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OHNE EIN WORT

Dante warf einen Blick über die Schulter. Er sah die rothaarige Frau im Trenchcoat, die neben Lucien gestanden hatte, nicht, aber er spürte, wie sie sich durch die Menge schob, entschlossen und eine Autorität ausstrahlend, der man sich schwer entziehen konnte – rein, durchdringend und tödlich.

Was ist los, mon ami?

Dante wandte seine Aufmerksamkeit wieder Simone zu. »Keine Ahnung.« Er ließ die Hand über ihr seidenweiches langes Haar gleiten und strich es ihr hinters Ohr. »Aber ich werde es bald herausfinden. Ob ich will oder nicht.« Er lächelte.

Simone musterte ihn interessiert. Ihr Blick suchte in seinen Augen nach einer Antwort. Er schüttelte aber nur den Kopf.

Sie seufzte. »Wenn du dir sicher bist.«

Er senkte den Kopf und küsste sie, während er ihren Duft aus Magnolien und Blut einatmete. »Merci beaucoup, chérie«, flüsterte er gegen ihre Lippen.

Simone seufzte erneut. Sie blickte an ihm vorbei zu Silver. »Komm, mon petit.« Dann streckte sie die Hand aus und lockte Silver mit ihren Fingern. Der Junge nahm ihre Hand und zog sie hoch, um gemeinsam mit ihr die Stufen hinunter auf die Tanzfläche zu gehen.

Dante erhob sich ebenfalls und stieg zum Thron hinauf. Under Pressure tobten und wüteten im Käfig, ihre Musik ein einziges Fäusterecken, Boxen, Zuschlagen. Jeder Akkord, jedes gebrüllte Wort, jeder Schlagzeugschlag hallte in Dante wider und ließ sein Rückgrat erbeben.

Ein sanftes Klopfen Luciens öffnete die Verbindung zwischen ihnen. Sie ist vom FBI. Habe versucht, sie loszuwerden.

Dante lächelte über den vorwurfsvollen Tonfall. Ich weiß. Ich bin wieder einmal nicht deinen Anweisungen gefolgt. Trotzdem merci.

Er öffnete die Augen und drehte sich um. Die Menge jaulte begeistert auf. Mehrere seiner Tayeaux lösten sich von den anderen und legten sich auf die Stufen unterhalb des Throns. Die kleinen Fledermaus-Tattoos in ihren Drosselgruben schimmerten im Licht über ihnen. Diese Tätowierungen waren nur für Nachtgeschöpfe erkennbar; sie machten ihre Träger tabu. Der Anblick der Tayeaux löste in der Menge dunkle Emotionen aus – Neid, Groll, Ablehnung –, die Dantes Bewusstsein umfingen. Er blickte in die blassen Gesichter und die schwarz umrandeten Augen und verzog den Mund zu einem Lächeln, während er wie immer dachte: »Was wollen die von mir?«

Schmerz zuckte auf, und Dante schüttelte den Kopf und presste die Hand gegen eine Schläfe. Dann atmete er die nach Gewürznelken, Zimt und Schweiß riechende Luft ein und lenkte seine Gedanken nach außen.

Silver und Simone tanzten und drehten sich inzwischen gemeinsam auf der Tanzfläche. Sie glühten fast, so stark leuchtete ein Licht aus ihnen heraus – mondblutig und heißhungrig. Sterbliche umkreisten und beobachteten das Paar. Sie hofften wohl, auserwählt zu werden, und träumten von einer glatten, kühlen Hand, die sie am Handgelenk nahm und auf die Tanzfläche zog.

Hinter ihnen teilte sich die Menge für Lucien und raunte, während er vorbeiging.

Die FBI-Agentin trat aus der Menge auf die erste Stufe des Podests. Lucien folgte ihr auf den Fersen. Er sah warnend zu Dante hinauf. Dieser zuckte die Achseln und musterte die Frau, die auf ihn zukam. Der Trenchcoat und die weit geschnittene Hose ließen sie schlank wirken, sie trug trendige schwarze Skechers und hatte ihr dunkelrotes Haar zum Zopf geflochten. Ein paar lose Strähnen lockten sich um ihre glatten Wangen und die Stirn. Ihr Mund war groß und schön geschwungen. Ihre blauen Augen strahlten klug und entschlossen.

Niedlich, sendete Dante.

Luciens warnender Blick verfinsterte sich, als er an der Frau vorbeiging und sich hinter den Thron stellte. Gefährlich, schoss er zurück.

Dante grinste.

Die Agentin trat auf das Podest. »Dante?«, rief sie.

