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DER ENDLOSE FALL

Bourbon lief in Thomas Ronins Whiskyglas und sah im Dämmerlicht wie dunkler, flüssiger Bernstein aus. Der Barkeeper zog die Kreditkarte, die Ronin auf die Theke gelegt hatte, durch die Maschine und schlenderte dann zum nächsten Gast an der langen, polierten Theke. Ronin nahm sein Glas und drehte sich um.

»Sieht aus, als hättest du es verpatzt«, meinte E mit affektiert klingender Stimme. Er schüttelte eine Zigarette aus einem zerknitterten Päckchen, schob sie sich zwischen die Lippen und zündete sie mit einem silbernen Feuerzeug an.

Ronin nahm ihm die Kippe aus dem Mund und ließ sie auf den Boden fallen, wo er sie mit der Spitze seiner Schlangenlederstiefel austrat. »Tu mir den Gefallen«, meinte er, »und sag mir, wie ich es verpatzt haben soll.«

E warf Ronin einen Blick zu. Seine Augen waren hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt, und auf seinem Gesicht zeigte sich ein breites Grinsen. Er schüttelte eine weitere Zigarette aus dem Päckchen, schob sie sich wieder zwischen die Lippen und zündete sie an. Dann blies er Ronin den grauen Rauch ins Gesicht. »Du denkst, du weißt Bescheid, was, Tommy-Boy? «

Ronin nickte und schlürfte seinen Bourbon. »Schon.«

»Ehrlich?« Es Grinsen wurde noch breiter. »Wusstest du auch, dass die Tussi, die da gerade mit Dante redet, Special Agent Heather Wallace ist?«

Ronins Hand zögerte einen Moment lang, ehe er weiter den Rauch wegwedelte. Er hob die Sonnenbrille ein wenig und starrte die Frau im Trenchcoat an, die auf dem Podest stand. Ja, das war sie – die Profilerin, die auf den Cross-Country-Killer angesetzt war.

»Selbst das Verändern des Modus Operandi und der Signatur und der ganze Scheiß haben sie nicht von der Fährte abgebracht«, sagte E voller Stolz auf seine gingeschwängerten komplizierten Wörter. »Mir war das klar. Heather ist nicht auf den Kopf gefallen.«

Es bewundernder Tonfall ließ Ronin den Blick auf ihn richten. Er starrte Agent Wallace mit dem Ausdruck eines Verliebten an. Oder mit dem, was ein kranker, kaputter Typ wie E für Liebe hielt.

Ronin trank seinen Bourbon aus. Er brannte in seinen Adern und weckte eine andere Art Gier. Er beobachtete Dante und die Frau. Der Kerl war beeindruckend. Seine Bewunderung ging aber über Dantes atemberaubende äußere Anmut weit hinaus. Er hatte Dantes Akte gelesen. Er wusste, was der Junge war und was er sein konnte.

De Noir stand hinter dem geschmacklosen Thron wie eine dieser Statuen, die die Mausoleen von St. Louis Nr. 3 bewachten. Was war De Noir? Kein Vampir. Etwas anderes. Etwas, was – wie Ronin vermutete – viel älter und mächtiger war.

Agent Wallaces attraktives Gesicht sah trotz des Zorns, der ihre Bewegungen abrupt wirken ließ, ruhig aus. Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging die Stufen zur Tanzfläche hinunter. Dann verschwand sie in der Menge.

Ronin wandte sich wieder der Bar zu. Er gab dem Barkeeper in Gedanken einen sanften Stoß, und dieser füllte sein Glas nach. Ronins Puls raste. In all den Jahrhunderten habe ich noch nie jemanden wie Dante gesehen oder gefühlt. Er kippte den Bourbon in einem Schluck hinunter. Er lief brennend den Hals hinab in den Magen, ohne dass Ronin ihn schmeckte.

E erinnert sich an seine Vergangenheit. Dante nicht. Warum? Sprang Johanna wegen seiner Abstammung mit Dante härter um? Trieb sie ihn bis zum Äußersten, so weit, wie es kein Sterblicher ertragen hätte?

