23

FEUERSTURM

Sie steht neben ihm, kleine Finger klammern sich an seine Hand, unter den anderen Arm hat sie den Plüschorca geklemmt. Ihre blauen Augen sind für eine Achtjährige zu direkt. Rotes Haar umrahmt ihr sommersprossiges Gesicht.

Ich jage sie in die Hölle, Chloe. Versprochen.

Was ist mit dir?

Ich brenne schon lichterloh.

Chloes Körper verschwimmt, ihr Bild wird schwächer. Ihre warmen Finger entgleiten ihm.

Das ist nicht genug, Dante-Engel.

 

»Ich weiß«, flüsterte Dante und schaltete in den vierten Gang. Sein Fuß trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Motor heulte. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos verschwammen, blauweiße Schlieren durchzogen die Nacht.

Er konnte sich nicht erinnern, in den Wagen gestiegen zu sein. Konnte sich nicht erinnern, wie er den Zündschlüssel gedreht hatte und wusste auch nicht, wohin er fuhr. Er erkannte die Straße nicht. Eines aber wusste er:

Die Stimmen waren verstummt.

Du kannst ihn noch retten, Blutgeborener.

Mon ami, es tut mir leid …

Wie fühlt sich das an, marmot?

Er fragte sich, ob er schneller als der Schall fahren konnte.

Eine Hupe ertönte, ein langer, wütend klingender Ton. Jenseits der Windschutzscheibe verschwand eine gelbe Doppellinie unter dem MG. Licht kreiste vor ihm, wurde größer, heller als ein UFO. Wieder war eine Hupe zu hören. Dante riss das Steuer nach rechts und schwenkte wieder auf seine eigene Fahrbahn.

Schweiß lief ihm über die Stirn. Draußen brauste die Nacht vorbei. Die Gangschaltung zitterte unter Dantes Fingern. Er schmeckte Blut.

Du siehst ihr so unfassbar ähnlich.

Ein Faust umschloss Dantes Herz. In seiner plötzlich wie zugeschnürten Kehle rasselte der Atem. Er verdrängte das Bild von Luciens Gesicht. Versuchte, den Anblick zu vergessen, wie er schwer verletzt ausgestreckt auf dem Boden der Kathedrale gelegen hatte.

Gut, dass er gefesselt ist … verdammt! Was brüllt er denn?

Die gelben Trennlinien zwischen den Fahrbahnen des Highway verschwammen, schienen sich zu verdoppeln. Mit brennenden Augen blinzelte Dante. Ein blaues Neonrechteck schimmerte auf der Windschutzscheibe auf. Zerrann. Verdoppelte sich. Buchstaben und Zeichen wirbelten durch die Rechtecke, aber Dante konnte sie nicht deuten.

Er stellt eine sehr laute, sehr eindeutige Forderung.

»Tötet mich.«

Dante blinzelte und versuchte, die springenden, wirbelnden Buchstaben in dem immer breiter werdenden blauen Rechteck zu entschlüsseln. Wörter. Ein Zeichen.

Tu es. Er ist zu gefährlich. Verfluchter kleiner Psycho.

Das blaue Rechteck verwandelte sich in ein Neonschild an der Straßenseite, auf dem TAVERN stand.

Wenn du das nochmal sagst, werde ich dich diesem verfluchten kleinen Psycho überlassen.

Er riss das Steuer nach rechts und schaltete den Gang herunter, bis er mit quietschenden Reifen auf den kiesbedeckten Parkplatz vor der Kneipe fuhr. Steinchen und Staub wirbelten unter seinen Reifen auf. Einige Pick-ups, ein paar aufgemotzt aussehende Nomad-Motorräder und ein alter Chevy mit aufgemalten Flammen standen vor dem verfallen aussehenden Gebäude.

Über einer flatternden Neonkrähe stand in Rot AS THE CROW FLIES.

Dante parkte den MG gegenüber den anderen Fahrzeugen, wobei er seitlich auf seinen Parkplatz schlitterte. Er schaltete ihn aus und steckte die Schlüssel ein. Einen Augenblick lang hörte er nur sein heftig pochendes Herz. Dann glaubte er, das zerbrochene Fenster in seinem Inneren mit Brettern aus Zorn und Blut zunageln und verbarrikadieren zu können. Dann wäre sein Herz eingesperrt und mit Fetischen geschützt.

Ich wusste, du würdest kommen.

Du siehst ihr so unfassbar ähnlich.

Zumindest einen Augenblick lang.

Dann verfaulten die Bretter, und die Nägel verwandelten sich in summende Wespen. Der Käfig brach in sich zusammen, und die Fetische stellten sich als billige Fälschungen heraus.

Pssst. Je suis ici.

Blut troff auf seine Hand, rann in seine Kehle. Sein Kopf tat weh. Weiße Lichtblitze umgrenzten sein Sichtfeld.

Es musste mehr Schmerz sein.

Ich brenne schon lichterloh.

Das ist nicht genug, Dante-Engel.

Dante schnappte sich eine Sonnenbrille aus dem Handschuhfach, setzte sie auf und stieg aus. Trinken. Ich muss trinken. Kies knirschte unter seinen Stiefelsohlen. Als er auf den Eingang der Kneipe zuging, ging dieser auf, und Licht fiel auf den Parkplatz.

Zwei Nomads in staubigen Lederklamotten und mit angewiderten Gesichtern traten heraus. Gelächter und fröhliche Zydeco-Musik folgten ihnen in die Nacht.

»Gottverdammte Penner«, brummte einer der beiden, ein Mann mit einer gewaltigen Haarmähne, und spuckte angewidert aus. In seinen Ohren und Augenbrauen und um seinen Hals schimmerte es silberfarben. Ein schwarzes V in Form eines fliegenden Vogels war in seine rechte Wange tätowiert.

Der Raben-Clan, dachte Dante, der sich daran erinnerte, was ihn Von gelehrt hatte. Raben und Nachtwölfe reisten des Öfteren zusammen, um sich gegenseitig zu beschützen, falls es nötig sein sollte.

Die Frau neben ihm hatte Dreadlocks und auch ein schwarzes V über der rechten Wange. Sie musterte Dante von Kopf bis Fuß. Auf ihren Lippen zeigte sich ein Lächeln, und ihre Augen blitzten.

»Das ist nicht deine Sorte Bar, Nachtwanderer«, sagte sie und trat von der Türschwelle. Ihr Lächeln verschwand, als sie ihn näher ansah. »Bist du verletzt?«, fragte sie hilfsbereit.

Dante griff nach der Tür, ehe diese ins Schloss fiel. Wärme, Alkohol, Tabak und Schweißgeruch schlugen ihm entgegen. Sein Kopf pulsierte schmerzhaft.

»Vielleicht«, antwortete er. Dann trat er ein. Hinter ihm fiel die Tür zu. Einen Augenblick später hörte er das tiefe Dröhnen von Motorrädern, als die zwei Nomads den Parkplatz verließen, wobei sie eine Wolke aus Kies und Staub aufwirbelten.