Trotz der Musik konnte Dante sie hervorragend hören, unternahm aber nichts gegen ihr Schreien. Er nickte. Sie fasste in ihre Tasche und zog ein schmales Etui heraus, das sie aufklappte.

»Special Agent Wallace«, rief sie. »FBI.«

Dante beugte sich weiter vor, berührte den Ausweis und ließ seinen Blick von dem Foto zum ernsten Gesicht der Frau wandern, dann wieder zu dem Foto zurück und erneut zu ihr. Sie roch sauber und klar – wie Salbei, wie die Stadt nach einem starken Regen.

»Gutes Bild.« Er ließ den Dienstausweis los und sah wieder ihr Gesicht an. »Ich habe allerdings schon mit der Polizei gesprochen. «

Agent Wallace ließ den Ausweis wieder in ihre Tasche fallen. »Das ist mir bekannt. Das hier ist eine davon unabhängige Untersuchung«, rief sie. »Ich finde es …«

Under Pressure beendeten ihr Stück mit einem langen Feedback und einem letzten buschtrommelartigen Schlagzeugwirbel. Dann wurde es im Club stockdunkel, so dass die Band unbemerkt den Käfig verlassen konnte. Das Getöse des vollen Clubs – Schreie, Rufe und das Surren Hunderter von Unterhaltungen – erfüllte die Finsternis. Nach einer Weile gingen die schwachen Lichter wieder an und zeigten einen leeren Käfig.

Agent Wallace fuhr in einer etwas normaleren Lautstärke fort: »Ich finde es seltsam, dass mich Mr. De Noir glauben machen wollte, Sie seien nicht da.« Sie wich seinem Blick nicht aus.

Dante zuckte die Achseln. »Die wenigsten wissen, wo ich mich gerade aufhalte. Ich komme und gehe, wie es mir gefällt. «

»Gibt es vielleicht einen etwas ruhigeren Ort, wo wir reden könnten?«

»Wahrscheinlich«, entgegnete Dante. »Aber dazu habe ich keine Lust, also nein.«

Sie zog eine Braue hoch. »Gibt es ein Problem?«, wollte sie mit angespannt klingender Stimme wissen.

»Sie meinen außer der Tatsache, dass Sie hier in diesem Club sind?«, antwortete Dante launisch. »Nicht, dass ich wüsste.«

Vorsicht, Kind. Dieses Spiel solltest du gar nicht erst anfangen.

Dante achtete nicht auf Lucien. Er ignorierte seinen entrüsteten Blick und konzentrierte sich stattdessen auf das wütende Aufblitzen in Agent Wallaces blauen Augen. Sein Puls begann, schneller zu schlagen.

»Es geht hier um Mord«, sagte sie und kam näher. Zu nahe. »Ich verstehe nicht, warum Sie sich weigern, mir bei meinen Nachforschungen behilflich zu sein und mit uns zu kooperieren. «

»Diese ganze Kooperationsnummer mit dem Gesetz … das bin einfach nicht ich«, erklärte Dante und weigerte sich, auch nur einen Zentimeter zurückzuweichen, wie sie es wohl erwartet hatte, nachdem sie ihm so auf die Pelle gerückt war.

Er lauschte auf den schnellen Pulsschlag der Beamtin, auf das in ihren Adern rauschende Blut – es roch verführerisch und süß.

»Es wird nicht lange dauern. Ich muss nur ein paar Dinge klären.«

Dante strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Alles, was ich zu sagen hatte, steht im Bericht Ihrer Kollegen.« Er machte es sich auf dem Thron bequem und streckte die Beine von sich. »Lesen Sie den.«

»Das werde ich«, antwortete Wallace und sah Dante erneut in die Augen. »Aber ich hätte gern Ihre Erlaubnis, mich hier umzusehen, vor allem draußen im Hinterhof.«

»Nicht ohne Durchsuchungsbefehl«, entgegnete Dante leise.

Kind …

Sie sah ihn lange an, neigte den Kopf und überlegte. »Hören Sie. Wir müssen das nicht auf die harte Tour machen.«

»Das ist die einzige, die ich kenne«, erklärte Dante kalt.

»Wussten Sie, dass das Opfer aus Lafayette stammte?«, fragte Agent Wallace mit gepresster Stimme.

Dante zog die Beine wieder an und setzte sich auf. Lafayette. Die pochenden Schmerzen kehrten heftiger als zuvor zurück. Er legte die Finger an die linke Schläfe und rieb sie, bis es wieder besser wurde. »Verdammt«, zischte er.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Agent Wallace.

»Nein«, grollte Lucien hinter dem Thron. »Er hat Migräne. Ich fürchte, Sie müssen Ihre Befragung ein andermal fortsetzen.«

Probleme, sendete Von. Etienne ist jetzt auf dem Weg zu euch.

