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ANGE DE SANG

Luciens Lied schwelte in Dante, der Rhythmus war schwach und wurde immer leiser wie die erlöschende Glut eines Feuers, das stetig seit Jahrhunderten – nein, Jahrtausenden gebrannt hatte. Er rannte die Stufen der Kathedrale hinauf, bis er vor dem versperrten Portal stand. Er sah empor. Vor den Fenstern waren Holzläden.

Das Bild eines Raumes mit Kuppeldach – SANTUSSANCTUS-SANCTUS – blitzte immer wieder vor Dantes innerem Auge auf und ging dann in goldenen Regen über. Er berührte seine Verbindung zu Lucien, die aber geschlossen war. Er warf sich dagegen, doch das Siegel hielt.

Stimmen wisperten und rauschten. Wespen krochen.

Lucien, mon cher ami …

Jays grüne Augen, ruhig und voller Vertrauen, selbst als ihr Licht erlosch, kamen Dante in den Sinn.

Ich wusste, du würdest kommen.

Würde er auch Lucien im Stich lassen? Würde er auch bei ihm zuschauen müssen, wie das Leben in seinen Augen erlosch?

Weißes Licht brannte rätselhafte Zeichen an die Ränder von Dantes Sichtfeld. Blut troff auf den Boden unter seinen Füßen. Stimmen riefen, schrien und murmelten hinter ihm, und doch war ihr Gerede ohne Sinn. Er fasste nach der Klinke am Portal und drückte.

Dante musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Sterbliche den MG umkreisten, der vor den Stufen geparkt war, die zu der Kirche hinaufführten. Er witterte sie – Blut und Schweiß, Alkohol und Verzweiflung. Er hörte ihre Herzen, klopfend und hämmernd, ein ungleichmäßiger Rhythmus, der das Summen ihrer Stimme in der Nacht untermalte.

Mit einem geräuschvollen Knacken gab das Schloss nach. Dante schwang das schwere Portal auf und betrat den goldenen Raum, den er in seinem Inneren gesehen hatte, ehe ihm ein weißer, heißer Schmerz, der nicht der seine war, den Atem und sein Lied geraubt hatte.

Ein goldener Cherubim stand im Hauptschiff neben den dunklen, spiegelblanken Kirchenbänken. Ein scharfer Duft von Weihrauch und Kerzenwachs – Sandelholz, Rosenöl und Trauer – erfüllte die Kathedrale. Stille breitete sich wie Watte aus und dämpfte die Geräusche, die von draußen hereinkamen, verstärkte aber dafür Dantes Herzschlag um ein Vielfaches.

Er sah auf. Bernsteinfarben standen auf einem gebogenen Deckenbalken die Worte SANCTUS SANCTUS SANCTUS. Ein Loch war in die goldene Decke gerissen, wodurch die ovalen Bilder Christus’, Marias oder irgendeines Heiligen zerstört worden waren. Sein Blick wanderte zu den zersplitterten Kirchenbänken auf der linken Seite des Hauptgangs. Hinter ihnen war die Spitze eines schwarzen Flügels zu sehen – wie ein fernes Segel am Horizont.

Dante rannte den schwarz-weiß gefliesten Boden entlang bis zur Mitte der Kathedrale, wo er schlitternd neben den zerstörten Bänken anhielt. Auf Teilen einer geborstenen Bank lag regungslos Lucien auf der Seite. Ein zerzauster Flügel war offen auf dem Boden ausgebreitet, das lange schwarze Haar verbarg sein Gesicht.

Dante stockte der Atem. Ein dicker, langer Holzsplitter hatte sich in Luciens Rücken gebohrt und war unterhalb des Brustbeins wieder ausgetreten. Blut befleckte die Spitze des Pfeils. Mit jedem langsamen Schlag von Luciens Herzen zitterte das Holz ein wenig, und Licht funkelte in dem X-Anhänger um seinen Hals.

Dante stürzte über den mit Holz und Mörtel übersäten Boden auf Lucien zu und kniete sich neben dessen regungslose Gestalt. Er streckte die Hand aus, um seinem Freund das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Seine Finger bebten. Er biss die Zähne zusammen, als er nach ihm fasste … Bilder explodierten in seinem Inneren, klar und eindringlich …

Gina mit einem schwarzen Strumpf um ihren Hals, ihre blinden Augen auf den leeren Gang gerichtet: Morgen wieder?

