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DER TEUFEL STECKT IM DETAIL

Heather saß im Schneidersitz auf dem Parkettboden und betrachtete die ausgedruckten Papiere, die ihr Trey gegeben hatte. Ihre Erschöpfung verschwand schlagartig und machte großer Erregung Platz. Elroy Jordan war jetzt in New York, hatte aber zuvor in Seattle gelebt – wo er auch geboren und aufgewachsen war –, und zwar zur Zeit der beiden ersten Morde. Er hatte sogar in der Nähe des ersten Opfers, einer gewissen Karen Stilman, gewohnt. Kreditkartenbelege zeigten, dass er in Portland, Oregon und Boise in Idaho gewesen war, als es Morde in diesen Städten gegeben hatte. Man konnte Elroy Jordan tatsächlich nachweisen, dass er sich bei jedem Mord in der jeweiligen Stadt aufgehalten hatte.

Papier raschelte, als sich Heather die Seite über Ronin vornahm. Nichts wies darauf hin, dass sich der Journalist vor dem zweiten Mord in Seattle aufgehalten hatte. Das galt auch für die Morde in Portland, Boise, Salt Lake City und Helena. Heather runzelte die Stirn und durchsuchte die Zeilen nach Parallelen oder Ungereimtheiten. Sie war sicher, dass Jordan und Ronin als Team arbeiteten. Aber bislang gab es keine Beweise dafür.

Nach dem Mord in Helena in Montana wiesen Ronins Kreditkartenbelege und Mietautobenutzungen darauf hin, dass er in New York gewesen war – und zwar vor dem Tod Byron Hedges. Nicht danach.

Wenn, wie Stearns sagte, Johanna Moore Psychopathen geschaffen hatte, um diese zu beobachten, dann stellte sich die Frage, ob Ronin für sie arbeitete. Woher sonst sollte er wissen, wie er Dante dazu bringen konnte zu handeln, wie er das wollte? Warum wollte er das? Welchen Vorteil zog er daraus? Oder arbeitete Ronin vielleicht gegen Moore und falls ja – wieso? Wieder stellte sich die Frage, welchen Vorteil er daraus zog.

Heather blickte auf das Blatt Papier und betrachtete dann noch einmal die Seite zu Jordan. Man konnte die beiden nicht miteinander in Verbindung bringen, was die Morde in Omaha, Chicago oder Detroit betraf – Ronin tauchte in keiner der Städte vor den jeweiligen Morden auf. Aber er war in New York gewesen, ehe Byron umgebracht wurde. Kurz danach waren Ronin und Jordan zusammen in New Orleans aufgetaucht.

Der nächste Mord? Der an Daniel Spurrell.

Aus irgendeinem Grund hatte Ronin Jordans Weg gekreuzt und so den Pfad von Johanna Moores wanderndem Psychopathen gestört und ihn nach New Orleans gelockt, und zwar zu Dante.

Also … war Elroy Jordan vielleicht doch allein der CCK. Wie sah dann Ronins Rolle aus? Entweder er oder Etienne hatten Jay auf dem Gewissen. Jordan war schließlich nicht mal da gewesen.

Heather rieb sich mit einer Hand übers Gesicht. Ihre Aufregung ließ nach. Nichts ergab so recht Sinn. Sie musste unbedingt schlafen, aber zuerst musste sie Dante finden.

Leder knirschte, als sich Simones Bruder in seinem Liegesessel bewegte. Seine Finger zuckten durch die Luft, ordneten Daten und wühlten sich durchs Netz. Der Geruch heiß gelaufener Schaltkreise und Ingwer vermischte sich in dem schlecht gelüfteten Zimmer.

»Danke für die Hilfe, Trey«, sagte Heather und stand auf.

Trey erwiderte nichts. Man hörte nur nochmals das Leder knirschen, als seine Finger mit den Metallkappen durch die Luft fuhren. Seine Dreadlocks streiften den Boden. Heather bezweifelte, dass er sie gehört hatte. Sie fragte sich, ob Trey auf seine eigene Art ebenso verloren war wie Annie. Möglicherweise hatte seine Verwandlung in einen Vampir nicht solche Wunder bewirkt, wie das Simone vermutlich gehofft hatte. Heather verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

Stearns’ Autoschlüssel klimperten in ihrer Tasche, als sie den Flur entlanglief und dabei an ihren Chef dachte, der festgebunden in der Küche saß.

Was hast du vor, Wallace? Willst du ihn gefangen halten? Wie lange? Sie dachte an die Akte über Dante in seinem Auto.