»Terry, schau dir den an! Glaubst du, der hat sich verlaufen? «

»Mann! Zuerst Nomads und jetzt der restliche Abschaum aus der Bourbon Street. Dieser Laden hier verkommt immer mehr, wie es scheint!«

Dante warf den beiden Sprechern einen Blick zu. Es waren zwei Sterbliche mit Baseballkappen und fleckigen T-Shirts, die an einem Tisch im hinteren Teil der Gaststätte hockten. Eine Wolke abgestandenen Rauchs hing über ihnen. Einer der Kerle lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah Dante an. Mit seinem hässlichen Grinsen wollte er Dante anscheinend signalisieren, er solle es ja nicht wagen, etwas zu entgegnen.

Zwei weitere Sterbliche standen um einen Billardtisch. Sie hatten Queues in der Hand und starrten Dante ebenfalls an. Einer von ihnen hatte einen Bierbauch, während der andere athletisch gebaut war. Ihn umgab eine spürbare Aura gewalttätiger Energie, durchsetzt mit einer gehörigen Dosis Testosteron.

»Schau dir den Kragen an«, meinte der Kraftprotz zum Bierbauch. »Leine sehe ich aber keine. Muss davongelaufen sein. Man sollte das Tierheim benachrichtigen.« Er lachte selbstzufrieden über seinen Witz und gab dem Bierbauch einen Stoß in die Seite. »Das Tierheim benachrichtigen, verstehst du?«

Dante sah in eine andere Richtung und schlängelte sich an den leeren Tischen und Stühlen vorbei zur Theke. Die Barfrau schaute auf, als er näherkam. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Besorgnis und Misstrauen. Sie war mit ihrer gebräunten Haut, den grünen mandelförmigen Augen und dem dunklen lockigen Haar eine typische Bewohnerin von New Orleans. Das wahre Herz Louisianas.

Sie berührte das Geschirrtuch, das sie über der Schulter hängen hatte. Auf den Regalen hinter ihr standen Flaschen mit Alkoholika, die teilweise ausgefallene Aufkleber und faszinierende Farben aufwiesen.

Dante blieb vor der Theke stehen und musterte die Flaschen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Frau. Auf ihrem Namensschild, das an ihrem KRÄHENNEST-T-Shirt hing, stand »Maria«.

»Tequila. Oder Bourbon. Was auch immer näher ist.« Dante fasste ihn die Jackentasche und holte ein Bündel zerknitterter Geldscheine heraus, das er auf die Theke warf.

»Geht es Ihnen gut? Ihre Nase blutet.«

»Kann ich mir irgendwo kurz das Gesicht waschen?«

»Klar.« Maria wies auf einen kurzen Gang auf der rechten Seite der Gaststätte.

Dante stieß sich von der Theke ab und ging einem Pfeil nach, auf dem TOILETTEN stand, bis er in ein heruntergekommenes Männerklo mit fleckigen Pissoirs, beschmierten Wänden und dem Gestank nach altem Urin kam.

Hoch über den Urinalen befand sich ein kleines Fenster, das zu klein war, um sich hindurchzuzwängen, wenn man seine Rechnung nicht bezahlen oder einer schrecklichen Verabredung entfliehen wollte. Dante ging zu dem angeschlagenen Waschbecken und drehte das Wasser auf. Er setzte die Sonnenbrille ab, die er sich vorne ins Shirt schob, ehe er die Hände unter dem Wasserstrahl rieb und sich über das Becken beugte und das Gesicht mit Wasser bespritzte.

Er stand innerlich in Flammen. Irgendwie erwartete er fast, das Wasser werde zischen und dampfen, wenn es ihn berührte. Doch stattdessen war es so kalt, dass es ihm fast den Atem nahm. Er hielt sich an den Seiten des Waschbeckens fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, während rötliches Wasser in den Ablauf floss.

 

Dante? Mir ist kalt. Darf ich zu dir ins Bett?

Komm her, Prinzessin. Schmieg dich an mich. Ich würde dich ja in den Arm nehmen, aber …

Weshalb fesselt dich Papa Prejean denn nachts mit Handschellen?

Weil ich nachts nicht schlafe. Der Arsch glaubt, ich würde alle umbringen, wenn sie in ihren Betten liegen und schlafen.

Würdest du?

Ja. Wahrscheinlich.

Dante-Engel, wenn ich den Schlüssel finden und dich losmachen würde, würdest du mich dann mitnehmen, wenn du gehst?

Eine immer größer werdende Blutlache breitet sich um Chloes blasses Gesicht aus. Wie ein Heiligenschein. Ihre halboffenen Augen fixieren den Orca, der knapp außerhalb ihrer Reichweite liegt.

Ich würde nie ohne dich weggehen, Prinzessin. Nur du und ich …

Fleischerhaken, von Ketten umwickelte Fußknöchel, nackte Füße. Im Haken spiegelt sich Licht.

Für immer und ewig.

 

Wasser spritzte ins Becken und auf Dantes Fingerknöchel. Seine Muskeln zogen sich zusammen. Er starrte ins Becken.

Sie vertraute dir, Junge. Ich würde sagen, sie hat es nicht besser verdient.

Züngelnd griff quälender Schmerz nach seinem Herzen. Er hob den Kopf und musterte sich im Spiegel, ohne sich zu erkennen. Das bleiche Gesicht, der verschmierte Kajal um die Augen und das feuchte zerzauste Haar gehörten natürlich zu ihm, aber sein Ausdruck war kalt, distanziert und gnadenlos, während seine Augen vor Wut rot durchzogen waren.

Hat Lucien das gesehen?

Bestürzt senkte er den Kopf. Nein, der stechende Schmerz in den Schläfen reichte noch lange nicht aus. Nicht mal annähernd. Aber wie er es versprochen hatte, würde er nicht allein lichterloh brennen. Unter anderen würde auch der Voyeur in Flammen stehen. Etienne war bereits zu Asche zerfallen.

Er trocknete sich das Gesicht mit einem braunen Papierhandtuch ab, setzte die Brille wieder auf und verließ die Männertoilette. Als er auf die Theke zuging, stieg ein vertrauter Geruch in seine Nase, Brut und Seife und noch einer: Er roch chemische Putzmittel und finstere Geheimnisse. Er ging langsamer, während er sich an ein träges Lächeln und ein Zwinkern erinnerte.

Führen Sie ihn ab. Sperren Sie ihn ein. Er wird garantiert in kürzester Zeit selig schlummern.

Was zur Hölle tun die hier? Kein Zufall. Gewiss nicht.

Dante ging an den Detectives vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Er blieb an der Theke stehen. Maria goss eine goldene Flüssigkeit in ein Gläschen.