Ronin sah zu, wie sich Dante wieder auf dem Thron niederließ und die blasse Haut seiner Schläfen massierte.

Ronin wandte sich an seinen Begleiter. »Schon jemanden gesehen, der dir gefällt?«

»Vielleicht den Jungen mit dem violetten Haar oder die Blondine, die bei ihm ist.« E starrte weiter geradeaus und durchsuchte ruhelos mit den Augen die Menge. Ein verräterisches Purpur leuchtete an den Rändern seiner Sonnenbrille auf. »Infrarot oder Wärmebild oder was auch immer«, dachte Ronin. E hatte wahrscheinlich alles installiert, was es so auf dem Markt gab.

Ronin schüttelte den Kopf. »Die würdest du nicht in den Griff kriegen.«

»Ich habe eine Idee«, sagte E fröhlich. Er drehte sich zu Ronin um. »Wie wäre es mit Dante? Er ist verdammt geil und verdammt gefährlich. Ich wette, mit ihm würde es wahnsinnig Spaß machen.« Das Grinsen verschwand von Es Gesicht. »Was meinste? Darf ich mit Dante spielen?«

Metall streifte über Jeans, als E eine seiner Klingen zog, die er an dem Llygad, der sie in den Club gelassen hatte, vorbeigeschmuggelt hatte. Ronins Hand schoss vor, packte E am Handgelenk und hielt es auf Hüfthöhe fest. Er drückte zu. Schweißperlen traten E auf die Stirn. Ronin drehte. E schnitt eine Grimasse und bleckte die Zähne. Der Geruch seines Schmerzes, brennend und bitter wie Galle, stieg Ronin in die Nase. Das Messer fiel mit einem leisen Scheppern auf den in Nebel gehüllten Boden.

»Wenn du das tust, stopfe ich dir deine Gedärme ins Maul«, knurrte Ronin. »Falls du ihn auch nur anfasst, ehe es an der Zeit ist, wirst du die längste Zeit gefeixt haben. Klar?«

E stierte ihn an; seine Augen waren zwar hinter der Sonnenbrille verborgen, aber sein Hass strahlte im Halbdunkel des Clubs wie radioaktive Strahlung aus einer kaputten Atombombe. Ronin drehte Es Handgelenk ein letztes Mal und ließ ihn dann los.

»Hast du vergessen, was er ist?«

»Nein, habe ich nicht, Arschloch. Ein gottverdammter Blutsauger.« E rieb sich das Handgelenk.

Dann bückte er sich und hob seine Klinge wieder auf, die er wie ein Zauberer bei einer billigen Dinnershow in Las Vegas im Jackenärmel verschwinden ließ. Mit zusammengebissenen Zähnen drehte er sich zur Bar und zeigte zuerst mit dem Finger auf den Barkeeper und dann auf sein Glas, falls der Kerl beschränkt war.

»Ist das klar?«, fragte Ronin.

E wirbelte herum. »Wie dicke Tinte«, murmelte sein Kumpan.

Ein hübsches dunkelhaariges Mädchen ließ sich auf Dantes Schoß nieder, während ein blonder Junge in Spitze, Samt und schwarzem Kajal um die Augen auf den Stufen des Podests stand und zusah, wie die beiden einander küssten.

»Denk an dein eigentliches Ziel«, murmelte Ronin, »und überlege dir genau, wer wirklich deine … künstlerische … Behandlung verdient.«

Hand in Hand gingen das dunkelhaarige Mädchen und der blonde Junge die Treppenstufen hinab und mischten sich unter die Leute.

»Erwischt. Die sind’s.« E stürzte den Rest seines Gin Tonics hinunter und knallte das Glas auf die Theke. Ein Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. Er sah Ronin an. »Bis später, Tom-Tom.« Er stieß sich von der Bar ab und verschwand in der Menge.

»Viel Spaß«, meinte Ronin trocken. Als er E nicht mehr sah, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Podest zu.