Sie faltete den Ausdruck. Er will Dante. Er hält ihn für ein Monster. Sie blieb unter der Küchentür stehen, die angelehnt war, und sah hinein. Stearns saß noch auf dem Stuhl. Er war eingeschlafen. Sein Kinn war nach vorn gesackt, er hatte die Augen geschlossen.

Was, wenn er Recht hat?

»Ich gehe jetzt die Akte holen«, sagte Heather.

Stearns hob den Kopf und sah sie mit wachen Augen an. Er hatte also nur getan, als schlafe er. »Ausgezeichnet.«

»Danach«, fügte sie hinzu und trat in die Küche, »möchte ich, dass Sie verschwinden.«

»Rufen Sie mich an, wenn Sie die Akte gelesen haben?«

»Ich kann nichts versprechen.« Sie legte den gefalteten Ausdruck auf den Küchentisch.

Dann trat sie zu ihrem Stuhl, über dessen Rückenlehne ihr Trenchcoat hing. Sie suchte in der Tasche nach ihrer Waffe. Ihre Finger glitten über das kühle Metall von Stearns’ Glock und legten sich um ihre Achtunddreißiger. Sie zog sie heraus und schob sie in den Hosenbund. Die harte Form der Pistole auf ihrer Haut hatte etwas Beruhigendes. Dann zog sie den Pulli darüber glatt.

»Bis gleich«, sagte sie.

An der Haustür griff Heather gerade die Hand nach dem Türknauf, als jemand ihre Schulter berührte. Sie drehte sich um und sah Simone in ihre dunklen Augen.

»Ich begleite Sie«, sagte sie. Ein tiefrotes Minikleid aus Latex schmiegte sich um ihre Kurven, wobei man durch den seitlichen Schnüreinsatz ihre blasse Haut sah. Ihre langen blonden Locken fielen ihr über den Rücken.

»Danke, aber ich brauche keinen Personenschutz«, antwortete Heather.

Simone zuckte die Achseln. »Ich möchte ein bisschen frische Luft schnappen.«

Heather nickte und öffnete die Tür, um in die feuchte, nach Rosen duftende Nacht zu treten. Leichter Nieselregen benetzte ihr Gesicht und perlte auf ihrem Pullover ab. Während sie den Pfad aus gebrochenen Steinplatten entlanglief, spürte sie Simone direkt hinter sich. Die einzigen Schritte, die sie vernahm, waren jedoch ihre eigenen.

Als sie ans Gartentor gelangte, blieb sie stehen und sah zum Haus zurück. De Noir hatte sich nicht bewegt. Er kauerte noch immer auf dem Dach, die regennassen Flügel auf dem Rücken gefaltet.

»Haben Sie gefunden, wonach Sie gesucht haben?«, fragte Simone.

»Ja«, antwortete Heather. »Ich habe eine Adresse Ronins in Metairie. Nichts für Jordan, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie zusammen wohnen. Das Schlachthaus gehört einer Immobilienfirma, die …«

Simone hob die Hand. Ihr Blick war nach innen gewandt. Nach einem Augenblick zeigte sich auf ihren Lippen ein Lächeln. »Von hat Dante gefunden. Sie sind auf dem Weg hierher. «

»Geht es ihm gut?«

»Einigermaßen.«

Unendliche Erleichterung breitete sich in Heather aus und lockerte die angespannten Muskeln in ihrem Nacken. Plötzlich war sie nicht mehr so zerschlagen. Sie beschloss, nicht darüber nachzudenken, was »einigermaßen« genau hieß. Von hatte Dante gefunden, und er befand sich auf dem Weg hierher. Nur das zählte. Sie trat durch das halb geöffnete Gartentor und ging gemeinsam mit Simone zur Straße.

»Sie meinten, Sie kennen Dante seit drei oder vier Jahren«, sagte Heather und versuchte, ihre Stimme so entspannt wie möglich klingen zu lassen.

»Oui. Er ist mon cher ami.«

»Sind Sie schon die ganze Zeit so gut befreundet?«

Simone blickte sie an. Die Schatten der Eichen, die die Straße säumten, fielen auf ihr blasses Gesicht. Sie öffnete den Mund, um zu antworten, doch in diesem Augenblick kam hinter ihnen ein Wagen angefahren und hielt am kiesbedeckten Straßenrand. Also schloss sie den Mund wieder und drehte sich rasch um, wobei sie eine Hand hob, um die Augen vor den grellen Scheinwerfern zu schützen.

Heather wirbelte auch herum, wobei sie gleichzeitig automatisch mit der rechten Hand nach hinten tastete, um nach der Achtunddreißiger zu greifen. Ein Wagen stand mit laufendem Motor vor dem Gartentor.

