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ES KOMMT EIN STURM

Stimmen durchdrangen die Finsternis – leise, angespannte Stimmen.

»Endlich geht es weiter«, sagte ein Mann. »Wir werden in fünfzehn Minuten da sein.«

Ein Radio knisterte. Also ein Wagen. Eine Heizung schnurrte Wärme in die Luft. Eine ruckelnde Vorwärtsbewegung.

»Das ist vielleicht ein Sturm«, sagte eine Frau. »Ich hoffe, wir werden nicht eingeschneit.«

»Schau mal nach Wallace.«

Stoff raschelte. Plastik quietschte. Der Geruch von süßer Melone. Parfum?

»Noch bewusstlos.«

Heathers Herz schlug doppelt so schnell wie sonst, als die Erinnerung wiederkehrte. Parka und Trenchcoat. Der Flughafen. Sturz. Kalter Schnee im Gesicht.

Wir bringen Sie jetzt zu Dr. Moore.

Vor Heathers innerem Auge flackerten Bilder auf, stark und prägnant: Dante, wie er aus dem eingeschlagenen Fenster seines MGs klettert; Dante auf der Schwelle vor Ronins Haus, Blut läuft über seine Schläfe; ein grinsender Jordan, der in dem weißen Transporter davonbraust … ihr Herz sank.

Habe ich erneut versagt?

Heather spürte, wie sie wieder in die Finsternis abglitt. Sie biss sich auf die Innenseite ihrer Wange und schmeckte Blut. Das graue Morgenlicht, durch das der grellweiße Schnee wirbelte, schmerzte ihr in Augen und Kopf. Sie richtete den Blick auf die Sitze vor ihr und konzentrierte sich auf das beige Plastik, während sie versuchte, das hypnotische Wusch-wusch der Scheibenwischer zu ignorieren. Ihr gesamter Körper prickelte, als hätte sie eine gewaltige Ladung Novocain abbekommen.

Heather sah nach unten und erblickte ihre Tasche auf dem Boden hinter dem Beifahrersitz. Zweifellos hatte man sie durchsucht und ihre Achtunddreißiger konfisziert. Sie versuchte, die Hände zu bewegen. Der Zeigefinger ihrer rechten Hand zuckte. Ein rascher Blick bestätigte ihr, dass ihre Hände mit Handschellen vorne gefesselt waren. War es so einfacher gewesen, sie auf die Rückbank zu schieben?

Heather schloss die Augen, für den Fall, dass Trenchcoat erneut nach ihr sah. Sie bemühte sich, gleichmäßig zu atmen, ohne wieder in die beruhigende Umarmung des Schlafs hinüberzugleiten. Was wollte Johanna Moore von ihr? Hegte sie den Verdacht, dass Dante und Jordan auf dem Weg nach Washington waren? Da sie versucht hatte, Heather bereits in New Orleans umbringen zu lassen, wieso tat sie es jetzt nicht wieder? Was hatte sich geändert?

Wenn Moore sie tot sehen wollte, wie Stearns behauptet hatte, warum brachten die beiden da vorn sie dann jetzt nicht in einen Wald oder auf ein Feld und jagten ihr eine Kugel in den Kopf?

Hatte jemand interveniert? Für sie gesprochen? Möglicherweise ihr Vater?

Sie hatte plötzlich einen Flashback zu ihrem immer wiederkehrenden Traum von dem geheimnisvollen Fahrer, dessen Gesicht nicht kenntlich war und der aus dem Auto mit dem laufenden Motor stieg und einen aufblitzenden Hammer in der Hand hielt.

Nein. Sie schob die Erinnerungen und Bilder von sich. Konzentriere dich auf die Gegenwart. Plastik knackte, und sie hielt die Augen geschlossen und zählte bis hundert, ehe sie wieder einen Blick durch ihre Wimpern hindurch riskierte. Trenchcoats Blondschopf war nach vorne gerichtet.