Jay mit Blut, das sich wie Flügel hinter ihm ausbreitete: Ich wusste, du würdest kommen.

Chloe, die an ihrem eigenen Blut erstickte und dabei die Hand nach Orem, ihrem Plüschorca, ausstreckte: Mein Dante-Engel. Schmerz bohrte sich unerträglich in sein Bewusstsein, dann verschwand dieses Bild wieder aus seinem Gedächtnis.

Er nahm wieder wahr, was um ihn herum geschah und setzte sich auf den schuttübersäten Boden, die Hand über Luciens vor seinem Blick verborgenem Gesicht erstarrt, während sein Herz hämmerte und sein Kopf wehtat.

Versprich mir, dass du mir nicht folgen wirst.

»Verdammt«, murmelte Dante und schob erneut Luciens Haar beiseite.

Blut rann aus mehreren Wunden in Luciens Gesicht und einem langen Schnitt an seinem Hals. Dante berührte seine Wange. Es überraschte ihn, dass seine Finger zu beben aufgehört hatten. Die Haut fühlte sich warm und trocken an.

Er beugte sich vor und presste die Lippen auf Luciens, wo er Tränen und Blut schmeckte.

Ich werde dich nicht verlieren. Der Gedanke kam ungehört zu ihm zurück. »Nein.«

Dante richtete sich auf die Knie auf und ergriff den blutbefleckten Pfeil. Vorsichtig begann er daran zu ziehen. Nach wenigen Augenblicken löste sich das Holz aus der Wunde, aus der prompt Blut zu sprudeln begann. Das Blut war so dunkel, dass es fast schwarz wirkte. Dante warf den Holzschaft beiseite. Er fiel auf eine Bank, und der Laut, den er dabei machte, hallte unheimlich in der Kathedrale wider.

Jetzt schlang er die Arme um Lucien und zog ihn an sich. Er hatte erwartet, sein Freund wäre schwerer, so dass sie beide beinahe auf den schmutzigen Boden fielen. Doch dann erinnerte er sich, wie mühelos sich der Engel vom Balkon in die Nacht gestürzt hatte, die schwarzen Flügel erst im letzten Moment entfaltend.

Als Lucien in seinem Schoß lag, presste Dante die Hände auf dessen Brustwunde. Blut floss heraus und verklebte seine Finger. Luciens Herzschlag wurde immer langsamer. Die Glut seines Liedes erstarb, das Feuer seines Rhythmus verglühte.

Dante führte seinen Arm an den Mund, biss sich ins Handgelenk und hielt es an Luciens Lippen. Blut lief herab, ohne dass Lucien auch nur einen Tropfen davon aufnahm.

»Trink, verdammt. Wage ja nicht …« Die Worte erstarben auf Dantes Lippen. Seine Schläfen begannen qualvoll zu pochen. Er schloss die Augen. Seine Brust schmerzte, als hätte er einen heftigen Schlag auf das Brustbein bekommen. Pein umhüllte sein Herz.

Ich werde nicht nutzlos herumsitzen und zusehen, wie noch jemand stirbt, der mir etwas bedeutet.

Aber genau das hatte er getan.

Ich wusste, du würdest kommen.

Dante öffnete die Augen und schlitzte seine heilenden Handgelenke erneut mit seinen Reißzähnen auf. Er trank sein Blut, bis es seinen ganzen Mund füllte. Dann beugte er sich über Lucien, küsste ihn und öffnete mit der Zunge die kühlen Lippen des Engels. Sein Blut rann wie Glühwein in Luciens Mund.

Dante atmete in Luciens Mundhöhle und versuchte, die Glut des Lieds mit karminrotem, heißem Leben wieder zu entfachen. Sein eigenes Lied floss in seinen Freund – geheimnisvoll, wild und wütend –, bahnte sich einen Weg durch Luciens Adern und Nervensystem und durchflutete ihn mit bläulichem Licht.

