21

IN UNGNADE

Lucien fiel. Die Welt drehte sich unter ihm. Die Stadt verschwamm zu einem verwirrenden Lichtpunkt. Kalte Luft schlug ihm ins Gesicht, kühlte seine Wangen und überzog sein Haar und seine Flügel mit einer dünnen Eisschicht.

Dantes Schilde waren zerstört. Erinnerungssplitter stiegen aus der Tiefe auf und glitten durch sein Bewusstsein. Schmerz verschlang Dante von innen heraus – Schmerz, der so heftig war, dass es Lucien aus dem Himmel auf die Erde herabriss.

Das Chaoslied, dunkel, verschlungen und pulsend, floss in Luciens verbrannten Geist. Schöpfer. Unschöpfer. Führungslos und einsam.

Er wusste in diesem Augenblick, dass er seinen Sohn im Stich gelassen hatte. Genauso wie er Genevieve im Stich gelassen hatte – und Jahwe.

Die hohen Türme einer Kirche tauchten unter ihm auf; verwitterte schwarze Giebel füllten sein Sichtfeld. Er krachte durch das alte Holz, stürzte durch Dachboden, Decke und dicke Holzbalken. Jeder Aufprall drehte seinen Körper um die eigene Achse. Seine Knochen brachen. Holzsplitter bohrten sich in seine Flügel, und Schmerz umhüllte ihn wie ein rotglühendes Netz.

Wie ein Komet fiel Lucien in einen schimmernden Raum. Über ihm standen die Worte SANCTUS SANCTUS SANCTUS DOMINUS DEUS SABAOTH, die in die gebogenen Balken der hohen Decke geschnitzt worden waren.

Sein Schmerz schlug in seine Verbindung zu Dante zurück. Dessen Lied wurde schwächer und verstummte dann.

Lucien?

Lucien schloss mit letzter Kraft die Verbindung zwischen ihnen. Dann knallte er auf die schweren hölzernen Kirchenbänke. Sein Körper schien vor Schmerz zu zerspringen, während Holzsplitter durch die nach Kerzen duftende Kathedrale von St. Louis flogen. Er schlug auf dem Boden auf.

Die goldene Decke drehte sich. SANCTUSSANCTUSSANC-TUS verschwamm zu einer bernsteinfarbenen Farbschliere.

Lucien versank in Dunkelheit.

 

Heather tauchte aus traumloser Finsternis auf. Ihr Kopf schmerzte. Sie schlug die Augen auf und starrte in den wolkenverhangenen Nachthimmel. Sie lag auf dem Boden – einem harten, feuchten Kiesgrund, so wie sich ihr Rücken anfühlte. Sie versuchte, sich zu erinnern, was geschehen war.

Ein Windstoß. Berstendes Glas.

Zeit für Dante, aufzuwachen.

Ronins Stimme hallte durch Heathers pochenden Kopf. Sie setzte sich auf oder versuchte es zumindest. Etwas an ihrem rechten Handgelenk riss sie hart und mit einem Klirren zurück, und sie fiel auf die Seite. Sie atmete den Geruch nassen Schmutzes, von Öl und faulendem Abfall ein. Sie warf einen Blick auf ihr Handgelenk. Etwas Metallisches glänzte dort im Dunkel. Man hatte sie in der Gasse an ein Abwasserrohr gekettet.

Wie lange war sie bewusstlos gewesen? War Dante noch drinnen? Was war mit Ronin?

Heather rutschte auf das Abflussrohr zu. Dort drehte sie dem Bauwerk den Rücken zu und setzte sich auf. Sie tastete die Handschellen ab. Wahrscheinlich ihre eigenen. Dann fasste sie nach ihrer Tasche, doch sie war nicht mehr da. Nach einer Weile entdeckte sie sie am anderen Ende der Gasse. Der Inhalt war wie Konfetti über den Kiesboden verteilt. Sie schlug mit dem Kopf gegen das Haus hinter ihr.

Wo war ihre Pistole?

Ein rasches Absuchen der Umgebung bestätigte ihre Befürchtung: Sie war nirgends zu sehen.

