29

ALLES ÜBER S

Dunkel.

Musik dröhnte, seine eigene. Inferno.

Er roch Blut, sauren Schweiß, Abgase.

Er schmeckte Blut in seinem Mund, sein eigenes.

Etwas stach in seinen Nacken. Tat weh. Kalte Chemikalien flossen in seine Adern, schwächten den Schmerz in seinem Kopf.

»Mir«, flüsterte eine Stimme. Unbekannt. Verklingend. Finger berührten sein Gesicht.

»Ich werde dein Gott sein, und du wirst mich anbeten.«

Dunkel. Die Drogen zeigten Wirkung, und Dante stürzte in tiefe Träume.

 

Heather saß neben Stearns’ Leiche im Gras, ihre Hand schwebte wie erstarrt über seiner leblosen Brust. Sie sehnte sich danach, den Mann zu berühren, der für sie mehr ein Vater gewesen war als James William Wallace. Sie sehnte sich danach, sich von ihm zu verabschieden. Aber sie brachte es nicht über sich, die Hand weiter zu senken.

Er hat Dante kaltblütig erschossen, und jetzt …

Eine kalte Böe fuhr in ihr Haar und ließ sie aufblicken. De Noirs dunkle Flügel durchschnitten den Nachthimmel. Sie flatterten, als er neben ihr landete. Mit seinen goldenen Augen sah er sich um. In seinem Gesicht lag Verzweiflung.

Sirenen durchbrachen die Stille der Nacht.

»Wo ist er?«

»Jordan hat ihn«, sagte sie. »Im Van.« S gehört mir. Ihre Augen brannten.

»Ich kann ihn nicht mehr spüren«, antwortete De Noir. Er klang gequält. »Etwas hat unsere Verbindung gestört. Es fühlt sich an wie … wie eine elektrostatische Ladung.« Er schlug mit den Flügeln und begann, sich wieder in die Luft zu erheben.

»Warten Sie!« Heather sprang auf. Sie sah sich im Vorgarten um, der sich in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. Alle waren tot. Tiefes Bedauern ergriff sie, als ihr Blick auf Collins’ Leiche fiel. Sie dachte an das Gespräch, das sie noch vor kurzem über LaRousse geführt hatte: Einen so schrecklichen Tod hat niemand verdient.

Du garantiert nicht, Trent, dachte sie, und ihr Hals schnürte sich zusammen.

Wenn sie hierblieb, würde sie die nächsten Stunden, vielleicht sogar Tage damit beschäftigt sein, ihre Aussage zu Protokoll zu geben und ihren Kollegen zu erklären, was vorgefallen war. Aber der CCK hatte Dante in seiner Gewalt. Dante mochte ein Nachtgeschöpf sein, doch Elroy Jordan war ein sexueller Sadist, der jetzt ein Opfer hatte, das wieder heilte. Eines, das er immer und immer wieder »töten« konnte. Sie konnte es sich nicht leisten, Zeit zu verlieren.

»Nehmen Sie mich mit«, sagte sie.

De Noir schwebte in der Luft, sein Gesicht wirkte kalt und undurchdringlich.

»Ich kenne Jordans Verhaltensmuster, ich kann Ihnen helfen. Bitte.«

De Noirs Krallenfinger ballten sich zu Fäusten. Er ließ sich wieder auf dem Boden nieder, während die Sirenen immer näher kamen. Heather rannte über die Straße zu Collins’ Auto, riss die Tür auf und beugte sich ins Innere. Nachdem sie den Aktenkoffer hatte, lief sie wieder zu De Noir zurück.

»Halten Sie sich fest«, sagte er und legte einen Arm um ihre Taille.

Heather legte einen Arm um seinen Nacken, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. De Noir breitete erneut seine Flügel aus, ein Windstoß fuhr ihr ins Gesicht, und sie hoben ab. Sie sah nach unten. Auf der Straße unter ihr hielten bereits eine Sekunde später Streifenwagen mit heulenden Sirenen und quietschenden Reifen vor Ronins Haus. Blaulicht flackerte über die Häuser, Fahrzeuge und Leichname. Einen Block weiter unten wartete bereits ein Krankenwagen mit eingeschalteten Scheinwerfern darauf, dass die Polizei ein Zeichen zur Durchfahrt gab.