Das Kribbeln nahm zu und verwandelte sich in ein prickelndes Vibrieren. Heather ballte die Fäuste. In ihr regte sich Hoffnung. Sie entspannte die Hände wieder. Das Prickeln und Kribbeln wurde schwächer. Eine Weile fühlte es sich an, als seien ihren Glieder nur eingeschlafen gewesen. Sie hob die gefesselten Hände, den Blick auf Trenchcoats Kopf gerichtet, und rutschte ganz vorsichtig auf ihre Handtasche zu.

Die Scheibenwischer fuhren stoisch über die Windschutzscheibe. Die Reifen, die anscheinend Schneeketten hatten, knirschten durch den Schnee, was ein dumpfes, gedämpftes Geräusch verursachte. Heathers Finger glitten in ihre Tasche, wobei ihr Puls so raste, dass er in ihren Ohren zu dröhnen schien.

Vorsichtig durchsuchte sie mit der Hand den Inhalt der Tasche, fuhr verschiedene Formen nach und suchte nach einer schmalen Kante, nach dem Gefühl von Metall und dem schmierigen Sand aus der Gasse. Trenchcoat bewegte den Kopf und sah aus dem Beifahrerfenster. Heather riss blitzschnell die Hand aus der Tasche und nahm ihre bisherige Position wieder ein. Sie schloss die Augen und atmete langsam ein und aus. Ein und aus. Ein und aus.

»Jetzt fängt es aber so richtig zu schneien an«, meinte die Frau.

»Die Heimfahrt wird vermutlich wieder mal höllisch«, antwortete der Mann.

»Wenn du überhaupt heimkannst

»Ich gehe heim, und wenn ich dazu Skier brauche«, sagte Parka. Er klang angespannt. »Hast du die Berichte gelesen? Weißt du, was dieser S ist?«

Heather lauschte gespannt. Die Augen hielt sie weiter geschlossen, während ihre Finger wieder vorsichtig zu ihrer Tasche zurückwanderten. Also weiß Johanna Moore Bescheid! Woher?

»Ja, weiß ich«, antwortete Trenchcoat. »Ich muss zugeben, ich bin neugierig. Irgendwie will ich ihn mal live sehen, verstehst du?«

Heathers Hände schoben sich wieder in ihre Tasche, und ihre Finger tauchten ganz nach unten.

Parka schnaubte. »Du weißt, dass Neugier nicht unbedingt gesund ist.«

»Ja, ja. Wann bist du denn zu einer alten Jungfer mutiert?«

»Ich habe einfach nicht vor, den Köder für einen Psycho abzugeben«, sagte Parka.

Ein Finger stieß gegen eine scharfe Spitze. Kaltes Metall berührte ihre Handfläche. Mit hämmerndem Herzen zog Heather die Nagelfeile aus ihrer Tasche.

»Ich auch nicht«, antwortete Trenchcoat. »Vielleicht soll sie ja dazu dienen.«

Parka gab ein schwer verständliches Geräusch von sich.

Heather erstarrte. Moore konnte nichts über ihre Beziehung zu Dante wissen. Es sei denn … Dante wurde noch immer beobachtet, und versteckte Kameras filmten jeden seiner Schritte, daheim und im Club. Wenn das stimmte, würde es zumindest erklären, warum sie noch nicht tot und unter einer Schneewehe begraben war.

Was war mit De Noir? Hatte er sie im Stich gelassen, um nach Dante zu suchen? Ihre Intuition sagte Ja. Der erschütterte Ausdruck in De Noirs Gesicht stand ihr noch deutlich vor Augen: Mein Kind. Ich werde dich finden. Keine Angst.

Die Augen hinter ihren geschlossenen Lidern brannten, während Heather wünschte, er habe ihn tatsächlich gefunden. Sie verwendete alle Kraft, die wieder in ihr erwachte, und jeglichen zukünftigen Geburtstagswunsch darauf, sich zu wünschen, dass Dante unter De Noirs schwarzen Flügeln geborgen war.