E schien nicht zu begreifen, dass Dante mehr als nur ein »Blutsauger« war. Er war als Vampir geboren und gehörte somit zu den seltenen Blutgeborenen – eine Tatsache, die auch Dante selbst nicht bekannt zu sein schien, und diese Unwissenheit hoffte Ronin zu seinem Vorteil zu nutzen.

Ronin beobachtete, wie De Noir mit den Fingern über Dantes Schläfen strich. Der Junge schloss für einen Augenblick die Augen. Doch dann befreite er sich von De Noir und stand auf. Mit großen Schritten eilte er die Treppenstufen hinab und verschwand in der schwitzenden, bewundernden, nach ihm greifenden Menge. Das Licht im Club wurde zweimal schwächer, ehe es schließlich ganz ausging.

Ronin schob sich seine Ohrstöpsel wieder in die Ohren. Die Menge unterhielt sich angeregt. Er zitterte, als die Spannung in der Menge auf einmal wie eine Welle warmen Meerwassers auf ihn überschwappte. Er blickte durch die Dunkelheit in den Käfig hinauf. Weiße Knochen, tiefrote Federn und Lederfetische hingen an den Stahlgitterstäben.

»Dante! Schöner Engel!«, rief verlangend eine Frauenstimme aus.

»Mon beau diable«, rief ein Mann.

Ein leises Murmeln ging durch die Menge, ehe die Stimmen nur noch eines zu rufen begannen: »Inferno! Inferno! Inferno!«

Die Fetische schwangen hin und her und drehten sich, als Hitze verströmende Körper in den Käfig kletterten. Ein blausilberner Lichtschimmer umgab eine schmale Gestalt.

Blutgeborener. Ronin atmete die übelriechende, berauschende Luft des Clubs ein. Wenn sich unsere Wege kreuzen, wird nur einer von uns in die Nacht zurückkehren.

Die Lichter gingen wieder an. Die Menge raste.

»Can’t believe I wanted it«, flüsterte Dante heiser ins Mikrofon, die dunklen Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt. Er hielt das Mikrofon liebevoll wie das Gesicht eines Liebhabers umfasst. »Needed it. Tied to the bed. Unable to reach myself.«

Die Lichter an der Decke ließen die Ringe an Dantes Fingern und Daumen silbern glänzen und die zahlreichen Ringe in seinen Ohren aufblitzen. Er schwang das Mikro vor und zurück, kippte es nach hinten und nach vorne, nahm es zwischen die Beine, trat einen Schritt zurück und riss es wieder hoch. Ronin fiel das Zittern von Dantes Fingern auf, als er das Mikro aus dem Ständer zog, und er bemerkte den Schweiß auf seinen Schläfen.

»Er leidet«, dachte Ronin und nippte an seinem Bourbon, »und das nutzt er.«

Hinter Dante droschen und hämmerten seine Bandmitglieder auf ihre Instrumente ein. Zöpfe, Dreadlocks und Iros flogen durch die Luft. Ihre abgehackten Bewegungen ließen Tattoos, Piercings, Leder, Stahl und verschiedene Ethnien durcheinanderwirbeln – Mandelaugen, kaffeebraune Haut, lange Nasen und harte, drahtige Muskeln.

Dante trat den Mikroständer beiseite, so dass er scheppernd auf den Boden des Käfigs fiel, und wandte dann der jubelnden Menge den Rücken zu. »Your promises squirm like worms in my soul … Sweet parasite …« Er wirbelte herum, sank auf ein Knie und hielt die Arme vor sein Gesicht. »I want more … more …«

Mehrere Zuschauer waren auf die Drahtdecke des Käfigs geklettert und hatten sich mit dem Gesicht nach unten, Arme und Beine gespreizt, hingelegt, um sich ihrem düsteren, schönen Gott ganz hinzugeben. Sie schrien seinen Namen, schnitten sich in raschen kleinen Bewegungen mit Rasierklingen und Cuttern in die Handgelenke und Unterarme, ja kratzten gar an ihren Hälsen. Blut troff durch das Gitter und spritzte auf den Käfigboden und Dantes blasses Gesicht.