»Mist. Mist. Mist!«

Erinnerungsfetzen. Ein Feuerrad aus Metall rast durch die Nacht …

Sie blickte zum Dach des Schlachthauses hinauf. Na gut. Es musste einen Weg geben, wie sie da rauf kam. Ein volles Magazin in ihrer Manteltasche … Heather tastete den Trenchcoat ab und spürte es unter dem Stoff. Sie schloss die Hand um das rechteckige Ding.

Erleichtert atmete sie auf und schaute dann zum Seiteneingang des Gebäudes. Die Tür stand halboffen, so dass etwas Licht in die Gasse fiel. Sie lauschte, konnte aber nichts hören. Ihr Blick wanderte über die Sachen, die in ihrer Tasche gewesen waren: Make-up-Beutel, FBI-Marke, Geldbörse, Schlüssel, Pfefferminzkaugummi, Nagelschere, Handy, Nagelfeile, eine kleine Taschenlampe.

Heathers Blick kehrte ruckartig zur Nagelfeile zurück. Wenn sie sie erreichen konnte, konnte sie vielleicht das Schloss der Handschellen öffnen.

Sie beugte sich so weit vor, wie es ihre Fessel zuließ und streckte den freien Arm nach der Nagelfeile aus. Ihre Finger bemühten sich, sie zu erreichen, und ihre Nägel gruben sich in den Kies. Sie streckte sich, die Handschellen zerkratzten ihr Handgelenk und drückten gegen den Knochen. Schmutz bohrte sich unter ihre Nägel.

Keuchend vor Anstrengung und Atemlosigkeit und mit einem qualvoll pochenden Handgelenk drückte sich Heather mit dem Rücken gegen die Mauer. Es war zu weit. Wenn sie etwas gehabt hätte, mit dem sie danach angeln könnte …

Sie legte sich auf die Seite, den gefesselten Arm hinter sich ausgestreckt, und tastete den Kies mit den Füßen ab. Ihre Schuhe schoben und traten die Steinchen, Müschelchen und Glassplitter, Zigarettenstummel und hart gewordene Kaugummis auf ihre Hand zu.

Ihre Fingerkuppen glitten über Metall. Sie sah auf den Boden vor sich. Eine völlige verdreckte Feile lag neben ihrer Hand. Sie schlang die Finger darum und griff entschlossen zu.

Dann setzte sie sich auf, drehte die Feile um, nahm sie wie ein Messer in die Hand und schob sie unter die Rohrhalterung. Mit aller Kraft begann sie, das Instrument nach hinten zu drücken. Die Feile ließ die Farbe am Rohr und der Halterung absplittern, während Heather mit zusammengebissenen Zähnen die Feile zur Seite drehte.

Gib nach, verdammt!

Ein Teil der Haltung löste sich plötzlich vom Gebäude. Die Feile schnitt durch die Luft, und Heather stürzte auf die Ellbogen. Ohne zu zögern, zog sie die Handschellen am Abflussrohr nach unten und heraus.

Sie sprang auf und rannte zum hinteren Teil des Schlachthauses. Dort machte sie einen Satz, erwischte die letzte Stufe der Feuerleiter und zog. Die Leiter glitt herunter, allerdings mit einer Lautstärke wie ein Mülltonnendeckel, der um vier Uhr früh scheppernd auf die Straße fällt. Sie umfasste die kalten Sprossen und kletterte los, wobei die baumelnden Handschellen immer wieder scheppernd gegen das Metall schlugen.

Als sie aufs Dach geklettert war, fielen ihr als Erstes Glasscherben auf, die der Mond beleuchtete. Sie bemerkte, dass ein Oberlicht in der Mitte des Daches kaputt war und ein großes Loch hatte.

Berstendes Glas. Dante.

Heather hielt alle paar Schritte inne, um den Rhythmus zu unterbrechen. Schließlich wollte sie nicht, dass Ronin von ihrer Flucht erfuhr. Sie hockte sich hin und suchte nach einem schimmernden Metallstück, ihrem Achtunddreißiger – und entdeckte ihn tatsächlich in der Nähe des kaputten Oberlichts zwischen den Glasscherben.