»Entschuldigen Sie«, sagte eine Frauenstimme von der Beifahrerseite. »Könnten Sie uns helfen? Wir haben uns wohl verfahren.«

»Oui«, entgegnete Simone und ging auf den Wagen zu. Sie beugte sich vor und sah in das heruntergefahrene Fenster. Ein roter Lichtpunkt zeigte sich auf ihrer Stirn.

Heather riss ihre Pistole hoch und schrie: »Simone! Runter! « Sie drückte ab und hörte zwei Schüsse durch die Nacht schallen.

Simone warf sich zu Boden, wo sie so hart aufschlug, dass sie liegen blieb und vor Schmerzen keuchte. Sie ist getroffen, dachte Heather. Die Kugel der Achtunddreißiger hatte sich auf der Beifahrerseite in die Scheibe gebohrt. Der Fahrer ließ den Motor aufheulen.

Heather ging auf ein Knie und eröffnete das Feuer. Sie drückte ab, bis sie ihre Trommel leergeschossen hatte. »Unten bleiben, Simone!«, rief sie und hoffte inbrünstig, dass die Kugel die Vampirin nicht ins Herz oder in den Kopf getroffen hatte.

Das Auto raste auf Heather zu. Sie rollte sich auf den Beton und den Eisenzaun zu, ehe sie wieder auf die Beine sprang. Während sie sich wünschte, ihren Trenchcoat zu tragen, rannte sie auf die dunkle Silhouette von Stearns’ Mietwagen zu und riss dabei die Schlüssel aus ihrer Hosentasche.

Kristallklar sah sie die Optionen vor sich, die sie jetzt hatte: Finde Stearns’ Ersatzpistole, und wenn das nicht klappt, lass den Motor an und ramme das Auto in diese Bastarde.

Adrenalin, das durch ihre Adern pumpte, heizte ihre Muskeln an. Ihr Herz schlug dreimal so schnell wie sonst, und die Luft brannte in ihrer Lunge.

Sie blieb neben dem Crown Victoria so abrupt stehen, dass der Kies unter ihren Füßen staubte. Hinter ihr kam das Motorengeräusch näher. Das Auto gewann an Tempo. Sie durchsuchte den Schlüsselbund, wobei sie die scharfen Kanten der einzelnen Schlüssel spürte, bis sie endlich den automatischen Türöffner fand.

Die Türen entriegelten sich. Heather riss die Beifahrertür auf und hechtete hinein. Sie tastete unter dem Sitz nach einer Ersatzpistole, die Stearns dort eventuell platziert hatte. Zwischendurch warf sie einen schnellen Blick aus dem Rückfenster auf das blauweiße Licht der Scheinwerfer des näher kommenden Wagens.

Eine Gestalt sprang aufs Dach des Autos. Simone hielt sich an der Dachreling fest und griff durch das Fenster nach dem Fahrer. Bremsen kreischten. Reifen quietschten. Der Geruch verbrannten Gummis stieg in die Luft. Das Auto rutschte zur Seite und rammte den Crown Victoria.

Der Aufprall schleuderte Heather mit der Schulter voran gegen das Armaturenbrett. Schmerz schoss durch ihre Schulter und die rechte Seite hinunter. Sie biss sich auf die Lippe. Das Handschuhfach klappte auf, und mehrere Landkarten und eine Pistole fielen heraus.

Bingo! Heather packte die Waffe und glitt aus dem Wagen. Dampf stieg von der Kühlerhaube des Wagens, der den Crown Victoria zerquetscht hatte, in die kalte Luft. Leise entsicherte sie die Pistole und schlich vorsichtig auf ihren Verfolger zu.

Die Frau, die geschossen hatte, war zur Seite gesackt. In ihrer Stirn befand sich ein dunkles Loch. Simone lag auf dem Wagen und hielt mit einer Hand den sich wehrenden Fahrer fest, während sie mit der anderen an seinem Haar riss. Sie hatte ihn bereits zur Hälfte aus dem Fenster gezerrt. Blut lief ihm übers Gesicht.

Heather ging hinten ums Auto herum und trat zum Fahrer, die Waffe in beiden Händen. Der Mann wand sich in Simones festem Griff und gab panische Grunzlaute von sich.

»Lassen Sie los«, rief Heather. »Ich habe ihn im Visier.«

Simone riss ihn ganz aus dem Fenster und schleuderte ihn auf die Straße. Er schlitterte über den Gehsteig, bis er kurz vor der gelben Markierung am Rand der Fahrbahn liegenblieb.

»Liegen bleiben«, sagte Heather, während sie auf ihn zuging. »Hände hinter den Kopf.«

Kalte Luft fuhr durch ihr regenfeuchtes Haar, als mächtige Flügel über ihr den Himmel durchpflügten. Ein Schatten verdunkelte die Straße.