»Sie haben fast achtzig Dollar auf dem Tresen liegen gelassen. «

»Behalten Sie zwanzig für sich«, sagte Dante und nahm das Glas, »und lassen Sie mich wissen, wann ich den Rest verbraucht habe – ja?«

»Klar, Süßer.« Sie tippte sich mit dem Finger an die Nase und sah ihn bedeutungsvoll an. Dann gab sie ihm eine Papierserviette.

Er nahm sie und hielt sie sich an die Nase. Die Serviette war rot, als er sie musterte.

»Scheiße.« Er leerte den Tequila in einem Zug. Er brannte im Hals und ließ den Blutgeschmack verschwinden. Langsam lief Schweiß über seine Schläfen.

Dante-Engel?

Für immer und ewig, Prinzessin. Für immer und ewig …

Eine ölige Stimme hinter Dante rief: »Für mich und Davis ein Abita, Liebling! Jetzt schau mal einer an! Ist die Welt nicht ein Dorf?«

Dante stellte das leere Glas auf die Theke.

»Wie läuft’s so, Rockgott? Comment ça va, eh?«

Als Maria Dantes Glas wieder füllte, sah er nach rechts. Arschloch LaRousse saß auf einem Barhocker, ein hämisches Grinsen im Gesicht. Er hielt etwas, was verdächtig wie ein Haftbefehl aussah, in der Hand.

»Man muss echt Glück haben«, sagte er. »Wir waren gerade bei Ihnen. Aber Sie waren nicht da. Dann haben wir zufällig Ihren Wagen auf dem Parkplatz entdeckt.« Er knallte den Haftbefehl auf die Theke. »Sind Sie ganz einsam und allein hier?«

Dante hob eine Hand und winkte ab. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das erneut gefüllte Glas, das er nahm und in einem Zug leerte.

»Unreiner als die Erbsünde, dieser Junge. Kannst du mir glauben«, sagte Arschloch so laut zu seinem Kollegen, dass alle in der Gaststätte es bestimmt hören konnten. »Der ganze Dreck, den ich in seiner Jugendstrafakte entdeckt habe – Wahnsinn! Kein Wunder, dass die nicht zugänglich war.«

Dante stellte langsam das Glas ab. Er hielt sich an der Kante der Theke fest, damit seine Hände nicht zitterten. Selbst er hatte keine Ahnung, was in dieser Akte stand. Sein Gedächtnis reichte nur einige Jahre zurück, und selbst da gab es Lücken. Verdammt, er wusste nicht mal, wie alt er war.

»Mensch«, sagte Maria verärgert. »Wenn Sie ihn verhaften wollen, dann machen Sie das draußen.«

»Ein kleiner Ratschlag, Zuckerpuppe«, sagte das Arschloch mit einer betont lieblichen Stimme. »Scher dich um deinen eigenen Dreck.«

Maria musterte Dante verstohlen, während sie einen Bierkrug am Zapfhahn füllte. Er sah sie an und schüttelte den Kopf.

»Sechzig Pflegefamilien, zweimal in der Klapsmühle«, sagte LaRousse im Plauderton, wobei er klang, als müsse er jeden Moment kichern. »Begriffe wie ›Schizophrenie‹ und ›lebensgefährlich‹ kamen da drin vor. Ein verschwundenes kleines Mädchen und … ach ja, das Haus der Pflegefamilie ist samt den Pflegeeltern abgebrannt. Das werden die Prejeans gewesen sein.«

Dante wandte LaRousse den Kopf zu. Der Detective erwiderte seinen Blick. Seine Miene war hart, und kaltes Licht schimmerte in seinen Augen.

»Sie sind ein gottverdammter Lügner«, sagte Dante. Sein hämmerndes Herz jedoch flüsterte: Vielleicht auch nicht.

»Meinst du?« Das Arschloch kam näher. »Dann würde mich nur eines interessieren: Weiß diese hübsche FBI-Tussi eigentlich, dass sie einen herzlosen Irren beschützt?«

Dante schlug mit der geballten Faust mitten in LaRousses Gesicht.

 

»Wer hat Sie gezeugt?«

Simone sah Heather einen Augenblick lang an. Ihr bleiches Gesicht schimmerte durch die Beleuchtung des Armaturenbretts im Van grünlich. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Straße zu.

»Sie meinen zu einem Nachtgeschöpf gemacht, oui? Davon reden Sie doch, oder?«

»Ja.«

Heather hätte sich nie träumen lassen, einmal eine solche Frage zu stellen. Sie hatte bis vor kurzem ja keine Ahnung gehabt, dass es Vampire außer in Horrorfilmen oder Goth-Clubs wirklich gab. Sie hätte nie gedacht, dass die Untoten neben den Sterblichen existierten, arbeiteten, sich ernährten.

Aber nachdem sie Dante beobachtet hatte, nachdem sie auf Ronin geschossen hatte, nachdem sie gesehen hatte, wie Teile von Etiennes Körper versuchten, den flackernden Flammen zu entkommen, waren ihre Skepsis, ihre Zweifel verschwunden, und ihre Weltsicht hatte sich grundlegend verändert. Sie wollte nicht aus dem Beifahrerfenster in die Nacht hinausblicken. Sie wollte nicht wissen, was da draußen vielleicht im Dunkel neben der Straße lauerte, die Augen voller Mondlicht, den Mund voll scharfer Zähne.

Simone seufzte. »Eine Freundin der Familie, kurz nach Papas Begräbnis.«

»Wollten Sie es?«

Die Blondine schüttelte den Kopf. »Sie ließ mir keine Wahl.«

Simones Miene verdüsterte sich kaum sichtbar. Ihre Hände hielten entspannt das Steuer, und in ihrer Stimme war keinerlei Verbitterung zu hören. Wenn ihr eine Freundin der Familie so etwas angetan hätte, wäre Heather bestimmt nicht eher zur Ruhe gekommen, bis sie diese gefunden und … ja, was und? Ermordet hatte? Sie dazu gezwungen hatte, es rückgängig zu machen? Vielleicht hatte Simone Zeit gehabt, sich mit der neuen Sachlage abzufinden.

Wie konnte man sich damit abfinden, Vampir zu sein? Wie gewöhnte man sich als Sterblicher an die Tatsache, plötzlich unsterblich zu sein?

»Was ist mit Ihrem Bruder?«

»Er war das einzige Familienmitglied, das mir noch geblieben war«, antwortete Simone mit eindringlicher Stimme. »Ich habe ihm die Entscheidung überlassen. Wenn er abgelehnt hätte, hätte ich mich wahrscheinlich verbrannt.«

»Sie haben Ihren Bruder selbst in einen Vampir verwandelt?«, fragte Heather verblüfft.

»Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, zusehen zu müssen, wie er schrittweise älter wird und irgendwann stirbt.«

Heather dachte an Kevin, an Annie. Hätte sie dasselbe tun können? Sie ihrer Menschlichkeit berauben? Oder hätte sie sie alt werden lassen? Sie einen nach dem anderen neben Mama beerdigt? Der Gedanke schnürte ihr einen Moment lang den Hals zu.