Er erinnerte sich an Luciens schwarze, samtige Flügel, die einen Stich ins Rote hatten. Er dachte an die Stärke seiner Knochen, an die Dicke der Krallen. Er erschuf Lucien neu, wie er ihn in Erinnerung hatte und webte dabei blaues Licht in den Kern seines Wesens, während er die Fäden löste und wieder verknüpfte.

Du wirst nie mehr allein sein, Kind.

Wie ein Schraubenzieher bohrte sich der Schmerz hinter Dantes linkes Auge. Sein Lied flammte auf, und er brannte gemeinsam mit ihm. Haut und Fleisch heilten. Knochen sprangen, wieder heil, an ihren angestammten Ort zurück. In der Membran der Flügel schlossen sich Löcher und Risse.

Wiederhergestellt? Neu erschaffen? Dante wusste es nicht.

Erschöpft und bebend beendete er den Kuss. Als er den Kopf hob, öffnete Lucien die Augen. In seinen Augen zeigte sich größte Verwirrung.

»Genevieve?«

Es war ein Name, den Dante noch nie gehört hatte, doch das war egal. Luciens Herz schlug wieder langsam und stark, und Leben funkelte wieder golden in seinen dunklen Augen.

»Mon ami«, wisperte Dante.

»Du siehst ihr so unfassbar ähnlich«, murmelte Lucien verträumt und strich mit einem Finger eine Strähne aus Dantes Gesicht.

»Wem?« Dante blickte Lucien verständnislos an. Plötzlich wurde ihm eiskalt, und die Freude gerann ihm wie altes Blut.

»Deiner Mutter.«

 

Heather stieg an der Ecke Royal/St. Peter aus dem Taxi. Sie drängte sich durch die Fußgänger und Mardi-Gras-Touristen, die die Straßen verstopften, und roch das Gemisch aus Bier, Schweiß und Kaugummi in der Luft.

Die Tür zum Club ging auf. Ein ferner Bassrhythmus verwandelte sich plötzlich in ohrenbetäubendes Dröhnen. Von trat heraus. Ihm folgte Simone, deren Gesicht vor Sorge gealtert wirkte. Von blieb stehen, als er Heather sah. Er hob die Hand zum Gruß. Diesmal zeigte sich kein wölfisches Grinsen auf seinen Lippen, er winkte sie nur mit einem undurchdringlichen Blick heran.

Heather überquerte die Straße. Mit jedem Schritt, den sie auf den Club zumachte, schwand ihre Hoffnung, dass Dante inzwischen zurück war. Es ängstigte sie zutiefst, sich vorzustellen, wie er allein auf der Suche nach Ronin durch die Straßen lief – übelgelaunt, gekränkt und nicht ganz bei sich. Sie hatte versprochen, ihm beizustehen, seine Verstärkung zu sein, und hatte es nicht geschafft.

Dante war nicht mit Jay aus dem Schlachthaus gekommen und sie nicht mit Dante.

Lauf so weit weg, wie du kannst.

Sie hatte das Gefühl, Dante sei sein Leben lang weggelaufen.

Heather trat neben den hochgewachsenen Nomad auf den Gehsteig. Auf seiner Sonnenbrille spiegelte sich blitzend das Licht, und seine Lederjacke schimmerte. Auch das Halbmond-Tattoo unter seinem Auge glänzte. Simone nickte grüßend. Aus der Nähe fielen Heather ihre Anspannung und die halb geballten Fäuste noch stärker auf.

»Dante ist nicht da, oder?«, fragte Heather.

Von zog die Brauen zusammen. »Scheiße. Ich hatte befürchtet, dass Sie das sagen würden. Ich und die anderen, wir hatten alle ein beschissenes Gefühl.« Er klopfte sich mit dem Finger gegen die Schläfe. »Und dann … nichts mehr. Was ist geschehen?«

Heather verspürte tiefe Enttäuschung und fühlte sich auf einmal unendlich müde. Sie biss sich auf die Lippe und sah weg. »Ronin hat ihm eine Falle gestellt«, sagte sie schließlich. »Jay ist tot und Dante …«

»Mon Dieu«, flüsterte Simone.

»Dieser Hurensohn!«, spie Von. »Er hat in meiner Gegenwart gelogen.« Seine Muskeln zuckten und wurden steinhart. Er strahlte plötzlich wahnsinnige Wut und Verachtung aus.