Ansonsten brauchte sie keine Intuition, um zu wissen, dass sie derweil allein und auf sich gestellt war. Ihre Finger hielten die Nagelfeile umschlossen. Sie hob die Hände und drückte sie auf ihre Brust, um die Feile in ihre Bluse rutschen zu lassen. Dort schob sie das Instrument unter den BH.

Hat mich schon in dieser Gasse hinter dem Schlachthaus gerettet.

Sie hoffte, dass sie es auch diesmal wieder tun würde. Langsam ließ sie die Hände wieder nach unten rutschen und legte sich dann regungslos hin. Einen Moment später knackte wieder Plastik, und sie nahm einen weiteren Hauch von Trenchcoats nach süßer Melone riechendem Parfum wahr.

Das Auto wurde langsamer und hielt an. Kalte Luft drang ins Innere, als Parka ein Fenster herunterließ. »He, Morris!«, rief er. »Wo sind die anderen?«

»Doktor Moore hat alle nach Hause geschickt – wegen des Sturms«, meinte eine raue Stimme. Sicherheitskontrolle? »Ich bin überrascht, dass ihr es hergeschafft habt.«

»Ich auch«, brummte Parka und kurbelte das Fenster wieder hoch, so dass auch keine kalte Luft mehr hereinkam. Der Wagen fuhr mit knirschenden Reifen weiter.

Einen kurzen Augenblick später hielt er wieder an. Parka schaltete ihn aus, und Heather öffnete die Augen. Als sie aufsah, bemerkte sie Parkas blaue Pupillen, die sie im Rückspiegel beobachteten. Er zog die Brauen hoch. Heather erstarrte. Parka wusste Bescheid. Während sie Trenchcoat beobachtet hatte, war sein Blick anscheinend auf sie gerichtet gewesen.

»Sieht aus, als sei unser Gast wach«, sagte er, machte seine Tür auf und stieg aus. Kalte Luft und Schnee wirbelten ins Auto, ehe er die Tür zuschlug.

Trenchcoat drehte sich zu ihr um und sah sie an. »Lassen Sie uns das ganz friedlich angehen. Einverstanden?«

Heather nickte. Sie richtete sich mit Hilfe ihrer Ellbogen in eine sitzende Position auf. Weiße Punkte wirbelten wie Schneeflocken vor ihren Augen. Sie senkte den Kopf, bis das Schwindelgefühl nachließ. Ein weiterer kalter Windstoß, gefolgt von einem dumpfen Knall, zeigten ihr, dass auch Trenchcoat ausgestiegen war.

Die hintere Tür öffnete sich. Parka ergriff Heathers Oberarm. Schnee wirbelte in den Wagen. Heather sah ihn an. Er erwiderte ihren Blick und half ihr dann aus dem Wagen in den Sturm hinaus.

Die Kälte drang durch Heathers Trenchcoat, ließ ihre Finger steif werden und biss sie in die Wangen. Sie starrte auf das Gebäude vor ihr und das Schild, das zur Hälfte von Schnee bedeckt war.

 

BUSH CENTER
FÜR PSYCHOLOGISCHE FORSCHUNG

 

Was Heather in Parkas Augen gesehen hatte, überraschte sie. Er wusste, dass sie die Nagelfeile hatte, und doch hatte er nichts gesagt.

Trenchcoat packte Heathers anderen Arm. Zusammen überquerten sie den Parkplatz, wobei alle drei die Köpfe senkten, um sich dem Wirbelwind aus Eis und Schnee nicht allzu sehr auszusetzen.

 

Johanna beobachtete auf dem Überwachungsbildschirm, wie Bennington und Garth Wallace in Nr. 5 brachten und sie ihres Trenchcoats und ihrer Schuhe entledigten.

»Sagen Sie Johanna Moore, ich will sie sprechen«, erklärte Heather Wallace. Ihre Stimme klang außergewöhnlich klar und stark für eine Frau, die sich gerade von einer starken Dosis Anästhetikum erholte.