»Wie funktioniert dieser Untod? Dantes Haut fühlt sich warm an. Er hat einen Puls, und er steckt voller Leben.«

Simones Mundwinkel zuckten, ehe sie das Lächeln unterdrückte. »Oui, Dante ist voll mit allem Möglichen.«

Heather starrte sie an. Ihre Schultern verspannten sich. Sie erinnerte sich, wie sich Dante auf dem Podest über Simone gebeugt, ihr etwas ins Ohr geflüstert und ihr Haar berührt hatte. Sie hatte den Verdacht gehegt, die beiden seien früher einmal mehr als Freunde gewesen. Traf das möglicherweise immer noch zu?

»Wir sind nicht untot«, sagte Simone. »Wir sind eine andere Art. Wir haben immer neben den Sterblichen her gelebt.« Sie sah Heather an und schmunzelte.

»Was ist mit Dante? Wissen Sie, wer ihn gezeugt hat?«, wollte diese wissen.

Simones Finger klammerten sich fester um das Steuer. »Nein. Er hat es nie gesagt.« Sie warf ihr einen Blick zu. »Ich glaube, er weiß es selbst nicht. Vielleicht hat er die Erinnerung verdrängt. « Auf ihrem Gesicht zeigte sich stille Trauer.

»Wie so vieles andere«, meinte Heather. »Verborgen hinter seinen Kopfschmerzen.«

Oder war er das, als was Ronin ihn bezeichnet hatte – ein Blutgeborener? Als Vampir geboren?

Sie hieß Chloe, und du hast sie getötet.

Ronins leise, autoritäre Stimme drängte sich wie ein Wurm in Heathers Gedanken. Konnte es sein, dass Dante sich nicht an seine Vergangenheit erinnern konnte, weil er Schreckliches getan hatte? Weil er es nicht ertrug, sich zu erinnern?

Hegte Ronin deshalb die Absicht, Dante aufzuwecken, weil er etwas in ihm auslösen, ihn steuern und auf die Menschheit loslassen wollte? Aber wenn Dante durch etwas gesteuert werden konnte, würde das dann nicht auch bedeuten, dass er programmiert worden war?

Würde das nicht wiederum heißen, dass man sein Gedächtnis absichtlich zerstört hatte? Brachten bestimmte Fragen unterschwellige Schutzschilde zum Schwingen, und verursachte das die Migräne? Was wiederum zu unbewussten Handlungen oder zu Wahnsinn führen konnte?

Heathers Herzschlag hallte in ihren Ohren wider und verdrängte die Geräusche des Asphalts unter den Reifen des Transporters. Es klopfte im selben hektischen Rhythmus wie die Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen: Schon seit Jahrzehnten gab es geheime Gehirn-Experimente, die von der Regierung finanziert und dem FBI bewacht wurden.

Sie hörte Stearns’ Stimme: Er geht Sie nichts mehr an. Aber das bedeutete, dass er jemand anderen anging. Wen? Welchen Dienst? Wie tief reichte das Ganze?

Sie blickte aus dem Fenster. Ihre blasse, nachdenklich-müde Miene verbarg die Nacht. Die Schatten und was sich vielleicht in ihnen verbarg erschien ihr nicht mehr beängstigend. Jedenfalls nicht im Vergleich zu dem Ort, wohin sie ihr Verdacht geleitet hatte – ein Ort, der sowohl sehr dunkel als auch sehr real war.

Dante saß zwischen allen Stühlen, ja war möglicherweise sogar dazwischen verloren. Heathers Fäuste ballten sich. Nicht, wenn sie ein Wörtchen mitzureden hatte.

Was war mit ihrer Untersuchung? Wenn Ronin und Jordan gemeinsam der CCK waren, dann würde sich das beweisen lassen und ihren Opfern eine Stimme verleihen. Die Toten würden endlich reden können.

Die DNS-Spuren miteinander in Verbindung setzen. Jordan verhaften. Beweisen, dass der CCK nicht in Pensacola gestorben war. Aber was war mit Ronin? Konnte ihn ein menschlicher Gerichtshof überhaupt zur Rechenschaft ziehen? Wenn sie öffentlich erklärte, dass er ein Vampir war, würde der Fall bestimmt nicht verhandelt werden, und ihre Laufbahn würde ein abruptes Ende finden.

Interessierten sich Nachtgeschöpfe überhaupt dafür, ob einer der Ihren Sterbliche abschlachtete oder nicht? Dante kümmerte es, aber war er vielleicht eine Ausnahme?

Möglicherweise musste sie sich mit Elroy Jordan zufriedengeben.

Der Van wurde langsamer, und Heather öffnete die Augen. Simone parkte auf der Kieseinfahrt vor dem Haus. Heather sah auf die dunklen Fenster. »Ist Ihr Bruder daheim?«, fragte sie und zog am Türöffner.

»Oui.« Simone öffnete die Fahrertür und glitt aus dem Van. »Er braucht nur kein Licht.«

Heather stieg aus dem Van in die kühle, klamme Nacht. Die Luft duftete nach wilden Rosen, Kirschblüten und weichem Moos.

»Wallace.«

Heather erstarrte. Sie erkannte die Stimme. Sie hatte ihr jahrelang zugehört. Sich von ihr leiten lassen. Die Tatsache, dass er in New Orleans war, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Die Tatsache, dass er vor Dantes Haus stand, machte ihr eine Scheißangst. Sie fuhr mit der rechten Hand in den Trenchcoat und fasste nach ihrer Achtunddreißiger.

»Das würde ich nicht tun.«

Heather drehte sich um, die Kiesel des Weges knirschten unter ihren Schuhsohlen. Stearns stand neben der Schiebetür des Vans, eine Pistole mit Schalldämpfer an Simones Schläfe. Mit der anderen Hand hielt er die Vampirin am Arm fest.

»Wir müssen reden«, sagte er.

 

Dante schlug dem Arschloch die Nase platt. Der Mann fiel vom Barhocker, wobei sich in seinen Augen eine Mischung aus Schmerz und Überraschung spiegelten. Er knallte auf den Boden, und Blut spritzte aufs Holz.

Sein Handlanger, Davis, blinzelte und riss den Mund auf. Er griff in seine Tasche, aber Dante war schneller. Er trat einen Schritt vor und verpasste ihm mit der blutverschmierten Linken einen Kinnhaken. Dann packte er den erstaunten Detective am Kragen und knallte sein Gesicht auf die Theke. Der Mann sackte in sich zusammen.

Dante stand zwischen den beiden niedergestreckten Sterblichen und sah auf. Maria presste sich mit geweiteten Augen an die Wand mit den Flaschen und hielt eine Hand vor den Mund. Eine Bewegung auf dem Boden ließ Dante aufmerksam werden.