Von war viel mehr als ein Türsteher, mehr als irgendein Nomad-Vampir – und allein diese Tatsache brachte Heather fast aus der Fassung. Wie hatten ihn die anderen genannt? Lou Gott? Welche Rolle spielte er in der Gesellschaft der Nachtgeschöpfe?

Eine Ehre, von dir begleitet zu werden, Llygad.

»Wo ist Dante hin?«

Heather schüttelte den Kopf. »Er hat Etienne ermordet.« Der Nomad und Simone tauschten bei diesem Namen einen schnellen Blick aus. »Dann ist er auf und davon. Ich weiß nicht, wohin. Er war nicht ganz bei sich … Jay …« Sie brach ab, als sie wiederum großes Bedauern erfasste.

Sie war aus dem Schlachthaus gegangen und hatte Jay in einer bereits gerinnenden Blutlache auf dem kalten Betonboden zurückgelassen, noch immer in der blutbespritzten Zwangsjacke. Rasch war sie zu der Gasse neben dem Gebäude zurückgelaufen und hatte dort nach ihrem Handy gesucht, bis sie es gefunden hatte.

 

Sie starrt auf das Mobiltelefon. Sie muss die Polizei rufen, damit sie die Leichen abholt. Aber sie kann nicht auf die Bullen warten. Kann nicht herumstehen und warten, um Bericht zu erstatten. Sie muss Dante finden. Nachtgeschöpf oder nicht – er ist nicht in der Verfassung, es mit Ronin aufzunehmen.

Die Luft stinkt nach Etiennes verbrannter Leiche, seinen verbrannten Zöpfchen. Der Gestank hängt an ihr wie schlechter Weihrauch, sitzt in ihrem Trenchcoat und ihren Haaren.

Ihre FBI-Marke schimmert im Mondlicht wie Glimmer im Dreck. Fester Mut. Beharrlichkeit. Integrität. Es schnürt ihr den Hals zu. Sie tippt Collins Nummer ein. Als er abhebt, ruft sie sich ins Gedächtnis, dass er es nicht verdient, in diese Scheiße hineingezogen zu werden. Ihr Finger schwebt über der Taste, mit der man ein Gespräch beendet.

»Wallace?«

»Im Schlachthaus in der 1616 St. Charles gab es einen Mord. Zwei Tote.«

»Gut, warten Sie dort. Ich schicke Ihnen ein paar Einheiten«

»Ich kann nicht warten. Ich kann es noch nicht beweisen … aber Thomas Ronin hat eines der Opfer getötet.«

»Wow! Ronin … der Reporter? Der Ronin? Beweise? Zeugen? «

»Ein Zeuge. Aber den muss ich finden, ehe Ronin es tut.«

»Sagen Sie nur nicht, es ist Prejean.«

»Ich glaube, hinter dem CCK steckt eine Art Zweckgemeinschaft – und zwar Ronin und Elroy Jordan.«

»Warten Sie. Sie sprachen von zwei Toten.«

»Ja.«

»Ist Ronin auch für den zweiten verantwortlich?«

»Nein … keine Ahnung, wer den Mord begangen hat. Ich melde mich später wieder.«

Sie legt auf und schaltet das Handy auf lautlos. Dann schiebt sie es in die Manteltasche.

Sie ist erstaunt, dass das so leicht ging. Ihr Herz schlägt ganz normal. Ihre Handflächen sind trocken, und ihr Kopf ist klar.

Sie läuft die Gasse hinunter bis zu ihrer Marke, bückt sich und hebt sie auf. Sie streift den Schmutz ab und schüttelt den Kies auf der Plastikhülle. Fester Mut. Beharrlichkeit. Integrität. Sie mustert die Marke.

Sie erinnert sich an Dantes heiseren Schrei.

Etwas brennt in Heathers Augen. Sie blinzelt, bis das Gefühl verschwindet. Sie lässt die Marke in ihre Tasche fallen und verlässt die Gasse. Sie muss ein Versprechen halten.

 

Eine Hand drückte Heathers Schulter. Sie schreckte überrascht zurück und sah ruckartig hoch – in sommergrüne Augen. Von schaute sie über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg fragend an.