»Nein, ich …« Agent Wallace brach jäh ab, als ein aufgeregtes Raunen durch den Raum ging und im ganzen Club widerhallte.

Dante beobachtete, wie Etiennes in Armani gekleidete Gestalt eintrat und auf ihn zukam. Seine blasse, gelbliche Haut schien von innen heraus zu leuchten. Er bebte vor Hass. Von folgte ihm auf den Fersen. Wortlos hatte sich die Menge geteilt und blickte die beiden Männer an.

Etienne blieb am Fuß der Treppenstufen stehen. Ein Pony aus geflochtenen Zöpfchen mit kobaltblauen Perlen umrahmte sein kalt wirkendes, markantes Gesicht. Von stellte sich in seiner Funktion als Llygad rechts neben dem Vampirbesucher auf, statt auf das Podest zu treten und sich wie sonst neben Dante zu platzieren.

Dante beugte sich vor, die Hände auf den Armlehnen des Throns, die Muskeln angespannt.

»Du sollst zu Guy Mauvais kommen, und zwar jetzt«, erklärte Etienne.

»Du machst wohl Witze«, antwortete Dante und lachte freudlos.

Etienne verkrampfte sich. »Der Rat führt eine Untersuchung durch.«

»Der Rat hat keine Macht über Dante«, gab Lucien zu bedenken.

»Je regrette, Nachtbringer«, sagte Etienne und neigte ehrerbietig den Kopf. »Aber das geht die Gefallenen nichts an.«

»Bereit, dein Leben darauf zu verwetten?« Luciens tiefe Stimme hallte im gesamten Club wider.

FBI-Untersuchungen, Ratsuntersuchungen. Grundgütiger … »Es geht doch nichts über Beliebtheit«, brummte Dante. Zu Etienne gewandt meinte er: »Wenn es schon wieder um das Feuer geht, müssen sie ihre Zeit nicht noch länger verschwenden. Sa vaut pas la peine. Ich weiß nicht …«

Etienne stürmte die Treppenstufen hinauf. Er blieb auf der dritten stehen, als Von schnell, wie es nur Nachtgeschöpfe sein konnten, hinter ihn sprang und ihn am Arm packte.

»Überheblicher Heuchler!«, schnaubte Etienne und funkelte Dante wutentbrannt an. »Man sollte dich auspeitschen lassen! Dich auf die Knie zwingen!«

Eine kühle Brise zerzauste Dantes Haar, als Lucien hinter dem Thron hervorschoss. Dante streckte blitzschnell den Arm aus, um den großen Mann aufzuhalten. »Willst du mich herausfordern, Etienne?«, fragte er leise und drohend.

Etienne riss sich von dem Llygad los und strich sein Jackett glatt. Mit den Fingern berührte er die Manschettenknöpfe aus geschnitztem Elfenbein, die seine Hemdsärmel vorne schlossen. »Nein«, sagte er und ballte die Fäuste. »Noch nicht.«

»Zu schade.« Dante ließ den Arm sinken.

»Aber eines Nachts …«, setzte Etienne mit einem Lächeln hinzu, »… werde ich auf dich warten.«

Dante stand auf. »Nur zu«, sagte er.

»Ich habe den Befehl überbracht«, sagte Etienne. »Ich hoffe, du ignorierst ihn, marmot.« Er wirbelte herum und schritt in die schweigende Menge, dicht gefolgt von Von. Die Sterblichen wichen vor ihm zurück, als sei er eine Feuersäule.

Dante sank wieder auf den Thronsitz. Seine Schläfen pochten erneut, und auch hinter seinen Augen hämmerte jetzt der Schmerz. Sein Magen verkrampfte sich. Er fasste nach den Armlehnen und klammerte sich so heftig daran, dass seine Fingerknöchel weiß wurden.

»Was war das?«

Er blickte auf und sah, dass sich Agent Wallace neben ihm auf ein Knie niedergelassen hatte. Sie musterte ihn aufmerksam. Er hatte das Gefühl, dass ihr wenig entging. »Eigentlich nichts«, antwortete er seufzend. »Speichelleckerei verweigert. Harte Strafe angedroht. Das Übliche.«

»Witzig«, murmelte Wallace und klang, als sei es alles andere als das gewesen. »De Noir sagte die Wahrheit, was Ihre Kopfschmerzen betrifft – nicht wahr?«

»Ja, Agent Wallace«, meinte Lucien trocken. »Ich bin übrigens hier. Man muss nicht über mich reden.«

Ihr Blick wanderte von Dante zu Lucien und wieder zurück. »Entschuldigen Sie«, flüsterte sie und klang nicht länger offiziell. »Meine Schwester leidet auch unter Migräne, wissen Sie.«

Dante sah sie an. Die FBI-Maske war einen Augenblick lang gefallen. Sie erwiderte seinen Blick, und diesmal wirkte ihr Gesichtsausdruck offen, und die blauen Augen erschienen ruhig und gefasst. Er glaubte, in ihr Herz sehen zu können, das warm und einfühlsam, aber auch hart sein konnte – gehärtet in Feuer und Stahl.