Der Flugwind schlug Heather kalt entgegen und überzog ihr Haar und ihre Wimpern innerhalb weniger Minuten mit einem leichten Raureif. Bebend schloss sie die Augen. De Noir legte auch den anderen Arm um sie und hielt sie ohne Anstrengung eng an sich gepresst. Seine Wärme strahlte auf sie aus und brachte die Kälte zum Schmelzen. Sie schmiegte das Gesicht an seinen Hals. Sein warmer, erdiger Wohlgeruch ließ sie an Dante denken.

Mit schmerzendem Herzen und verkrampften Muskeln schrie Heather ihren Gedanken in die Nacht hinaus, da sie hoffte, Dante könne sie vielleicht hören.

Ich komme. Ich komme!

 

Dunkel.

In seinem Kopf pochte der Schmerz. In seinem Nacken ebenfalls. Seine Schultern brannten. Seine Muskeln krampften. Er versuchte, die Arme zu senken. Metall schnitt in seine Handgelenke. Schlug gegen weiteres Metall.

Handschellen.

Dante öffnete die Augen. Er sah nur Rot. Er lag auf der Seite, die Arme über den Kopf gestreckt. Er roch billigen Tabak, Plastik und das salzige Aroma seines eigenen Bluts. Ein Sterblicher kniete neben ihm. Packte ihn an den Schultern. Schmerz bohrte sich in seinen Nacken und kroch unter seine Schädelbasis. Blut lief heiß über seinen Hals in sein Shirt.

Papa Prejeans Keller.

Dante riss mit aller Gewalt den Kopf hoch. Wieder schoss ihm der Schmerz in die Schultern. Klick-klack. Die Handschellen hielten.

Die Hand auf Dantes Schulter drückte zu. Fest.

»Hör auf«, sagte eine fremde Stimme. »Wenn du das nochmal tust, kann ich nicht sagen, wo die Klinge als Nächstes landet.«

Dante schloss die Augen, während die Klinge bohrte und kratzte. Noch mehr Blut floss ihm über den Nacken.

»Habe ihn! Verdammt auch!«

Das Bohren hörte auf. Dante atmete langsam aus. Erst jetzt merkte er, dass er die Luft angehalten hatte, und holte tief Luft, die nach dem Sterblichen stank – kalter Rauch und Galle, ein Geruch, den er kannte, aber nicht einordnen konnte. Wie ein Eispickel, der hinter seinen Augen zustach, hämmerte die Migräne auf sein Bewusstsein ein und ließ ihn fast alle Konzentration verlieren.

Der Sterbliche wischte ihm den Hals ab. Papier raschelte. Dann legte er etwas auf die Wunde.

»Ich habe dir extra Pflaster mit Batman-Figuren besorgt. Ich dachte, das gefällt dir vielleicht.«

Er stieß Dante mit einer Fingerspitze an, und der rollte auf den Rücken. Die Handschellen klirrten. Unter ihm raschelte Plastik. Er öffnete die Augen und zuckte zusammen. Eine kleine, abgedeckte Lampe brannte an der Decke. Nein, kein Keller. Ein Auto? Er spürte allerdings keine Bewegung. Kein Motorengeräusch. Sie fuhren zumindest nicht.

Ein Schatten huschte vorbei, eine dunkle Silhouette vor der Lampe.

Sieht wie der Assistent des Voyeurs aus …

Elroy der Perverse kniete neben Dante, ein Grinsen im Gesicht. Sein linker Arm lag eng an den Oberkörper gepresst in einer Schlinge. In der rechten Hand hatte er zwischen zwei Fingern ein blutiges Stück Plastik. »Siehst du das?«, fragte er. »Eine Wanze, die man dir nach der Geburt eingesetzt hat, damit man dir folgen kann. Immerzu. Dich beobachten. Beobachten und so weiter und so weiter. Ich musste mir meine selbst herausholen.«

Schmerz schoss durch Dantes Schädel. Wanzen? Implantate? Ein Bild flackerte hinter dem Schmerz auf – eine Frau mit kurzem blonden Haar, blauen Augen und Reißzähnen, die murmelte : Sie haben Angst vor dir, kleiner Blutgeborener.

Schmerz zerschmetterte das Bild.