Sie stand auf und schlich in ihrem bewusst arhythmisch gehaltenen Schritt-Schritt-Pause-Schritt-Pause-Gang weiter. Dann schob sie die Hand in die Tasche ihres Trenchcoats und holte das Magazin heraus. Sie kniete sich hin, wobei sie versuchte, auf den Glasscherben kein knirschendes Geräusch zu machen, hob die Waffe und schob das Magazin hinein.

Ein Schrei durchschnitt die Stille – verzweifelt und wund, erfüllt von dem Wunsch, etwas nicht wahrhaben zu wollen. Sie erstarrte, ihr Puls raste. Das Geräusch verstummte nach mehreren, eine halbe Ewigkeit dauernden Sekunden, und verwandelte sich in ein leises, zornbebendes Heulen.

Dante.

Mit pochendem Herzen sprang Heather auf und rannte zur Leiter. Halb steigend, halb springend kletterte sie die Sprossen hinunter und machte einen Satz auf den Boden, raste um die Ecke und rannte dann die Gasse hoch zum Nebeneingang, wo sie so leise es nur ging das Schlachthaus betrat.

 

Als er Dantes verzweifeltes Heulen vernahm, stellten sich Ronin die Nackenhaare auf. Ihm gefror das Blut in den Adern. Fast hätte er den Jungen losgelassen. Fast. Wahnsinn und Zorn lagen in diesem Schrei, der unheimlich schaurig im Schlachthaus widerhallte. Selbst Etienne war offenkundig entsetzt, und seine hämischen Bemerkungen verstummten.

Ronin stolperte in Dantes Bewusstsein, als die Schilde, gegen die er gedrückt hatte, zusammenbrachen. Schmerz flog ihm auf sein Eindringen hin wie ein aufgebrachter Wespenschwarm entgegen. Bilder wirbelten in zerbrochenen Fragmenten durch Dantes Geist, die Ronin kaum zu entziffern vermochte.

Ein Anarchiesymbol, das in einen blassen Oberkörper geschnitten ist …

Ein herabfallender Blutstropfen verwandelt sich in eine metallisch aussehende Wespe und fliegt davon …

Ein zerbrochenes Fenster, das jedoch über den ganzen Horizont reicht …

Zitternd und schwindlig zog sich Ronin wieder aus Dantes Bewusstsein zurück. Johanna hatte ganze Arbeit geleistet. Der Junge war zerstörter und kaputter, als er gedacht hatte. Er war ernüchtert. Dantes Schilde waren gefallen, aber die Erinnerung verbarg sich noch immer hinter schwer verständlichen Symbolen. Er war wach, doch er sah alles nur in Tarotkarten-Bildern – eindrucksvoll, aber verwirrend. Die wahre Erinnerung lauerte noch in seinem Unbewussten.

Vielleicht musste er noch stärker angestoßen werden?

Er krallte seine Finger in Dantes seidiges Haar und riss dessen Kopf zurück, so dass der Hals angespannt war. Der Junge wehrte sich gegen Ronins und Etiennes festen Griff. Seine Muskeln krampften.

Du wirst mein Blut nie schmecken.

Ronin bohrte die Fänge knapp über dem Bondagekragen in Dantes Hals. Heißes Blut, das nach schwarzen, sonnenwarmen Trauben schmeckte und mit Adrenalin und Zorn gewürzt war, spritzte ihm in den Mund. Ronin schluckte und schluckte. O ja, ein Blutgeborener, und mehr als das. Elektrische Energie rauschte durch Ronins Adern. Er schlang die Arme noch enger um den zuckenden jungen Vampir und presste die Lippen noch fester auf die fiebrige Haut. Dantes starker Herzschlag pulsierte durch sein Bewusstsein.

Ronin hört ein Flügelschlagen.

Unfähig, seinen Herzschlag noch von Dantes zu unterscheiden, riss Ronin den Mund vom Hals des Jungen los. Der Geschmack von Dantes Blutes lag ihm noch auf der Zunge, köchelte in seinen Adern und züngelte wie heiliges Feuer in seinem Geist.