LaRousse rappelte sich auf die Knie hoch. Seine Augen waren voller Tränen, und seine Nase schwoll schon an. Er fasste in die Jackentasche und zog eine Waffe. Sie sah wie eine Neunmillimeter aus.

»Du kommst mir nicht davon …« LaRousse, dessen Stimme verzerrt klang, brach abrupt ab, als ihm Dante die Pistole aus der Hand schlug. Das Gelenk des Detectives brach und verdrehte sich in einem bizarren Winkel. Er stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus.

Dante ließ sich vor ihm auf die Knie nieder. Hinter seinen Schläfen und Augen pochte es. Sein Blick verschleierte sich einen Augenblick lang, als er die Schultern des Detectives ergriff und diesen dazu zwang, den Kopf zu heben und ihn anzuschauen. Im Hals des Sterblichen pulsierte das Blut unnatürlich schnell und heftig.

Dante entblößte die Reißzähne und senkte den Kopf, um an LaRousses warmem, stinkendem Fleisch zu riechen.

»Ich arbeite für Guy Mauvais. Ich stehe unter seinem Schutz«, sagte das Arschloch heiser flüsternd.

Dante ließ LaRousses Schulter los und riss an seiner Krawatte und den Hemdknöpfen. Ein Knopf flog durch die Luft. Das Hemd zerriss. In der Kuhle zwischen den Schlüsselbeinen des Detectives schimmerte eine eintätowierte Rose – eine Tätowierung, die nur ein Nachtgeschöpf bemerken konnte.

»He! Arschloch! Was zum Teufel tust du da?«

Dante warf einen Blick auf den Sprecher. Der Supermann vom Billardtisch tobte auf ihn zu, das Gesicht verkniffen und aufgebracht. In einer Hand hielt er einen umgedrehten Queue, den er wie einen Baseballschläger über seinem Kopf schwang. Dante stieß LaRousse nachlässig beiseite, so dass der Detective über den Holzboden schlitterte und gegen eine Wand knallte.

Jetzt richtete sich Dante aus der Hocke auf und streckte die Arme aus, um den Queue zu packen, als der Supermann diesen auf ihn niedersausen lassen wollte. Dann trat er schnell neben ihn und entriss ihm den Stock. Die Miene des Kraftprotzes verwandelte sich von Entrüstung in Überraschung. Er starrte auf seine leeren Hände.

Wie fühlt sich das an, marmot?

Mit zusammengebissenen Zähnen wirbelte Dante herum und schlug dem Athleten den Queue auf den Rücken. Dieser strauchelte und wand sich. Mit einem einzigen Schritt stand Dante vor dem schwankenden Mann. Er knallte den Stock gegen dessen Schläfe, so dass sein Kopf zu einer Seite knickte. Der Stock brach. Ein Ende flog durch die Luft und landete an der Wand hinter der Theke, an der das Telefon hing. Der Apparat fiel herunter und zerbrach mit einem letzten Klingeln in tausend Stücke.

Als der Kraftprotz zu Boden ging, drehte sich Dante auf dem Absatz um und sah Maria an. Sie hatte das Gesicht abgewandt, um dem fliegenden Holz auszuweichen, wobei sie sich mit einer erhobenen Hand schützte, während sie die andere nach dem beschädigten Telefon ausstreckte.

Ein zorniger Schrei ließ Dante erneut herumwirbeln. Den zweiten Teil des Queues hatte er noch in der Hand. Der gute alte Terry warf sich auf ihn, in der rechten Hand ein Jagdmesser. Bierbauch folgte ihm rotgesichtig und schwitzend, wie der Supermann zuvor mit einem Queue bewaffnet.

»Komm, Ernie! Machen wir den Scheißkerl fertig!«

Aber Terry stürzte allein nach vorn. Dante merkte, dass der gute alte Ernie stehen geblieben war, um etwas vom Boden aufzuheben.

Dante riss einen Arm hoch, um Terrys Hand mit dem Messer zu ergreifen, während er mit dem zerbrochenen Holzstock auf Bierbauchs Wampe eindrosch. Bierbauch verschlug es sofort den Atem, und er stürzte auf die Knie. Sein Stock fiel ihm aus den Händen und ging klappernd zu Boden.

Ein Bild von Lucien, wie er auf der Seite zwischen den zerbrochenen Kirchenbänken lag, das Haar von Staub und Goldfarbe übersät, einen Holzpfahl in der Brust.

Mon ami …

Du siehst ihr so unfassbar ähnlich.

Ein jäher, bohrender Schmerz fuhr ihm durch den Kopf und zerbrach die fragmentierten Bilder und vagen Erinnerungen in seinem Inneren. Terrys Jagdmesser drang in seine Handfläche und kam auf der anderen Seite wieder heraus. Wespen summten. Stachen. Gift floss durch Dantes Adern. Mit gefletschten Zähnen riss er den Arm zurück und entwand Terry so das Messer, das in seiner Hand stecken blieb.

»Ja!«, rief Terry. »Ich werde es dir zeigen, Arsch …«

Dante fuhr mit dem Handrücken über Terrys schmutzigen Hals. Heißes, wohlriechendes Blut spritzte ihm ins Gesicht und auf die Sonnenbrille. Er leckte sich die Tropfen von den Lippen, zog das Messer aus seiner Hand und ließ es zu Boden fallen.

Das angsterfüllte Schlagen von Terrys sterbendem Herzen sog an Dantes Bewusstsein. Unfähig, dem eindringlichen Blutgeruch zu widerstehen, schlang er die Arme um den Mann und presste dann die Lippen auf dessen durchtrennten Hals. Heißes Blut floss ihm in den Mund. Zusammen fielen Dante und Terry auf die Knie.

Du hast dich geirrt, Junge. Ich habe dein Blut mehr als nur geschmeckt.

Du kannst ihn noch retten, Blutgeborener.

Während Dante von dem schwächer werdenden Strahl trank, hörte er Flüstern – ein Flüstern, das nicht aus seinem Kopf kam. »Ziel auf den Kopf und … verdammt … schieß ja nicht daneben.«

Dante bewegte sich rasend schnell. Er warf sich auf den Boden und rollte sich ab, während ein Schuss aus einer Pistole fiel. Die Kugeln trafen Terrys noch in sich zusammensackenden Körper – einmal, zweimal, dreimal.

»Scheiße!«, rief Davis.

Dante hob den zerbrochenen Queue auf und warf ihn nach Davis, den er an der Stirn traf, während dieser erneut abdrückte. Der Schuss verfehlte sein Zeit und traf stattdessen …

»Wayne!«, rief Ernie.