»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Tut mir leid.«

Der Nomad zog die Hand zurück. »Hat Dante etwas gesagt? «

Ja. Lauf so weit weg, wie du kannst.

»Er hat De Noir erwähnt, aber ich habe keine Ahnung, warum.«

Simone sog vernehmlich die Luft ein. In Vons Kiefer zuckte ein Muskel. »Wir haben auch zu Lucien den Kontakt verloren«, erklärte er grimmig.

»Er hat außerdem mehrmals hintereinander Sanctus gesagt«, sagte Heather. »Ich glaube, das ist Latein für ›heilig‹, aber ich weiß nicht, was er damit gemeint haben könnte. Er war sehr verstört und verletzt.«

Von warf einen Blick die Straße entlang und strich sich dabei nachdenklich über seinen Schnurrbart. Er neigte den Kopf zur Seite, als lausche er. Nach einem langen Moment sagte er schließlich: »Dante bat Trey, alles über unseren verlogenen Freund Mister Ronin und seinen unheimlichen Begleiter im Internet zusammenzutragen, was er finden kann.« Er richtete den Blick auf Simone. Sie sah ihn schweigend und mit bleichem Gesicht an.

Sie kommunizieren irgendwie. Heather sah von einem zum anderen und kam sich ausgeschlossen, außen vor und allein vor.

Simone nickte. Sie richtete ihren Blick auf Heather und lächelte. »Wir sollten zu uns nach Hause fahren und mit mon frère sprechen. Er wird wissen, wo Dante ist.«

»Können Sie ihn nicht anrufen?«, fragte Heather. »Oder mit ihm reden?« Sie tippte sich an die Schläfe.

Simone lachte. »Sie haben sich ganz schön verändert, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Er hört nichts, wenn er online ist. Kommen Sie.«

»Scheiße.« Heather rieb sich das Gesicht, sie war so erschöpft, dass sie kaum mehr klar denken konnte. »Na gut. Aber wir werden Ronins Adresse erfahren und uns dann das Arschloch schnappen?«

In Simones dunklen Augen loderte ein Feuer. Sie öffnete den Mund und entblößte die Spitzen ihrer Reißzähne. »O ja«, sagte sie.

 

»Du kanntest meine Mutter?«

Lucien, der von der Energie des Creawdwr in seinem Körper noch ganz benommen war, blickte in Dantes ungläubig blickende, golddurchsetzte Augen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er laut gesprochen und nicht geträumt hatte, als er die Augen geöffnet und das schöne Gesicht seines Sohnes gesehen hatte.

Dante schüttelte seine Hand ab und glitt unter ihm heraus, um aufzustehen. Blut troff aus seiner Nase. Er begann zu zittern. Seine Aura sprühte vor Zorn, während seine Erschöpfung sie an den Rändern verdunkelte.

»Kind, hör zu, ich war …«

»Du hast sie die ganze Zeit über gekannt und nie ein Wort gesagt?«

Lucien kämpfte sich hoch, seine Flügel flatterten hinter ihm. Seine geheilte – oder wiedererschaffene – Haut fühlte sich weich an. Er schmeckte Dantes dunkles, süßes, berauschendes Blut in seinem Mund.

Kind, wie viel von dir selbst hast du in mich fließen lassen?

»Ich wollte den richtigen Zeitpunkt abwarten«, antwortete er.

»Wie wäre es mit der Nacht gewesen, als wir uns kennengelernt haben?«, entgegnete Dante mit heiserer, ärgerlicher Stimme. »Hm? Warum nicht damals?« Seine Augen richteten sich auf den Anhänger um Luciens Hals. »Scheiße!« Er sah weg, wobei ein Muskel an seinem Kiefer zuckte. Geistesabwesend wischte er sich die Nase ab und verschmierte so Blut auf seinem Handrücken und im Gesicht.

Mit wedelnden Flügeln stand Lucien auf. Eine kühle nächtliche Brise fuhr durch die Kirche. Der starke Geruch nach Weihrauch und Wachs war für einen Moment nicht mehr wahrzunehmen.