Hände fassten durch die Stäbe ins Leere, versuchten aber immer wieder, ein Kleidungsstück, Haare oder Haut zu erreichen – irgendwas. Die anderen drei Mitglieder von Inferno wichen aus und traten nach den Fans, während sie ununterbrochen auf ihre Instrumente einschlugen, ohne auch nur eine Note zu verpassen.

Dante jedoch befand sich bedenklich nahe an den Gitterstäben und den verlangenden Händen.

Ronin überlegte, ob er sich absichtlich so hingestellt hatte. Strafe? Oder Ablenkung?

»I want more …«, sang und seufzte Dante, dessen Stimme tief und gequält klang und doch vor Zorn bebte. Er erhob sich. Ronin sah, wie sich der Schmerz auf Dantes Miene ausbreitete, als er plötzlich ins Stolpern kam. Er schloss die Augen, warf den Kopf zurück, seine Halsmuskeln spannten sich an, und er schrie: »More of your fucking lies!«

Hände packten ihn und rissen ihn gegen die Stahlstäbe des Käfigs. Dante knallte mit der Schulter zuerst gegen das Gitter, den Rücken der tobenden Menge zugewandt. Das Mikro entglitt ihm und fiel mit einem schrillen Feedback zu Boden. Die Zuschauer brüllten wild und verlangend. Finger umfassten Dantes Arme, Hände und Schenkel. Sie rissen an seiner Kleidung und seinem Haar, hielten ihn mit Fesseln aus Haut und Knochen fest.

Dantes Sonnenbrillen flog ihm von der Nase, schlitterte über den Boden und landete unter den Stiefeln des Keyboarders. Schwarzes Plastik und Glas verteilten sich auf dem Käfigboden. Die anderen Bandmitglieder spielten wie manisch weiter ihre harte, fieberhafte Musik.

Ronin beugte sich vor, die Muskeln angespannt, die Sonnenbrille auf dem Nasenrücken etwas nach unten gezogen. Warum erlaubte Dante den Leuten, ihn so festzuhalten? War er so im Schmerz gefangen? Eine flüchtige Bewegung ließ Ronin aufmerken. De Noir eilte in einer Geschwindigkeit vom Podest zum Käfig, die kein normales menschliches Auge wahrnehmen konnte, wie Ronin vermutete.

Die Menge sog Dantes Wut und Qual auf und pochte wie ein riesiges gemeinsames Herz. Der heftige, vorzeitlich anmutende Rhythmus riss auch Ronin mit und fachte seinen Hunger noch mehr an.

Sein Verlangen bohrte sich wie eine von Es Klingen in sein Inneres und quälte ihn. Er mischte sich unter die Tanzenden. Erhitzte, schweißtriefende Körper drängten sich gegen ihn, Blut rauschte durch ihre Venen, Herzen hämmerten in der Brust. Nicht hier. Er würde sich in einer düsteren Gasse an jemandem laben, an einem der Vergessenen, der Ungewollten. Als Fremder in einer bereits aufgeteilten Stadt wollte Ronin keine Aufmerksamkeit erregen. Er glitt durch die Menge und trat nach draußen in die kühle, regenfeuchte Nacht.

Der Llygad nickte ihm zu. Seine hinter dunklen Sonnenbrillengläsern versteckten Augen registrierten wahrscheinlich jedes Detail, denn seine Körpersprache wirkte nervös. Ronin nickte ihm ebenfalls zu. Warum hatte ein Llygad seine Unabhängigkeit aufgegeben und sich einem Haus verschrieben und arbeitete noch dazu als Türsteher?

»Wegen Dante«, murmelte Ronin.

Einem Blutgeborenen.

Er lief die feuchte Kopfsteinpflasterstraßen Richtung Canal Street entlang. Bei jeder verlorenen Seele, von der er in dieser Nacht trank, würde er Dante danken, denn dieser hatte seinen Durst, den er seit Jahren unterdrückt hatte, wieder geweckt.