Dante traf Davis mit der Faust am Kinn, so dass dessen Kopf nach hinten flog. Gleichzeitig packte er die Hand des Polizisten, in der er die Pistole hielt, und entriss ihm diese, um sie wegzuschleudern. Wieder gab er Davis einen Kinnhaken. Stolpernd und Blut und Zähne spuckend versuchte dieser, sich an einem Tisch festzuhalten, bekam ihn aber nicht zu fassen. Während er zu Boden stürzte, schlug er mit dem Hinterkopf auf dem Rand eines Stuhls auf, was einen knackenden Ton verursachte. Mit halb geschlossenen Augen blieb er liegen. Der Gestank von Blut und Fäkalien stieg wie Rauch in die Luft.

Dante zuckte zusammen, als ein heiserer Schrei hinter ihm seine Ohren zum Klingen brachte. Sein Kopf tat weh. Es folgte ein Klick-klick-klick-klick. Er drehte sich um.

Ernie hielt Arschlochs Neunmillimeter in beiden Händen. Er war so angespannt, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, während er die Augen zukniff. Auf dem Boden zu seinen Füßen war Bierbauch-Wayne zusammengebrochen. In seiner Schläfe war ein Einschussloch zu erkennen.

Dante riss die Waffe aus Ernies zitternden Fingern und sah, dass sie nicht einmal entsichert war. Er blickte von der Neunmillimeter auf und sah sich einen Moment lang selbst in Ernies inzwischen wieder weit aufgerissenen Augen. Dann rollten die Augen nach hinten, und Ernie fiel ohnmächtig zu Boden.

Dante schob sich LaRousses Waffe hinten in die Hose und drehte sich gerade rechtzeitig herum, um zu sehen, wie der Detective hinter der Theke entlangkroch. Augenscheinlich wollte er den Flur mit den Toiletten erreichen. Dante wollte ihm gerade hinterher, als ihn ein leises, heiseres Schluchzen innehalten ließ.

Er sprang über die Bar und landete in der Hocke neben der schwarzhaarigen Barfrau. Sie hatte sich hinter dem Schanktisch versteckt. Jetzt zeigte sich blankes Entsetzen in ihrem Gesicht, als sie Dante erblickte. Außer sich vor Angst presste sie eine Hand auf den Mund. Sie starrte ihn an, während sie nach einem Baseballschläger tastete, der an die Bar gelehnt war. Dante stieß ihn weg, so dass sie ihn nicht mehr erreichen konnte. Er fiel mit einem dumpfen Knall um und rollte über den Boden.

»Heilige Mutter Maria, Papa Legba, schützt mich vor diesem wütenden Loa«, flüsterte sie.

Sie roch nach Jasmin und tiefem Wasser, aber auch Angst war deutlich zu riechen. Sie nahm dem Aroma die Süße. Dante schob seine Sonnenbrille auf die Stirn. Tränen liefen ihr aus den dichten, dunklen Wimpern. Er beugte sich vor und strich mit seinen Lippen über die ihren. Mit dem Daumen wischte er eine ihrer Tränen fort und verschmierte so Blut über ihre dunkle Wange.

Er dachte an rotes Haar, blaue Augen und milchweiße Haut. Er erinnerte sich an eine Freundin, die gesagt hatte: Ich bin deine Verstärkung.

Dante zog die Hand zurück. Stand auf. Setzte die Sonnenbrille wieder auf.

Dante ging an der Theke entlang und durch den Flur. Vor der Tür zum Männerklo blieb er stehen und lauschte. Tropfendes Wasser. Er überquerte den Flur und betrat die Damentoilette. Keine Urinale, aber ansonsten war sie ebenso heruntergekommen und voller Graffitis wie die für Männer gegenüber. Er lief über den schmutzigen Boden.

Das Arschloch stand unter dem Fenster, durch das es kein Entrinnen gab, und strich sich mit den Händen das schweißnasse Haar aus dem Gesicht. Blaue und violette Flecken verdunkelten die Haut um seine Augen und den Rücken seiner eingeschlagenen Nase. Er starrte Dante an, machte aber keinen Fluchtversuch.

»Wallaces Boss sucht nach ihr. Er hat angerufen«, sagte er.

Dante packte LaRousse am Revers und riss ihn zu sich heran. Nur zwei Zentimeter trennten ihre Gesichter. Der Detective roch nach Blut und Bier. Er sah Dante an, während sich neue Schweißperlen auf seiner glänzenden Stirn bildeten.

»Was haben Sie ihm gesagt?«

»Dass er dich suchen soll.« In LaRousses Augen blitzte es hämisch. »Dass du sie ganz heißgemacht und verwirrt hast. Das tust du doch, oder? Du machst Leute heiß. Saugst sie dann aus.«

Der Mann stank nach Enttäuschung und Neid.

Der Arsch glaubt, ich würde alle umbringen, wenn sie in ihren Betten liegen und schlafen.

»Für wen arbeiten Sie?«, fragte Dante drohend. »Außer dem Idioten Mauvais?«

»Hör zu, ich kann für dich die Augen offen halten, wenn du willst …«

Dante umfasste das Revers fester und schüttelte den Detective. »Für wen noch?«

Würdest du?

Ja. Wahrscheinlich.

Die Farbe wich aus des Arschlochs Gesicht. »Für den Journalisten, Ronin.«

»Was tun Sie für ihn?«

»Ich habe ihm geholfen, Etienne zu kontaktieren …«

Vor Dantes Augen verschwamm einen Augenblick lang alles. Er katapultierte LaRousse in eine der Kabinen. Die Tür knallte gegen die Metallwand. Der Detective landete auf der Toilette, sein Kopf und seine Schultern prallten gegen die gekachelte Wand. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz.

Würde sich der Rockgott wohl für die Rolle des Mörders eignen?

Wir müssen jetzt gehen, Sexy … morgen wieder?

Still … je suis ici.

Du kannst ihn noch retten, Blutgeborener. Du musst nur …

»Aufwachen«, wisperte Dante. Das Dröhnen der Wespen ließ nach.

Dante ging in die Toilette, zerrte LaRousse hoch und drückte ihn mit einer Schulter gegen die Wand, während er ein Knie gegen seine Weichteile hielt. Er zwang ihn dazu, den Kopf zur Seite zu drehen, so dass sein Hals entblößt war. Die Rosentätowierung glitzerte im Neonlicht des Klos.

»Ihnen war egal, wer Gina getötet hat«, sagte Dante und senkte den Kopf, um LaRousses galoppierendem Herzen zu lauschen. »Sie wollten mich.«

»Ich stehe unter Mauvais’ Schutz …«

»Das nützt dir bei mir gar nichts. Bei … mir … nicht …«

Dante schlug die Zähne in den Hals des Detectives. LaRousse schrie.