»Du hast dich geirrt, Junge«, sagte Ronin. »Ich habe dein Blut mehr als nur geschmeckt.«

»Lass mich los, chien, und wir werden sehen, wie lange es in deinen Adern bleibt«, zürnte Dante leise und gequält.

Blutgeborener und …? Die Erinnerung an Lucien De Noirs dunklen, erdigen Geruch ließ Ronins Herz schneller schlagen. Ein Gefallener? Eine faszinierende Möglichkeit. Wenn es stimmte, so war das eine Information, die Johanna fehlte. Sie hatte nie gewusst und sich auch nicht dafür interessiert, wer Dantes Vater war. Gedankenlos und ein großer Fehler.

Sein Herz beruhigte sich allmählich, und Ronin ließ Dantes Haar los. Dann strich er mit den Fingern über den Stahlreifen um den Hals des Kindes. Seine Hand verkrampfte sich.

»All das ist für dich. Verstehst du?« Er fasste Dante mit der anderen Hand am Kinn und drehte seinen Kopf so, dass er die leblose Gestalt des Sterblichen in der Zwangsjacke anschauen musste. »Für dich.«

Dantes Wut tobte und schlug gegen seine Schilde wie ein Vorschlaghammer. Ronins Finger drückten so lange, bis der Junge zu keuchen begann und gegen ihn sackte. Etienne rammte die Faust in Dantes bereits angebrochene Rippen. Eine weitere Rippe brach. Der Junge keuchte vor Schmerzen.

»Ich werde dein Haus niederbrennen und dich zwingen, dabei zuzusehen, marmot«, sagte Etienne. »Ich werde dich austrinken …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern warf Ronin einen verwirrten Blick zu. »Was ist das?«

Ein schwaches bläuliches Licht schimmerte aus Dantes Handflächen. Ronin erstarrte. Dieser Anblick alarmierte ihn zutiefst, so dass Adrenalin seinen gesamten Körper überschwemmte. Was war das? Eine Kraft ging von dem Jungen aus, die chaotisch und hemmungslos schien.

Etwas, was für einen gewöhnlichen Vampir nicht typisch war.

Dante wand sich in seiner Umarmung, bemühte sich, die leuchtenden Hände hochzubekommen. Als Ronin ihn losließ, indem er pfeilschnell die Arme zur Seite riss, geschahen drei Dinge auf einmal:

Etienne sagte: »Du bleibst hübsch hier, marmot

Dante streifte über den Ring- und den kleinen Finger von Ronins linker Hand.

Etiennes Kopf zuckte nach vorn und wieder zurück, wobei seine Zöpfchen hin und her flogen und ein lauter Pistolenschuss im Schlachthaus widerhallte.

Ronin sprang auf. Eine seltsam ungesteuerte Energie kribbelte in seiner Hand. Zog und entrollte sich. Formte ihn um. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er umfasste sein Handgelenk und sah auf seine Hand. Die letzten beiden Finger waren verschwunden. Sie existierten nicht mehr. Seine Hand hatte sich so umgeformt, dass sie aussah, als hätte sie nie mehr als drei Finger besessen.

Er blickte darauf. Das Herz schlug bis zum Hals. Allmählich ließ der Schmerz nach. Sein Kopf weigerte sich zu akzeptieren, was er sah. Eine Bewegung in seinem Augenwinkel erregte seine Aufmerksamkeit, und er sah auf.

Dante hatte sich aufgerichtet und wirbelte in atemberaubender Geschwindigkeit herum, so dass er Ronin gegenüberstand. Selbst blutüberströmt und voller Verletzungen war seine Schönheit noch immer mitreißend. In den auf einmal goldgesprenkelten Augen des Jungen tobte der Zorn – ein Zorn, der dreiundzwanzig Jahre lang genährt worden war. Doch da war noch etwas anderes – uralte, wiedererweckte Trauer.

Goldgesprenkelte Augen. Ein Hinweis auf einen Gefallenen? Oder erwachte S jetzt doch?

»Sie hieß Chloe«, sagte Ronin ruhig, »und du hast sie getötet. «

Dante erstarrte. Schmerz flackerte in seinen Augen.

Ronin bewegte sich atemberaubend schnell.

