwältigend – ließ sein Herz wie eine rasende Maschine hämmern.

»Die Kneipe …«, murmelte er.

Eine weitere schwindelerregende Ansammlung von Bildern: ein durch die Luft sausender zerbrochener Billardstock; ein Messer, das sich durch seine Hand bohrte; eine schwarzhaarige Frau, die sich zutiefst verängstigt hinter einer Bar zusammenkauerte; ein schimmerndes Rosen-Tattoo.

Der Geschmack von LaRousses herbem Blut.

Die Waffe fiel aus seiner Hand auf den Boden. Dante schloss wieder die Augen. Seine Finger wanderten zu seinen Schläfen. Bebend und mit angespannten Muskeln drängte er sich an dem Schmerz vorbei, doch die Bilder wurden weiß. Wie sehr er es auch versuchte – er konnte die Flut der zersplitterten Erinnerungsbilder nicht aufhalten. Er konnte sie weder kontrollieren noch festhalten.

Dante öffnete die Augen. Fluoreszierende Lichter summten über ihm. Er atmete den Geruch von nassem Beton, Schimmelpilz und Seife ein. Dazwischen nahm er den Gestank alten Schlachthausblutes wahr.

Schmerz fuhr ihm wie ein Eispickel ins Hirn. FLEISCHWAREN. Ronin und Etienne. Jay, der kopfüber gefesselt an einem Fleischerhaken hing. Ronins Fänge, die seinen Hals aufrissen. Heather neben Etienne kniend, die Waffe auf seine Brust drückend.

Ich wusste, du würdest kommen.

Du kannst ihn noch retten, Blutgeborener.

Lügner. Lügner.

»Lügner!«, brüllte Dante. Er schrie, bis er innerlich wund, bis sein Geist leer und kein Geräusch mehr zu vernehmen war. Dann sackte er in seinem Autositz noch mehr in sich zusammen – erschöpft, aber noch immer in Flammen.

»He, kleiner Bruder.«

Dante sah auf die nun offen stehende Fahrertür. Von kniete auf dem Beton, ein Knie in einer schillernden Pfütze aus Wasser und Öl. Er umfasste mit einer seiner rauen Hände Dantes Gesicht und strich mit seinen langen Fingern dessen Haar zurück.

»Es ist gut, diesen ganzen Mist rauszuschreien«, sagte Von mit sanfter Stimme. »Das eitert nur, wenn man das nicht tut.«

»Ja?«, flüsterte Dante und sah in die grünen Augen des Nomads. »Wieso habe ich dich dann nie schreien hören?«

Von schnaubte. »Ich habe da nichts. Ich reise mit leichtem Gepäck, mein Freund.«

»Quatsch.«

Von nahm die Hand aus Dantes Gesicht und legte sie auf seine Brust. Er presste die Finger gegen das Latexshirt. »Du hast ein gutes Herz, kleiner Bruder. Darum bleibe ich bei dir und habe es noch nie bereut.«

»Woher willst du das wissen, wenn ich es selbst nicht mal weiß?«

Von wies auf den Halbmond, der unterhalb seines Auges eintätowiert war. Er tippte mit der Fingerspitze darauf und zog dann eine Braue hoch.

»Ja, Llygad. Habe verstanden.«

Von nahm die Hand von Dantes Brustkorb, doch Dante hielt ihn fest und schob die Finger zwischen die des Llygads. Dann beugte er sich vor und küsste ihn. Der Nomad schmeckte nach Rauch und Straßenstaub. Er lauschte dem ruhigen, stetigen Schlag seines Herzen, während seine Gedanken zu Lucien eilten, zu dem Geschmack seines Blutes, den Klängen des Lieds, das in seinem Körper vibrierte. Hastig versuchte er, Lucien aus seinem Bewusstsein zu verbannen, aber es war zu spät.

Du siehst ihr so unfassbar ähnlich.

Wieder loderte Wut in ihm auf und brannte in seinem Inneren wie Feuer.

Du hast das die ganze Zeit über gewusst und mir nie auch nur ein Wort gesagt?