»Ja?«, fragte er.

Wallace nickte. »Dante, hören Sie. Ich kann uns beiden viel Zeit und Ärger ersparen. Wenn Sie mir einfach erlauben …«

»Nein«, sagte Dante. Ihre Maske war wieder da. Vielleicht war sie doch nur ein Bulle; vielleicht war er einen Augenblick lang einer Illusion erlegen. Weißes Licht umgab sein Blickfeld und schmerzte in seinen Augen.

Wallaces Lächeln verschwand. Sie starrte ihn einen Moment lang enttäuscht an. Dann richtete sie sich auf. »Das ist sinnlos, Dante«, meinte sie. »Ich kann innerhalb einer Stunde einen Durchsuchungsbefehl bekommen, wenn es sein muss.«

Dante nahm die Sonnenbrille, die an seinem Gürtel gehangen hatte, und setzte sie auf. »Besorgen Sie ihn sich. Ich warte.«

»Das werde ich«, antwortete Agent Wallace kühl. Sie schritt die Stufen hinunter und mischte sich wieder unter die Leute.

Ihr sauberer, klarer Regenduft hing noch ein Weilchen in der Luft – ebenso wie das Aroma ihres erhitzten Blutes. Doch die borstigen Strahlen ihrer Autorität nahmen mit jedem Schritt ab, den sie tat, bis Dante wieder freier atmen konnte. Sie war willensstark, hartnäckig und schön. Zu blöd, dass sie FBI-Agentin war.

Ein kühle, beruhigende Hand strich über das Haar an seiner Schläfe und vereiste für einen Moment den Schmerz. Er schloss die Augen.

Schick mich nicht schlafen.

Du musst ruhen. Du brauchst Blut. Luciens Gedanken wanden sich an den Schmerzen vorbei in sein Bewusstsein. Ich bringe dich heim, ehe die Schmerzen noch schlimmer werden.

»Nein.« Dante schob Luciens Hand von seiner Schläfe. »Ich steige in den Käfig.«

Lucien trat vor ihn hin, und Dante sah in seine goldenen Augen. »Nicht heute«, sagte Lucien. »Du bist nicht in der Verfassung …«

»Ich bin genau in der richtigen Verfassung«, unterbrach ihn Dante.

»He, Süßer.«

Lucien drehte sich um, und Dante sah Gina und Jay auf der Stufe hinter ihm stehen, händchenhaltend und befriedigt lächelnd. Ginas Korsett war noch immer aufgeschnürt. Das Dekolleté, das durch das Korsett entstand und nach Schwarzkirsche duftete, weckte wieder seinen Hunger. Sein Verlangen wickelte sich um seine Schmerzen und vereinigte sich mit ihnen.

Gina ließ Jays Hand los, schob sich an Lucien vorbei und setzte sich auf Dantes Schoß. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände, beugte sich vor und küsste ihn. Er schmeckte Jay auf ihren Lippen und ihrer Zunge, schmeckte auch sie – herb und verführerisch. Er biss sie in die Lippe und saugte das Blut auf, das aus der kleinen Blessur trat. Sie keuchte und stöhnte auf.

Brennend. Unruhig. Gefährlich.

Kind …

Bebend beendete Dante den Kuss. Er leckte ihre Unterlippe, bis das Bluten nachließ und sich der Kratzer langsam schloss. Gina betrachtete ihn aus halb geschlossenen Augen. Schlaftrunken. Glücklich. Er streichelte mit bebenden Fingern ihr Kinn. Schweiß lief ihm über die Schläfe.

Gina legte einen Finger auf seine Lippen. »Wir müssen jetzt gehen, Hübscher«, flüsterte sie und glitt von seinem Schoß. »Morgen wieder?«

Schmerz bohrte sich wie ein Eispickel in sein Hirn. Er merkte, wie er die Kontrolle verlor. Also ließ er Gina wortlos gehen. Jay beugte sich zu ihm und gab ihm ebenfalls einen Kuss.

»Morgen«, flüsterte der Sterbliche. Er nahm Ginas Hand und führte sie die Stufen hinab. Gina winkte Dante zu, ein spitzbübisches Lächeln auf den Lippen.

Morgen.

Dante sah den beiden nach, als sie den Club verließen.