Garth verließ wortlos das Zimmer. Wallace hatte ihren dunklen Trenchcoat über dem Arm hängen und hielt ihre Schuhe in der Hand. Bennington blieb einen Augenblick lang unter der Tür stehen und drehte sich dann noch einmal zu ihr um.

»Sie können sich entspannen«, sagte er. »Könnte noch eine Weile dauern.«

»Wissen Sie, warum man mich hier festhält?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete er. »Tut mir leid – keine Ahnung.« Er verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Ein rotes Licht wanderte über die Türverkleidung, als sich die Tür verriegelte.

Heather Wallace begann, den wattierten Raum zu durchmessen, wobei sie immer wieder einen eindringlichen Blick zur Decke warf. Nicht dumm, dachte Johanna. Nachdem die Agentin das Zimmer einmal umrundet hatte, setzte sie sich mit dem Rücken zur Nordwand. Sie schlang die Arme um die hochgezogenen Knie und senkte den Kopf. Ihr rotes Haar fiel so, dass ihr Gesicht verdeckt war.

Kopfweh und eine Schläfrigkeit, die sich nicht so leicht abschütteln ließ – typische Nachwirkungen des Anästhetikums. Johanna drehte ihren Stuhl vom Monitor weg und warf einen Blick auf die Dokumente auf ihrem polierten Schreibtisch. Wallace hatte eine makellose Akte. Sie war auf der FBI-Akademie gut gewesen und hatte mit fünfundzwanzig als eine der Jahrgangsbesten ihren Abschluss gemacht. In den sechs Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte sie sich als engagierte, begabte und intelligente Agentin erwiesen und – wenn sich Johanna richtig erinnerte – als intuitiv, mitfühlend und taff.

Ihr fiel ein Test ein, den man mit den neuen Rekruten durchgeführt hatte, um ihre Motivation zu hinterfragen, warum sie dem FBI beitreten wollten. Die einfachste Frage war die aufschlussreichste gewesen.

Warum wollen Sie FBI-Agent werden?

Die meisten Antworten lauteten ähnlich: Weil ich mich gegen Verbrechen einsetzen will oder Um mein Land zu beschützen oder Um etwas zu verändern oder sogar Um eine Karriere bei der Exekutive machen zu können, die mir auch ein angemessenes Gehalt liefert.

Aber Wallaces Antwort war eine der wenigen gewesen, an die sich Johanna auch jetzt noch erinnern konnte: Ich will den Opfern eine Stimme verleihen. Ich will eine Stimme für die Toten, für die Gerechtigkeit sein. Sie fragte sich, ob Wallace noch immer an Gerechtigkeit glaubte und noch immer eine Stimme für die Toten sein wollte. Oder hatten die vergangenen sechs Jahre, in denen sie mit der Realität konfrontiert gewesen war, sie ihrer Ambitionen und ihrer Seele beraubt?

Johanna fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Es gefiel ihr nicht, eine Agentin von Heather Wallaces Kaliber und Potenzial zu verlieren. Sie war gescheit genug gewesen, um den Pathologieassistenten in Pensacola über die Autopsieergebnisse zu befragen und kühn genug, Dr. Anzalone ins Gesicht zu sagen, was sie von ihnen hielt, ehe sie nach New Orleans zurückgekehrt war, um den wahren CCK weiter zu verfolgen.

Plötzlich nahm eine Idee Gestalt an. Sie musste Wallace nicht opfern. Konnte sie die Frau nicht für sich gewinnen? Konnte sie sie vielleicht davon überzeugen, dass sie nicht nur für einige Jahrzehnte, sondern für Jahrhunderte, ja Jahrtausende eine Stimme der Gerechtigkeit werden könnte?