 

Heather drückte erneut ab. Die Kugel peitschte durch leeren Raum, der Knall zerriss die Stille. Sie fuhr herum und versuchte, Ronin zu sehen. Tatsächlich entdeckte sie ihn, wie er gerade dabei war, mit beiden Fäusten auf Dante einzuschlagen, so dass dieser auf den Betonboden sackte. Noch ehe sie auch nur blinzeln konnte, trat Ronin Dante mit dem Fuß in die Rippen und schleuderte ihn so durch den halben Raum.

Heather feuerte noch zwei Kugeln ab. Ein schmerzverzerrtes Ächzen verriet ihr, dass zumindest eine getroffen hatte. Sie lief an der Wand entlang, die Pistole mit beiden Händen krampfhaft umklammernd. Langsam kam sie Dante näher.

Dante hustete und spuckte.

Stille.

Heather ließ die Achtunddreißiger sinken. Ronin war fort. Sie atmete die nach Blut und Wachs riechende Luft ein und stieg über Etienne hinweg, der wie eine Lumpenpuppe auf dem Boden lag.

»Dante!«, rief sie über die Schulter. »Alles klar?« Ihr war klar, wie bescheuert das klang. Natürlich war nicht alles in Ordnung. Sein Freund war tot, und ihn hatte man aufs Übelste misshandelt. Aber sie musste seine Stimme hören, um abschätzen zu können, wie verletzt er war.

»Lucien … nein!«, erwiderte er heiser und tief beunruhigt.

Lucien? De Noir war nirgends zu sehen. Aber Dante hatte ihr mitgeteilt, was sie wissen musste. Er war verletzt. Vielleicht sogar schwer. Sie ging neben Etienne in die Hocke, während sie einen schnellen Blick über die Schulter auf Dante riskierte. Er kniete auf dem Boden, den Kopf gesenkt, so dass sein schwarzes Haar sein Gesicht verdeckte. Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Boden auf, als befürchte er, sonst das Gleichgewicht zu verlieren.

»Sanctus, Sanctus, Sanctus.« Er bebte.

»Halte durch«, sagte sie. »Hörst du? Wir gehen hier zusammen raus.«

Ein heilendes Loch entstellte Etiennes bleiche Stirn. Blut lief ihm übers Gesicht und aus einem Nasenloch. Seine Augen waren halb geschlossen. Heather legte die Hand auf seinen Hals. Sie konnte deutlich einen Pulsschlag spüren. Schätze, er hat doch ein Herz.

Sie drückte die Mündung ihrer Waffe auf Etiennes Brust, und zwar direkt an der Stelle, wo sein Herz sein sollte. Das ist eine Hinrichtung. Wenn du das tust, kannst du genauso gut deine Marke und alles, wofür sie steht, draußen in die schmutzige Gasse werfen.

Schweiß lief ihr über die Schläfen und zwischen ihre Brüste. Ihre Muskeln bebten. Wie soll ich diesen Abschaum denn vor ein Gericht bringen? Er ist ein Vampir, dachte sie. Ihr wurde bewusst, dass sie es endlich glaubte. Er ist ein Mörder.

Dante auch.

So ist das, Pumpkin. Einige erwischst du und kannst sie der Justiz ausliefern. Einige bringst du zum Schweigen, und wieder andere lässt du laufen.

Nein, nein und nochmal nein!

Ihr Finger krümmte sich um den Abzug, während sie zu keuchen begann.

»Er gehört mir.«

Erschreckt nahm Heather die Pistole von Etiennes Brust. Ihr Finger lockerte sich. Sie blickte in Dantes dunkle, geweitete Augen. In seinem Gesicht zeigte sich nicht einmal die Andeutung eines Wiedererkennens.

Er weiß nicht, wer ich bin. Dass sie diese Erkenntnis so verletzte, überraschte sie fast ebenso wie die Tatsache selbst. Wie Annie, wenn sie sich in ihrer Welt aus Migräne, Schmerz, Alkohol und Wahnsinn verlor: Wer zum Teufel bist du? Wie Annie – übelgelaunt. Gekränkt. Voller roher Emotion.