Lucien erinnerte sich an den Schmerz, der durch seinen Geist gefahren war und ihn hatte abstürzen lassen. Er erinnerte sich an den Zorn und die Trauer, die durch die Verbindung zu ihm herüber geflossen war, und dann erinnerte er sich mit einer solchen Klarheit, dass ihm beinahe das Herz stehen blieb: jemand hatte Dantes Schilde mutwillig durchbrochen.

»Warum zum Teufel hast du nichts gesagt?«

»Du hattest schon so viel zu verdauen«, erklärte Lucien mit einer leisen, beruhigenden Stimme. »Ich wollte dir nicht noch mehr aufhalsen.«

Dante kniff die Augen zusammen und schüttelte sich.

»Lass mich dich heimbringen«, sagte Lucien und ging auf ihn zu. Unter seinen Füßen brach Holz. »Du bist verletzt, erschöpft. Dante, s’il te plaît

Da sah Dante ihn mit funkelnden Augen an, seine bleiche Miene wirkte eiskalt. »Wie hieß sie … Genevieve wie noch?«

»Ich erzähle es dir später, nach dem Schlaf. Ich glaube, dir ist nicht bewusst, wie verletzt du bist.«

»Nein!«, rief Dante. »Sag es mir, verdammt! Wie heiße ich?«

Lucien seufzte. »Baptiste.«

»Baptiste«, wiederholte Dante. Das Licht in seinen Augen erstarb. Er wankte und hielt sich an einer der Kirchenbänke fest. »Genevieve Baptiste.«

»Lass mich dich nach Hause bringen.« Lucien trat noch einen Schritt auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin.

Dante sah ihn an, und Luciens Herz verkrampfte sich. Er sah wieder den hungrigen, tief verletzten Fremden am Anlegesteg vor sich – den schönen, lebensgefährlichen Jungen, der ihn ohne mit der Wimper zu zucken bis zum letzten Blutstropfen leergetrunken hätte.

Sein Freund, sein Kind, sein Gefährte war verschwunden. Der Anhänger mit dem X brannte wie Trockeneis auf seiner Haut.

»Kanntest du auch meinen Vater?«

»Dante … genug. Nicht jetzt.«

In diesem Augenblick wirbelte eine Böe aus regennasser Luft, vermischt mit dem Geruch von Nelken und altem Leder, in die Kirche. Plötzlich stand Von neben Dante. Der Nomad sah zu dem Loch in der Decke hinauf und stieß einen leisen Pfiff aus.

»Heiliger Strohsack! Da wird aber jemand ganz und gar nicht glücklich sein, wenn er die neue Klimaanlage hier sieht!«

Vons Augen wanderten von der zerschmetterten Decke zu den blutigen Kirchenbänken und dann zu Lucien. Nachdenklich strich er sich den Schnurrbart glatt. Dann sah er Lucien eine Weile lang an. Offenbar spürte und roch der Llygad die Spannung, die zwischen ihm und Dante herrschte. In seinem Blick lagen Fragen, die er aber nicht aussprach.

Von schaute zu Dante. »Geht es dir gut?«

Dante schüttelte den Kopf. »Je ne sais pas.«

»Ich habe das von diesem Arschloch Ronin gehört«, sagte Von, »und von Jay. Es tut mir leid, Mann.«

Dante sah weg, sein Kiefermuskel zitterte, sein Körper zuckte, ja bebte regelrecht vor Empörung. Blut rann aus seiner Nase.

Lucien richtete sich auf, denn die Worte des Nomad überraschten ihn. Was war geschehen, seit er nach St. Louis Nr. 3 geflogen war und sich mit Loki auseinandergesetzt hatte? Hatte Ronin Dantes Schilde zerstört und seine Erinnerungen freigesetzt?

Mit gerunzelter Stirn legte Von seine Hand auf Dantes Stirn. »Du glühst ja.«

»Ich könnte für immer glühen und in Flammen stehen, Llygad , und es würde doch nicht reichen.«

Lucien spürte, wie Von nach Dantes schutzlosem Bewusstsein griff. »Nein!«, rief er.

Von riss jäh die Hand zurück und wich taumelnd einen Schritt zurück. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Mit zitternder Hand berührte er seine Schläfe und starrte Dante erschüttert an.