 

Heather tastete nach der Achtunddreißiger in ihrer Manteltasche. Stearns’ zerzaustes Haar und seine umschatteten Augen zeigten ihr, dass er schon länger nicht geschlafen hatte. Seine ruhige Hand hingegen signalisierte, dass er abdrücken würde, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

»Lassen Sie sie los«, sagte Heather. »Wenn Sie mit mir reden wohl – kein Problem. Seit wann brauchen wir Geiseln?«

»Ich glaube, Sie verstehen nicht, worum es geht«, erwiderte Stearns. Sein Blick wanderte einen Augenblick lang zu Simone. »Oder mit wem Sie sich zusammengetan …«

Simone wand und duckte sich in einem unfassbaren Tempo. Die Glock mit dem Schalldämpfer ging im selben Moment mit einem dumpfen Zischlaut los, in dem sie Stearns’ Hand mit der Waffe packte und zur Seite drehte. Die Glock fiel ins taunasse Gras.

»Runter. Oder ich breche das Handgelenk«, sagte Simone.

Mit geschlossenen Augen und vor Schmerz fauchend ging Stearns in die Knie. Die Blondine lockerte den Griff um sein Handgelenk, ohne ihn loszulassen.

Heather fischte die Glock aus dem Gras und steckte sie ein. Dann zog sie ihre Achtunddreißiger und richtete sie auf Stearns. »Was tun Sie hier?«

Er öffnete die Augen. Ein verdrießliches Lächeln kräuselte seine Lippen. »Sie retten.«

»Haben Sie etwas mit der Vertuschung zu tun?«, hakte Heather nach, ohne die Pistole zu bewegen. »Den Pensacola-Morden? «

»Nein. Aber ich weiß, wer dahintersteckt, und ich weiß, was diese Leute bewachen.«

Sie starrte den Mann an, der sie durch ihre gesamte bisherige Karriere begleitet hatte, der beim Abschlussball der FBI-Akademie dabei gewesen war und der ihr mit Annie geholfen hatte, als sich ihr Vater geweigert hatte, etwas zu unternehmen. Stearns hielt ihrem Blick stand, seine nussbraunen Augen wirkten ruhig. Bartstoppel verliehen seiner unteren Gesichtshälfte eine dunkle Abschattung. Stoppeln. Länger ohne Schlaf. Angestrengt. Ein Mann auf der Flucht?

Meine gesamte Karriere über hat er mich unterstützt.

Würde sich das ändern, wenn ihm das FBI die Anweisung dazu gab?

Heather senkte die Achtunddreißiger. Wenn ja, wäre ich schon tot.

Sie gab Simone ein Zeichen. Mit einem erzürnten Knurren und einem Kopfschütteln ließ diese Stearns los. Er stand auf und klopfte sich die feuchte Hose ab, an deren Knien jetzt grüne Grasflecken waren.

»Wo ist Dante?«, fragte er.

Heather fixierte ihn. »Weshalb? Was hat er damit zu tun?«

Stearns sah sie lange an. Ein Muskel zuckte in seinem Kiefer. Dann sah er weg. »Er ist nicht, wofür Sie ihn halten.«

»Wofür halte ich ihn denn … Sir?«

»Für menschlich.«

»Ich weiß, was er ist«, antwortete Heather leise. Sie hob wieder die Waffe. »Er ist ein Nachtgeschöpf und vielleicht ein Blutgeborener.«

»Ein Blutgeborener?«, flüsterte Simone.

Stearns stierte Heather an. Seine Hände hingen reglos an den Seiten herab. Sie glaubte, einen Augenblick lang Furcht in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Dann war sie wieder verschwunden.

»Er ist auch ein Experiment«, sagte Stearns schließlich. »Ich habe im Wagen eine Akte und eine CD über ihn, die Sie eingehend prüfen sollten. Dann wissen Sie genau, was dieser Dante Prejean ist.«

»Er heißt nicht Prejean«, brummte Heather.

Simone umkreiste Stearns. »Ich werde nicht zulassen, dass Sie in seine Nähe kommen«, grollte sie. Das Mondlicht blitzte in ihren schmalen Augen, und sie entblößte ihre Fänge.

Das Rauschen gewaltiger Flügel lenkte Heathers Aufmerksamkeit auf das Haus.

Mondlicht schimmerte auf De Noirs gewaltigen dunklen Flügeln, als er auf dem Dach über Dantes Schlafzimmer landete. Sein langes schwarzes Haar fiel ihm offen bis auf die Hüften herab. Blasses bläuliches Licht umgab seinen nackten Oberkörper und spiegelte sich in dem Anhänger um seinen Hals wider.

Er ging in die Hocke und faltete die Flügel auf dem Rücken zusammen. Eine Brise spielte mit seinem Haar, doch ansonsten rührte er sich jetzt nicht mehr. Zwei goldene Punkte glänzten wie Sterne in der Nacht, als er in die Dunkelheit starrte.

Heather hatte vor Überraschung den Atem angehalten. Gefallen. Etiennes Stimme hallte in ihrem Inneren wider: Nachtbringer.

»Gott im Himmel«, flüsterte Stearns.

»Sehen Sie, Sir«, sagte Heather. »Ich weiß genau, mit wem ich mich zusammengetan habe.« Sie drehte sich so, dass sie in Stearns’ fassungsloses Gesicht blicken konnte, und fügte hinzu: »Augenblicklich vertraue ich diesen Leuten mehr als Ihnen.«

 

Ronin sah, wie eine Frau mit bleichem Gesicht und vor Angst zitternd aus der Kneipe gerannt kam. Sie lief so schnell sie konnte zu dem Chevy mit den aufgemalten Flammen und zog dabei aufgeregt die Autoschlüssel aus ihrer Tasche. Im Gegensatz zu panischen Frauen in Filmen stürzte sie nicht und ließ die Schlüssel nicht fallen, sondern schaffte es, den Chevy zum Laufen zu bekommen. Sie schaltete in den Rückwärtsgang und raste dabei fast in den schwarzen MG, der schräg gegenüber von ihr stand. Sie trat auf die Bremse, riss die Gangschaltung in den ersten Gang und fuhr vom Parkplatz.

Spannend. Welchen Scherz hat sich mein kleiner Blutgeborener wohl jetzt wieder erlaubt? Obwohl Blutgeborener ja gar nicht stimmt. Er ist ein geborener Vampir, dessen Vater ein Gefallener ist.

Ronin war zutiefst erregt. Sich gegen einen Blutgeborenen-Gefallenen-Mischling zu stellen – welche größere Herausforderung konnte es für seine Fähigkeiten geben? Vor allem, nachdem er das Kind ausgebildet hatte?

Er ließ den Camaro laufen, als er aus dem Wagen stieg. Dabei achtete er darauf, seine Schilde oben zu lassen und seine Energie auf ein Minimum zu reduzieren. Das Letzte, was er jetzt wollte, war, dass Dante ihn entdeckte und sich auf ihn stürzte, ehe er so weit war.

Ronin blickte auf seine veränderte linke Hand. Von so etwas stand nichts in der Akte des Jungen. Nachdem er aus dem Schlachthaus geflohen war, hatte er sich hingesetzt und das schwächer werdende Wurmloch untersucht, das Dantes Berührung geschaffen hatte. Er hatte seine Finger nicht nur verschwinden lassen, sondern auch aus seinem genetischen Code entfernt.