Heather stand auf, ohne Dante aus den Augen zu lassen. In ihm tobten wilde Gefühle. In seinen Augen brannte es, sein bleiches Gesicht wirkte fiebrig, und sein Körper schien ein einziger angespannter Muskel zu sein. Er setzte sich auf den Vampir mit dem Kopfschuss, packte ihn am blutbefleckten Hemd und riss mit einem einzigen Ruck seinen Oberkörper nach oben.

»Lass«, sagte sie. »Du bist verletzt. Lass mich dir helfen. «

Aber Dante antwortete nicht, und sie war sich nicht sicher, ob er sie überhaupt gehört hatte.

Etiennes Kopf hing schlaff herunter. Seine Zöpfchen schleiften über den Boden, so dass die Perlen leise auf dem Beton klapperten. Einen kurzen Augenblick lang sah Heather Dantes Reißzähne, ehe er in Etiennes nach hinten gebogenen Hals biss. Sie sah, wie der Vampir sich krümmte und die Augen aufriss. Sie hörte ihn fauchen.

Dante riss Etiennes Haut auf. Blut spritzte.

Heather starrte mit wild pochendem Herzen auf das Bild, das sich ihr bot. Ihre Finger krallten sich um die Achtunddreißiger. Dante trank nicht nur von Etienne. Da war noch etwas anderes. Etwas Primitives, Animalisches. Übelgelaunt und gekränkt. Ihr in all den Jahren beim FBI auf bestimmte Reaktionen getrimmtes Bewusstsein sagte ihr, dass sie ihre Waffe auf Dante richten musste, um dem Gemetzel vor ihren Augen ein Ende zu bereiten.

Aber – hatte sie auch das Recht, sich einzumischen? Dante war kein Mensch, das wusste sie jetzt, und Etienne ebenso wenig. Trafen auf die beiden menschliche Gesetze zu? Gab es ein Gesetz für Nachtgeschöpfe? Gerichtshöfe für Vampire?

Oder sah so die Justiz der Nachtgeschöpfe aus? Mann gegen Mann, wild, blutig und persönlich? Handelte Dante korrekt und gesetzmäßig? Was war mit Etienne?

Heather trat in etwas Klebriges auf dem Boden. Als sie hinuntersah, stellte sie fest, dass sie in einer Blutlache stand, die sich um das Opfer – nein, um Jay, sein Name war Jay – in der Zwangsjacke gebildet hatte. Ohne es zu merken war sie offenbar einige Schritte zurückgewichen.

Sie drehte sich um und sah in Jays ausdruckslose grüne Augen. Dann ging sie in die Hocke und strich über seine noch warme Wange. War er gestorben, während Dante zusehen musste? Sie dachte an seinen herzzerreißenden Schrei, und ihr Hals schnürte sich zu. Sie hätte nie zulassen dürfen, dass er allein hineinging.

Wir sind ganz auf uns gestellt. Der Fall ist offiziell abgeschlossen. Ich kann keine Verstärkung anfordern.

Ich auch nicht.

Ich bin deine Verstärkung.

Sie nahm die Hand von Jays Gesicht und ballte sie zur Faust. Tolle Verstärkung. Als Dante sie gebraucht hatte, war sie nicht dagewesen. Es war egal, dass sie nicht damit gerechnet hatte, von einem Vampir daran gehindert zu werden. Was zählte, war, dass sie Dante und den Freund, den er zu retten versuchte, im Stich gelassen hatte.

Ronin und Etienne hatten Jay verschleppt und ermordet. Auch Gina? Konnte sie sich geirrt haben, was den CCK betraf? Hatte er nichts damit zu tun gehabt? Der Täter, dem sie seit drei Jahren auf der Spur war, hatte eine menschliche DNS.

Plötzlich ging ihr ein Licht auf, und alles ergab einen Sinn.

Ronins Mitarbeiter – Elroy Jordan.

Zwei Mörder. Eine Zweckgemeinschaft? Das war eine Möglichkeit, die sie bisher nie in Betracht gezogen hatte. Hinter dem Hillside Strangler hatten sich auch zwei Männer verborgen – Vettern. Waren Ronin und Elroy Jordan zusammen der CCK? Oder taten sie nur so? Sie war nicht sicher, wie Etienne in dieses Szenario passte. Vielleicht war er nur mitgekommen, weil er Dante abgrundtief hasste.