Die eigentliche Frage, die sich hier also stellte, war folgende: War Johanna bereit, eine mère de sang zu werden? Das erste Mal hatte sie es während eines Urlaubs in New Orleans versucht. In Wirklichkeit wollte sie sich ursprünglich eigentlich nur an Genevieve laben, ihr Blut trinken. Doch erst als sie die dunkelhaarige Schönheit fast leergetrunken hatte, hörte sie den zweiten leisen Herzschlag in ihrem Körper. Die Sterbliche hatte nicht einmal selbst gewusst, dass sie in anderen Umständen war. Voller Neugier zwang sie Genevieve, ihr Blut zu trinken.

Was würde mit einem Embryo passieren, wenn seine Mutter in eine Vampirin verwandelt wurde?

Das Ergebnis befand sich nun auf dem Nachhauseweg, geleitet von Johannas père de sang – in gewisser Weise also S’ Großvater.

Es sei denn … war Ronin tatsächlich gemeinsam mit E und S unterwegs? Ihr Herz sagte: Ja, diesem Sturm folgt die Katastrophe, Blutgeborener. Lag ihr Blutgeborener vielleicht sogar in diesem Moment in Ronins Armen im Schlaf?

Wisperte er S Lügen ins Ohr?

Oder noch schlimmer – die Wahrheit?

Johanna wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Wallace saß noch immer an der Wand, die Arme um die Knie, den Kopf gesenkt. Rotes Haar verbarg ihr hübsches Gesicht. Rotes Haar.

Johanna stierte auf Wallaces Bild. Chloe. Konnte sie die Agentin als Köder für ihren kleinen Blutgeborenen benutzen? Um ihn von Ronin wegzulocken? Ihn vielleicht gar gegen Ronin aufzubringen?

Wallace konnte sich ruhig noch ein paar Stunden über ihr Schicksal Sorgen machen. Dann würde Johanna sie vor eine Entscheidung stellen.

 

Heather döste, den Kopf auf die Arme gelegt. Träume und Bilder blitzten immer wieder im Dunkeln hinter ihren geschlossenen Augen auf – ebenso wie der pochende Schmerz in ihrem Kopf.

Blitz: Dantes Gesicht strahlt vor Freude, und seine Augen schimmern golden, als er in sie eindringt. Sie riecht ihn – verbranntes Laub und Frost.

Blitz: Sie schmiegt ihr Gesicht an De Noirs Hals, als er sie durch den kalten Nachthimmel trägt.

Blitz: Elroy beugt sich über sie, während sie schläft. Eine Klinge blitzt in seiner Hand auf. Er berührt einen Augenblick lang ihr Haar.

Blitz: Stearns schießt. Dante fällt und fällt und fällt …

Mit wild pochendem Herzen und einem Schrei, der ihr im Hals steckenblieb, fasste Heather nach Dante. Ihre Hand erwischte ihn, und seine bleichen Finger umschlossen ihr Handgelenk. Sie fielen. Dante schlang die Arme um sie, drückte sie eng an sich, während sie durch die sternenlose Nacht stürzten. Er küsste sie, und die Berührung seiner Lippen ließ sie lichterloh brennen.

Sie brannte, während sie fielen, ineinander verschlungen, ein Komet. Der Wind, der an ihnen vorüberrauschte, ließ ihr flammendrotes Haar über den Himmel wehen. Dantes schwarze Strähnen wickelten sich um ihre flatternden Locken.

Ein Lied erklang in ihr, pulsierte durch sie hindurch, in sie hinein – düster intensiv und pochend. Es loderte in ihrem Herzen und ihrer Seele: Dantes Lied.

Ich komme dich holen, chérie.

Ich werde hier sein, Dante. Genau hier.

Pssst. Je suis ici.

Sie hörte Flügel rauschen.

Heather schlug die Augen auf. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Sie lehnte sich an die Wand hinter ihr und holte tief Luft, wobei sie merkte, dass ihr Kopf noch immer wehtat.

Ich komme dich holen, chérie.