Dante löste seine Hand aus der Vons und stieg aus. Er sah sich um und begriff erst jetzt, dass er in einer Autowaschlage geparkt hatte. Als er seine blutverkrustete Kleidung betrachtete, ergab alles einen Sinn.

»Ich muss mich waschen.«

»Gute Idee«, sagte Von. »Diese scharfe kleine FBI-Schnickse ist bei uns daheim. Wenn sie dich so sieht, wird sie denken, du duschst mit Blut.«

Dante hielt inne. »Heather? Bei uns daheim? Geht es ihr … gut?«

»Ja. Sie ist völlig kaputt, so wie du, aber es geht ihr gut. Schlaf würde euch beiden guttun.«

Dante nickte und zog seine Lederjacke aus. Er warf sie in den MG, wobei man das leise Klirren der Metallnieten hörte. Als er seine Sonnenbrille auf dem Beifahrersitz entdeckte, beugte er sich ins Auto, nahm sie und setzte sie auf. Das blendende Licht wurde schwächer. Sein Kopfschmerz ließ etwas nach. Er öffnete sein Latexshirt und ging dann zu dem Automaten, mit dem man die Autowaschlage kontrollieren konnte.

Er tastete seine Hosentaschen ab – vor sich sah er auf einmal ein Bündel Dollarscheine, das er auf die Theke der Kneipe gelegt hatte – und sah dann Von an. »Hast du Geld?«

»Ja«, antwortete der Nomad und fasste in die Jackentasche. Er blickte Dante an, als er eine Kreditkarte aus der Tasche zog, eine Braue hochgezogen. »Wie sah eigentlich dein Plan aus? Wolltest du warten, bis jemand kommt, der deinen bejammernswerten Zustand ignoriert und dir Dollarscheine in die Hand drückt?«

»Lass die blöden Witze.« Dante nahm die Spritzpistole aus ihrer Metallhülle.

Grinsend zog Von die Karte durch die Maschine. »Dann such dir mal aus, was du willst.«

Dante drehte die Scheibe auf »Vorwäsche« und drückte auf den Knopf. Wasser sprühte aus der Düse der Spritzpistole. Er drehte sie so, dass der harte Strahl seinen Oberkörper traf und er beginnen konnte, ihn auf und ab zu führen, so dass das Blut aus seiner Kleidung und von seiner Haut floss. Das kalte Wasser tat ziemlich weh.

»Hör mal«, sagte Von, der zur Seite getreten war, um nicht von dem Wasserstrahl getroffen zu werden. »Du bist erschöpft. Du hast Fieber. Du brauchst Schlaf

»Ronin wartet auf mich.«

»Lass ihn warten. Die Sonne geht in wenigen Stunden auf. Auch er braucht Schlaf

Plötzliche Ermüdung durchströmte Dante, und er lehnte sich mit einer Schulter an die glatte Betonmauer. Blutiges Wasser rann in den Abfluss in der Mitte der Waschanlage. Seine Schläfen pochten. Er wischte über die besonders hartnäckigen Flecken auf seiner Lederhose. Wasser lief über seine Finger. Einen Augenblick lang legte er die Spritzpistole auf den Boden, um sich das Shirt auszuziehen. Auch das warf er in den MG.

Eine hohe Stimme wisperte seinen Namen …

Dante-Engel.

Er schloss die Augen und lehnte sich wieder mit der nackten Schulter an die Wand. Mit der rechten Hand drückte er gegen den Beton. Die Berührung hatte etwas Zögerndes, als suche er nach etwas. Wonach?

Hinter seinen Lidern sah er eine Lichtkorona, die einen Schlüssel umgab, durchzogen von schwarzen Linien wie ein Spinnennetz.

Ist das der richtige? Wird er die Handschellen öffnen?

»He, Dante.« Fingerschnippen. »He, kleiner Bruder.«

Dante schlug die Augen auf und sah in Vons besorgtes Gesicht.

»Alles klar?«

Nickend und mit pochendem Herzen hob Dante die noch immer sprudelnde Spritzpistole auf und begann, sich weiter abzuwaschen.