Ronins leise Stimme: Wovor hast du Angst, Blutgeborener?

Eine Nadel bohrte sich in die Haut an seinem Hals.

»Deine Nase blutet«, sagte Elroy. »Irgendwie sexy.«

Die Lippen des Perversen, die heiß waren und nach Tabak schmeckten, pressten sich auf seinen Mund – ein Kuss, so zärtlich wie eine Faust. Als Elroys Hand sich über Dantes Körper zu bewegen begann, ließen ihn die Drogen wieder in Papa Prejeans Keller zurückstolpern.

Dante-Engel?

Lass mich brennen, Prinzessin.

 

Heather schlug die Augen auf, als De Noir einen Sinkflug begann. Er landete auf dem Eisenbalkon vor Dantes Schlafzimmer. Sie löste den Arm von seinem Nacken und trat auf den Beton. In der Hand hielt sie noch immer den Griff des Aktenkoffers, der jetzt jedoch wie gefroren zu sein schien. Ein rascher Blick auf ihre Finger zeigte ihr, dass diese zwar rot und steif waren, aber nicht erfroren.

Sie trat durch die Balkontür in das unbeleuchtete Schlafzimmer. Die Luft roch nach Kerzenwachs und frischem Herbstlaub – nach Dante. Der Anblick des ungemachten Futons und der zerknitterten Laken versetzte ihr einen Stich. Sie schloss einen Moment lang die Augen.

Sie musste sich darauf konzentrieren, Elroy Jordan zu finden, und zwar so schnell wie möglich, ehe er sich daran machte, Dante zu foltern und herausfand, dass er nie mehr aufhören musste.

Sie öffnete die Augen und durchquerte den Raum. Im Flur entdeckte sie Simone auf der Treppe, ihr blasses Gesicht wirkte angespannt.

»Lucien hat uns erzählt, was passiert ist«, sagte Simone und trat auf den Treppenabsatz. »Was soll Trey tun?« Ihre dunklen Augen wanderten an Heather vorbei nach oben.

De Noir ging an Heather vorbei. Er war damit beschäftigt, ein schwarzes Hemd, das er angezogen hatte, zuzuknöpfen.

Lucien hat uns erzählt, was passiert ist. Klar. Heather verschluckte die Worte, die sie eigentlich hätte sagen müssen. Es wären harte Worte geworden: Dante hat eine Kugel in den Kopf bekommen. Jetzt ist er in den Fängen eines Serienkillers, genau wie er gesagt hat, genau wie er es versprochen hat – in aller Unschuld.

Laut sagte sie stattdessen: »Ihr Bruder könnte im Internet nach einem Wagen forschen, den Ronin oder Jordan in letzter Zeit gemietet oder gekauft haben. Es handelt sich um einen weißen Van. Lassen Sie ihn auch eine Fahrzeugsuche durchführen. «

»D’accord.« Simone drehte sich um und ging die Treppe hinunter.

De Noir betrachtete den Aktenkoffer. »Was ist das?«, fragte er.

Heather blickte auf und sah ihn an. »Dantes Vergangenheit. «

»Woher haben Sie das?«

»Von meinem Chef«, antwortete sie leise. »Dem Mann, der Dante erschossen hat.«

De Noir biss die Zähne zusammen. Sein Blick wanderte in die Ferne. Einige Strähnen seines schwarzen Haars kringelten sich in der plötzlich aufgeladenen Luft. Das Aroma von Ozon lag in der Luft. Heather stellten sich die Nackenhaare auf. Ihre Haut prickelte. Wie ein Blitz.

»Haben Sie sich schon angeschaut, was in dem Koffer ist?«

»Nein. Ich wollte ihn Dante geben«, antwortete sie.

De Noirs Blick kehrte zu Heather zurück, und er musterte sie von Kopf bis Fuß. In seinen Augen war nichts zu lesen – weder etwas Menschliches noch etwas anderes. Nach einem kurzen Augenblick nickte er.

»Dann werden wir es uns gemeinsam ansehen«, sagte er.

 

Mit schmerzhaft pochendem Arm lenkte E den Van auf einen Rastplatz an der I-59. Er brauchte einen Muntermacher. Er schaltete den Motor ab und warf einen Blick in den Rückspiegel. Dante schlief, den Kopf zu einer Seite gerollt, die gefesselten Arme über dem Kopf ausgestreckt.