Also … wo war Elroy Jordan?

Etwas schlug auf dem Beton auf. Heather fuhr auf den Fußballen herum.

Dante wischte sich mit dem Handrücken das Blut von den Lippen und stand auf. In seiner anderen Hand baumelte Etiennes Kopf, die Zöpfchen hatte er sich um die Finger geschlungen. Er ließ den Kopf auf Etiennes Brust fallen. Die Perlen schlugen bei jedem Herzschlag leise gegeneinander. Die Augen blinzelten.

Dante stieg über den noch lebenden Körper hinweg, holte eine Kerze aus einer Kiste neben dem Eingang und kehrte dann zu Etienne zurück. Die Augen in dem Kopf begannen wild zu rollen. Dante berührte mit der brennenden Kerze die dunklen Zöpfchen, das teure Hemd und die Designerhose. Rauch stieg auf. Haar und Stoff begannen zu brennen.

Dante richtete sich mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung wieder auf. Der Gestank des brennenden Haars und Fleisches ließ Heather würgen. Mit einem letzten Blick auf Jay stand sie auf und trat aus der schmierigen Blutpfütze.

Dante sah zu, wie Etienne brannte.

»He«, flüsterte Heather. Sie streckte die Hand nach ihm aus. Doch er wirbelte herum und schlug ihre Hand fort, während er sie gleichzeitig am Oberarm ergriff und an sich zog. Dann senkte er den Kopf.

Heather bohrte ihm die Pistole in die Rippen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. In seinen Augen sah sie Einsamkeit, Trauer und Sehnsucht. Sein Körper schien den ihren mit einem lodernden Feuer zu verbrennen, das dem, das Etiennes Gestalt in Asche verwandelte, in nichts nachstand.

Dante knabberte an ihrem Hals. Seine Lippen strichen über ihre Haut, und sie erstarrte, auch wenn die Flammen bei seiner Berührung auch in ihr zu züngeln begonnen hatten. Sie legte die Finger fester um den Abzug der Achtunddreißiger. Dante hob den Kopf. Schweißfeuchte Haarsträhnen klebten ihm im Gesicht, und Blut lief aus seiner Nase. Er schloss die Augen. Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte. Sein gesamter Körper bebte, während er versuchte, sich unter Kontrolle zu bekommen.

Heathers Arme kribbelten. Ihre Finger waren eiskalt, als Dantes Griff ihre Blutzirkulation fast zum Erliegen brachte. Merkte er überhaupt, dass sie ihm eine Waffen gegen die Brust drückte? Oder war es ihm einfach einerlei? In ihrem Herz machte sich Trauer breit.

»Dante, tu’s nicht.«

Seine Augen öffneten sich. Mit geweiteten Pupillen mit rot gesprenkeltem braunen Rand sah er sie an. Er ließ sie los und berührte mit bebenden Fingern ihr Gesicht, strich ihr einige Strähnen aus dem Gesicht.

»Heather«, wisperte er.

In Heathers Armen kribbelte es unangenehm, als ihr Blut wieder zu zirkulieren begann. Sie senkte die Waffe. Die Erleichterung und Verwunderung in Dantes Stimme zeigten ihr, dass er sie für tot gehalten hatte. Sie konnte sich genau vorstellen, was Ronin behauptet hatte: Habe draußen die Agentin erwischt. Ihr Hals brach wie ein Streichholz.

Warum hatte er sie nicht umgebracht?

Heather berührte mit kalten Fingers Dantes Wangen. »Du bist verletzt«, sagte sie. »Lass uns …« Einen Augenblick lang spürte sie nur noch glatte, erhitzte Haut, im nächsten bereits nur noch Luft.

»Lauf so weit weg, wie du kannst.« Seine Stimme klang gepeinigt.

Sie wandte sich dem Klang zu. Dante stand im Eingang, die Hände in die Hüften gestemmt. Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, doch es war bereits zu spät.

Dante war fort.