»Was ist zwischen dir und Lucien vorgefallen?«

Dante sah Von lange an und fuhr dann fort, sich zu waschen. »Fragst du das als mon ami oder als Llygad

Auf einmal musste er an Heather denken – an ihr schönes Gesicht, das im Club halb im Schatten gelegen hatte, als sie sagte: Ich bin beides. Freundin und Bulle.

»Als Freund.«

»Er hat mich belogen.« Der Wasserstrahl wurde schwächer, bis er nur noch tropfte und dann ganz versiegte. Dante richtete sich auf und schüttelte sein feuchtes Haar. Dann schob er die Spritzpistole wieder in ihre Hülle.

Von stieß einen leisen Pfiff aus, beugte sich in den MG und nahm Dantes Jacke. »Wenn Lucien dich belogen hat, dann muss er dafür einen Grund …«

»Er kannte meine Mutter. Die ganze Zeit über wusste er, wer meine Mutter war, und hat nie ein einziges Wort gesagt. Kein verdammtes Wort.«

Dante zog sich die Jacke über die feuchte Haut. Das Leder knarzte, das Metall klirrte.

Noch einmal tauchte in seiner Erinnerung Luciens Gesicht auf, tiefes, großes Erstaunen in seinen goldenen Augen, während er die Hände ausstreckte, um über Dantes Haare zu streicheln.

Genevieve …

Auf einmal drehte sich die Welt – Kathedrale, Autowaschlage, Schlachthaus, schimmernde Kirchenbänke, nasse Betonwände, schwankende Haken –, und Dante fasste nach der offenen Wagentür, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Schmerz stach hinter seinen Augen. Für einen Augenblick wurde alles grau vor seinen Augen, dann sah er allmählich wieder klarer.

Er merkte erst jetzt, dass ihn Von am Oberarm gepackt hatte, um ihn festzuhalten. Dante blickte den Nomad an. Der erwiderte seinen Blick. Sein Gesichtsausdruck war besorgt und beunruhigt.

»Merci«, sagte Dante.

Von ließ ihn los, doch seine Haltung war angespannt und zögernd. »Geh heim, kleiner Bruder. Schlafe. Ronin wird noch im Schlaf liegen, wenn du ihn abends aufsuchst. Geh heim. Bitte.«

Aber Dante erkannte den eigentlichen Gedanken hinter Vons Worten. Er sah es in seinen Augen: Du machst mir Angst.

»Das habe ich vor, mon ami«, sagte Dante und stieg in den MG. »Ich muss mit Heather sprechen.« Muss sicherstellen, dass es ihr gutgeht. Er schob den Zündschlüssel ins Zündschloss und drehte. Der Motor sprang an. Das ratternde Geräusch hallte in der Betonkabine wider.

Ein Lächeln umspielte Vons Lippen. »Dann kann er also doch vernünftig sein.« Mit einem sanften Stoß warf er die Fahrertür ins Schloss und ging davon.

Dante schüttelte amüsiert den Kopf und schaltete in den ersten Gang. Seine Belustigung verschwand jedoch, als ihm wieder düstere Gedanken kamen. Warum zum Teufel kann ich mich nicht an meine Vergangenheit erinnern, und warum hat mich das bisher noch nie groß gestört?

Noch düsterer: Was, wenn es mich nie störte, weil es mich nie stören sollte?

Am düstersten: Was, wenn es mich nie störte, weil ich mich nicht erinnern will?

Wieder hörte er Ronins wissende Stimme: Wovor hast du Angst, Blutgeborener?

Er klammerte sich ans Lenkrad und fuhr den MG aus der Waschanlage. Nicht vor dir. Oder vor dem, was du weißt. Aber er fragte sich, wie der Voyeur überhaupt an dieses Wissen gekommen war.

Aufgewühlt trat Dante aufs Gas, schaltete in den zweiten Gang, dann in den dritten. Er hatte etwas übersehen, etwas Wichtiges, aber auch diese Erinnerung – wie so viele andere – wollte sich nicht einstellen.