De Noir landete neben dem Fahrer, packte ihn am Kragen und erhob sich zusammen mit ihm wieder in die Lüfte. Das laute, hysterische Schreien des Fahrers hallte durch die Nacht.

»Nein!«, rief Heather. »Bringen Sie ihn zurück! De Noir!«

Das Schreien endete schlagartig. Etwas schlug mit einem dumpfen Knall auf dem Boden auf – etwas, das in der kühlen Luft dampfte.

Heather drehte es den Magen um. Sie schluckte und schmeckte Blut. Dann lehnte sie sich gegen das Auto und senkte die Waffe. »Scheiße.«

Eine Gestalt raste so schnell durch das Gartentor und die Straße hinauf, dass Heather sie nur als Schatten wahrnahm. Dreadlocks und Kabel wirbelten hinter ihr durch die Luft. Mondlicht beleuchtete Treys metallene Fingerkuppen, als er neben dem Auto stehen blieb und seine Schwester ansah, Panik im Gesicht.

Das Auto wackelte, als Simone herunter glitt. Blut schimmerte auf ihrer bleichen Haut. Ein Loch verunstaltete ihr Kleid an der linken Schulter unmittelbar unterhalb des Schlüsselbeins. Trey berührte die Stelle vorsichtig mit einer seiner Metallfingerkuppen.

Simone zuckte zusammen. »Ist schon gut«, sagte sie und hob Treys Finger, um ihn zu küssen, ehe sie ihn wieder losließ. Dann legte sie einen Arm um seine Taille und lehnte sich an ihn.

Ein Flügelschlag ließ Heather aufschauen. De Noirs nackte Füße berührten die Straße. In einer seiner Krallenhände hielt er den Oberkörper des Mannes, in seiner anderen die untere Hälfte. Er ging zum Wagen. Heather merkte, wie ihr übel wurde. Eilig trat sie beiseite. Sie wollte nicht sehen, was De Noir da mitgebracht hatte. Er stopfte die Überreste des Mannes in den Wagen.

»Warum haben Sie ihn getötet?«, fragte sie. »Ich wollte ihn ausquetschen.«

»Er und seine Begleiterin wollten Sie umbringen, Agent Wallace«, erwiderte De Noir, »und alle in Ihrer Nähe.« Er trat zu Simone und berührte mit einem Krallenfinger ihr Gesicht. Sie schloss einen Augenblick lang die Augen. »Hätten Sie ihm glauben können, wenn er Ihnen etwas berichtet hätte?« Er sah Heather fragend an.

»Höchstwahrscheinlich nicht. Aber ich hätte es dennoch gerne versucht.« Sie schob die Waffe hinten in ihren Hosenbund und marschierte dann zum Crown Victoria zurück.

Nachdem sie die Waffe wieder ins Handschuhfach gelegt hatte, bemerkte Heather den verschlossenen Aktenkoffer auf dem Boden hinter dem Vordersitz. Sie versuchte, ob der kleine Schlüssel an Stearns’ Schlüsselbund passte. Der Koffer gab ein Geräusch von sich, und Heather drückte die Schnappschlösser auf. Im Koffer befand sich eine CD, Fotos – ihr stockte fast das Herz, als sie Dantes Gesicht erkannte – und mehrere braune Briefumschläge. Sie klappte den Koffer wieder zu und stieg aus dem Wagen.

Draußen wartete De Noir auf sie. Mondlicht und Schatten glitten über seinen Körper und seine Fittiche. »Gehen Sie hinein«, sagte er. »Ich kümmere mich um die Dinge hier draußen. «

Heather nickte, denn sie hielt es für besser, nicht genau nachzufragen, was er damit meinte, und wandte sich zum Gehen. Mit schweren Gliedern und erschöpft lief sie die Straße zum Haus hoch. Sie hatte alles Adrenalin in ihren Adern verbrannt, und jetzt war ihr vor Erschöpfung fast schwindlig.

Sie lief durch den leeren Salon in die Küche. »Ich habe die Akte und …«

Trey und Simone saßen am Küchentisch. Silver stand am Spülstein und befeuchtete ein Geschirrtuch. Stearns’ Stuhl war umgekippt und leer.

»Wo ist er?«, fragte Heather.

Simone schüttelte den Kopf. »Als wir kamen, war er schon weg.«

Heather sank auf den Stuhl, über dem noch ihr Trenchcoat hing, und stellte den Aktenkoffer auf den Boden. Sie durchsuchte die Manteltaschen. Stearns’ Glock war fort. Ein Blick auf den Tisch bestätigte ihr, dass auch der Ausdruck nicht mehr da war.

Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Scheiße.«