Das Beste daran war, dass Johanna keine Ahnung hatte. Sie wusste nicht, dass es Dante gelungen war, vor ihr ein Geheimnis zu bewahren. Ein weltveränderndes Geheimnis.

Wieder flog die Kneipentür auf, und ein Sterblicher mit Baseballkappe, schmutzigem T-Shirt und Jeans rannte auf den Parkplatz. Er fiel beinahe über seine eigenen Füße, als er über den Kies auf seinen Pick-up zurannte. Panisch riss er die Tür auf, als er Ronin entdeckte.

»Sie da!«, rief er. »Gehen Sie da nicht rein! Da ist ein Vampir drin! Ein echter, lebender Vampir – so wahr mir Gott helfe!«

Ronin grinste.

Der Sterbliche schrie. Seine Augen weiteten sich mehr als die einer Katze, als er sich mit einem Satz in seinen Pick-up warf. Er schaltete den Motor an, doch er ging immer wieder aus. Der durchdringende Geruch von Benzin stieg auf. Der Mann warf einen panischen Blick über die Schulter, während er erneut versuchte, das Auto anzulassen. Der Motor stotterte, spuckte und begann dann endlich, regelmäßig zu laufen.

Ronin stand mit verschränkten Armen auf dem Parkplatz und fragte sich, ob der Sterbliche wohl wieder zu stark aufs Gaspedal treten würde, als dieser rückwärts aus der Parklücke fuhr.

Der Sterbliche schaltete mit einem schrillen, durchdringenden Kratzgeräusch in den Rückwärtsgang und trat voll aufs Gas. Der Pick-up machte einen Satz ein paar Meter rückwärts, dann stotterte der Motor von Neuem und erstarb wieder.

Ronin überlegte sich, ob er den Sterblichen von seinen Qualen erlösen sollte, als die Autotür aufflog und der Mann heraussprang. Er rannte über den Parkplatz durch das Gebüsch und das Unkraut, das dort am Rand wuchs, auf die Straße hinaus. Dort verschwand er, wobei das Knallen seiner Stiefelabsätze auf dem Gehsteig noch eine Weile in der Nacht widerhallte.

Kopfschüttelnd ging Ronin zum Eingang der Gaststätte. Er legte die Hand auf die Klinke und lauschte. Nichts. Leise stieß er die Tür auf und sah hinein. Mehrere Sterbliche lagen reglos auf dem blutverschmierten Boden. Insgesamt zählte er vier.

Dante hat ganze Arbeit geleistet. Oder sollte ich S sagen?

Ein markerschütternder Schrei durchdrang die Stille und hörte ebenso abrupt wieder auf. Ronin fügte in Gedanken den Leichnamen noch einen weiteren hinzu. Fünf. Er fragte sich, wie viele Tote Dante wohl im Schlachthaus zurückgelassen hatte. Lebte Agent Wallace wohl noch?

Leise schloss er die Tür. Er hatte genug gesehen und kehrte zum Camaro zurück. Es war Zeit, alles für Dantes Heimkehr vorzubereiten.

Er klappte sein Mobiltelefon auf und drückte die Schnellwahltaste für Es Nummer. Statt der Voicemail-Ansage, die er die ganze Nacht über erhalten hatte, hörte Ronin die mürrische Stimme des Sterblichen.

»Ja?«

»Wo warst du?«

»Weg. Wer bist du? Mein Vater?«

»Es ist Zeit. Tausch den Jeep gegen einen Van. Du erinnerst dich noch an die Spezifikationen?«

»Klar. Hast du Dante, hm?«

Ronin dachte an den Schrei, den er in der Gaststätte gehört hatte. »Oh ja.«

 

Dantes blutverschmierte Hand fasste nach dem Griff des Benzinkanisters, der hinten auf der Pritsche des Pick-ups stand. Stimmen hallten grell und durchdringend in seinem Kopf wider. Erneut aufflammender Schmerz brannte in seinem Gehirn. Er kehrte in die still daliegende Taverne zurück, wo er das Benzin auf den Tischen und Stühlen, dem Billardtisch und der Theke verteilte. Dann goss er eine feuchte Spur den Flur entlang bis in die Damentoilette.

Er ist jetzt still. Wahrscheinlich wirken die Medikamente. Ich werde ihn abnehmen.

Eine Sekunde lang sah er ein blasses, von blondem kurzen Haar umrahmtes Gesicht vor sich, ehe Schmerzen das Bild wieder zerplatzen ließen. Dante wankte und lehnte sich gegen die Toilettentür, die Hand an den Kopf gepresst. Es fiel ihm schwer, aufrecht zu stehen. Diese Art Schmerz konnte er nicht umwandeln oder nutzen. Dieser Schmerz verschlang ihn fast.

Er sog die nach Benzin stinkende Luft tief ein und kehrte dann mit dem Kanister in der Hand in die Bar zurück. Dort nahm er vom Regal hinter der Theke eine Flasche Tequila und blieb an dem Tisch stehen, wo die Kerle zuvor ihre staubigen Hintern geparkt hatten. Er nahm ein Päckchen Zigaretten und ein Streichholzbriefchen.

Weiter Benzin vergießend trat er durch die Tür ins Freie. Er warf den leeren Kanister in die Kneipe. Er kam mit einem lauten, blechernen Geräusch auf dem Boden auf.

Dann schüttelte er eine Zigarette aus dem Päckchen, schob sie sich zwischen seine Lippe und zündete sie an. Eine Weile rauchte er und genoss den Tabakgeschmack, während er versuchte, nicht auf die Stimmen in seinem Inneren zu hören.

Ach ja … das Haus der Pflegefamilie ist samt den Pflegeeltern abgebrannt …

Lügner.

Weißes Licht blitzte vor Dantes innerem Auge auf. Schmerz pochte. Er schnippte die halb gerauchte Zigarette in die benzingetränkte Gaststätte. Sie ging mit einem dumpfen Geräusch, das ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte, in Flammen auf. Feuer loderte.

Wofür steht für Sie das Anarchiesymbol?

Heathers Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf. Ihr Haar züngelte wie Flammen. Schmerz durchbohrte sein Herz. Sie ist fort. In Sicherheit.

Liebst du mich noch, Dante-Engel?

Ich hab nie aufgehört, dich zu lieben, Prinzessin. Ich hatte es nur eine Weile vergessen.

Dante ging zum MG. Er lehnte sich dagegen, die Flasche Tequila in einer Hand. Während er zusah, wie die Kneipe ein Raub der Flammen wurde, verkrampfte sich sein Inneres so sehr, dass er das Gefühl hatte, von Stacheldraht durchbohrt zu werden. Sein Herz jedoch, ungeschützt und offen, jubilierte.

Wofür steht für Sie das Anarchiesymbol?

Zorn. Feuersturm. Wahrheit.

»Und Freiheit«, flüsterte Dante.