Dante erwiderte seinen Blick. Seine dunkle Iris war golddurchwirkt und karminrot gesprenkelt. Er trat einen Schritt vor und legte seine blutverschmierte Hand auf die Schulter des Llygads.

»Später, mon ami

Zu Lucien sagte er nichts.

Stattdessen zog er die Hand zurück, drehte sich auf dem Absatz um und ging durch das Kirchenschiff zurück zum Portal. Als er auf die breite Doppeltür zueilte, streckte er beide Arme aus und strich mit den Fingern über die Bänke, an denen er vorbeikam.

Lucien beobachtete ihn mit zugeschnürter Kehle. Dantes verschleierter Blick, der gewirkt hatte, als kannten sie einander nicht, hatte ihm fast das Herz gebrochen. Wenn Dante ihm nicht vergab, würde er ihm nicht beibringen können, wie er seine Gaben als Creawdwr nutzen konnte. Wenn er ihm nicht verzieh, würde er seinen Sohn nicht lehren können, wie er diese Begabungen verbarg. Er hatte gehofft, mehr Zeit zu haben. Oder den richtigen Zeitpunkt abpassen zu können. Aber Lokis Auftauchen besagte, dass ihnen keine Zeit mehr blieb. Selbst einsam und unverziehen musste er alles in seiner Macht Stehende tun, um Dante vor den Augen der Elohim zu verbergen.

Von fuhr herum und wollte Dante nacheilen.

»Warte«, sagte Lucien. »Lass ihn. Er muss jetzt allein sein.«

»Machst du Witze? Er ist total am Arsch.«

Lucien legte die Hand auf die Schulter des Nomads und drückte sie mit seinen Krallen. Dann starrte er auf seine Hand.

Die Klauen schienen dicker zu sein und waren von blauen Fäden durchzogen. Er blickte auf, als Dante gerade das Kirchenportal und die Menge erreichte, die sich auf der Schwelle der Kathedrale versammelt hatte.

Er hörte das inbrünstige Flüstern der Sterblichen: »L’ange de sang … l’ange de sang.«

»Er soll seinem Zorn freien Lauf lassen«, sagte Lucien. »Dann kannst du ihn holen, ihn heimbringen. Er braucht Schlaf

Dante lief durch die Menge der Sterblichen, als bemerke er sie gar nicht – wie ein letzter Traum kurz vor dem Erwachen. Die Leute sahen ihm nach, als er die Stufen hinabging und in seinen MG stieg. Sie betrachteten ihn entgeistert, aber voll Bewunderung. Er war wie ein wahrer Unsterblicher durch sie hindurch geschritten – wie ein wahrer Blutgeborener, und dafür verehrten, ja liebten sie ihn.

Von befreite sich so heftig aus Luciens Griff, dass zwischen dessen Klauen Fetzen seiner Lederjacke zurückblieben. Er sah Lucien mit seinen grünen Augen interessiert an. Kerzenlicht und Schatten flackerten über sein Gesicht. Dann warf er einen Blick auf das gähnende Loch im Dach der Kathedrale.

»Muss ein verdammt schmerzhafter Sturz gewesen sein«, sagte er.

Luciens Finger legten sich um das X um seinen Hals. Er nickte. »Ja.«

Der Nomad nickte auch, wandte sich dann um und ging durch das Kirchenschiff zum Ausgang. Er schlängelte sich durch die Menge, die das Wesen mit den dunklen Flügeln unter dem beschädigten Kathedralendach fassungslos anstarrte. Kurz darauf war Von nicht mehr zu sehen.

Lucien hielt sich an der geschwungenen Rückenlehne einer Kirchenbank fest. Er konnte Dante durch ihre Verbindung jederzeit finden, ganz gleich, ob der Junge ihm antwortete oder nicht. Es stimmte, was er Von gesagt hatte: Dante musste erst einmal allein sein. Er musste seinem Zorn freien Lauf lassen. Aber andererseits brauchte er jetzt dringend einen Freund an seiner Seite – der ihn durch diesen Zorn hindurch begleitete und ihm half, ihn auch zu überleben.

Aber dieser Freund würde nicht er sein. Vermutlich nie mehr.

Mit einem lauten, scharfen Knacken zersplitterte das Holz der Bank unter seiner Hand.