Heather verschloss diese Worte in ihrem Herzen, um sie dort sicher aufzubewahren. Dante hatte zu ihr gesprochen. Sie wusste nicht, wie das möglich war. Vielleicht, weil er ihr Blut getrunken hatte und sie das miteinander verband. Oder vielleicht lag es auch einfach daran, dass sie – benebelt und benommen von den Medikamenten in ihrem Körper – eingedöst war. Aber ihre Intuition, ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Dante tatsächlich auf dem Weg hierher war.

Sie schloss die Augen und lächelte. Ein Hoffnungsschimmer entzündete sich in ihr und wärmte sie von innen. Ihre Kopfschmerzen und ihre Erschöpfung ließen nach. Wenn Dante auf dem Weg zu ihr war, war er Jordan entkommen. Möglicherweise hatte De Noir ihn tatsächlich gefunden.

Ein Summen an der Tür ließ sie die Augen wieder öffnen. Die Tür schwang auf, und eine hochgewachsene Blondine trat ein. Dr. Johanna Moore. Sie trug ein europäisch anmutendes Tweedkostüm in einem tiefen Weinrot, während ihre Bluse so weiß wie die Wände des Raumes war, in dem sie sich befanden. In der rechten Hand hatte sie eine Schusswaffe, die sie auf den Boden richtete.

»Ich kenne Sie von der Akademie«, sagte Johanna Moore und gab sich Mühe, einen lockeren Plauderton anzuschlagen, als ob sie sich bei einem Geschäftsessen und nicht in einer Art Gummizelle befinden würden. »Ihre Anteilnahme für die Opfer hat mich damals überaus beeindruckt.«

Heather stand auf. Das Pochen in ihrem Kopf wurde stärker, als sie sich bewegte. »Wirklich? Ich bin überrascht, dass Sie wussten, wovon ich rede.« Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und sah Moore an. »Sind Sie gekommen, um selbst die Drecksarbeit zu erledigen?«, fragte sie und nickte in Richtung der Waffe.

Johanna Moores Lächeln wurde angestrengt. Einen Augenblick lang schien sich ihr Blick nach innen zu richten. »Falls es so weit kommen sollte«, sagte sie sanft. »Wenn es Ihnen hilft, kann ich es hinterher auch bereuen.« Sie stand in einer Ecke des Raumes – wie ein Rosenblütenblatt im Schnee.

»Keineswegs«, antwortete Heather. »Bereuen Sie Rosa Bakers Tod? Oder wie sieht es mit den anderen Opfern des Cross-Country-Killers aus? Ich meine den Opfern Elroy Jordans.«

Moores blaue Augen begannen zu blitzen. »Klingt ganz so, als wollten Sie noch immer eine Stimme für die Opfer sein. Ich hatte mich schon gefragt, ob Sie diesen Enthusiasmus inzwischen verloren haben.«

»Das hat sich nie geändert.«

»Bei den meisten tut es das.«

»Was kümmert Sie das?« Heather warf einen Blick auf die Tür, schätzte die Entfernung ab. Fragte sich, wie viele Sekunden sie hätte, ehe sich Johanna Moore umdrehen und schießen würde.

»Ich kann Ihnen E überlassen«, sagte Moore.

Heathers Herz raste in ihrer Brust. Sie sah die Frau in Weinrot an und musterte ihr bleiches Gesicht. In ihren Augen schien sich Ernsthaftigkeit widerzuspiegeln, doch Heather vermutete, dass sie nur die Oberfläche sah. In der blauen Tiefe lauerte etwas anderes.

»Dann können Sie endlich eine Stimme für seine Toten sein und den Familien seiner Opfer Gerechtigkeit zuteilwerden lassen. Sie müssen nur Ja sagen.«

»Ah. Jetzt kommt der Haken. Wozu soll ich Ja sagen?«

Moore öffnete die Lippen. Heather starrte auf die langen Fänge und dachte fieberhaft nach, während ihr fast das Blut gefror.

»Zu mir«, sagte Moore.