E öffnete die Tür und war schon fast ausgestiegen, als er innehielt. Vielleicht schlief Dante ja gar nicht. Vielleicht tat er nur so und plante, um sich zu schlagen und gegen den Van zu hämmern, sobald er weg war. Er musste auf Nummer sicher gehen. Also stieg er wieder ein, kletterte in den hinteren Teil des Wagens und schlich zu der Luftmatratze.

Dantes Atem ging langsam und regelmäßig. Schwarzes Haar bedeckte sein Gesicht zum Teil. E bohrte ihm einen Finger in die Rippen. Nichts. Betäubt und total high. Er fasste ihn an der Schulter und schüttelte ihn. Nichts.

Sein Blick wanderte über den athletischen Körper des Blutsaugers – den Bondagekragen, das schwarze Retro-NIN-T-Shirt, das hochgerutscht war und die Linie seines flachen Bauchs entblößte, die schwarze Jeans mit den Ketten, den Gürtel mit den Metallnieten, den man innerhalb weniger Augenblicke offen hatte.

E beugte sich über Dante, während eine Klinge in seine heile rechte Hand glitt. Er stieß die Klinge in Dantes Brust. Der Blutsauger zuckte zusammen und verkrampfte sich. Er begann, rasselnd ein- und auszuatmen. Blut trat ihm blubbernd über die Lippen. Doch seine Augen öffneten sich nicht. Er war tatsächlich weggetreten.

Verdammt gute Drogen, dachte E. Ich frage mich, ob er wohl mit dem Messer in der Brust heilen kann.

E durchwühlte seine Tasche und schluckte trocken eine Handvoll Pillen. Dann rutschte er wieder nach vorn. Er sprang aus dem Van und schlenderte zu dem Stand mit dem Gratis-Kaffee. Das Bild Dantes, der mit dem Messer in der Brust weiterschlief, brannte sich in sein Gedächtnis ein und ließ ihn immer wieder erbeben.

 

Heather saß am Küchentisch und schaltete ihren Laptop ein. Der Aktenkoffer lag auf dem kobaltblauen Tischtuch. De Noir zog einen Stuhl heran und setzte sich stirnrunzelnd neben sie. Sie holte tief Luft, nahm den Aktendeckel aus dem Koffer und schlug ihn auf.

Bilder fielen heraus. Einige waren noch recht neu und offenbar heimlich gemacht worden, ohne dass Dante etwas bemerkt hatte. Andere zeigten ihn als Teenager, als Kind, als Baby – den misstrauischen Blick des Kindes, das Lächeln des Babys, das seine Reißzähne entblößte, das höhnische Grinsen des Teenagers, der den Mittelfinger in die Luft reckte.

Sie gab jedes Bild an De Noir weiter, der sie jeweils minutenlang wortlos und eingehend betrachtete. Eine Aufnahme erregte ihre besondere Aufmerksamkeit. Sie zeigte einen lachenden Dante, den Arm um ein grinsendes Mädchen mit Sommersprossen und langem roten Haar gelegt, das ihm das Gesicht halb zuwandte. Dante musste etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein, das Mädchen vielleicht acht oder neun.

Sie hieß Chloe, und du hast sie getötet.

Heather starrte auf das Bild und auf Dantes freudestrahlendes Gesicht. Es war das einzige Foto, auf dem er lachte – der große Bruder und Schutzengel eines anderes Kindes, das wie er in dem Labyrinth von Pflegefamilien und staatlicher Fürsorge gefangen war. Nachdem sie De Noir das Bild gegeben hatte, schob sie die CD ins Laufwerk des Laptops. Als sich ein Menü zeigte, scrollte sie zu dem Teil, der S UND CHLOE hieß, und klickte ihn an. Heimliche Filmaufnahmen zeigten sich kurz darauf auf dem Bildschirm.

 

In einer verwaschenen Jeans und einem grauen T-Shirt sitzt Dante im Schneidersitz auf dem Boden, den Rücken gegen ein ordentlich gemachtes Bett gelehnt. Er liest konzentriert in einem Buch, das aufgeschlagen auf seinem Schoß liegt. Chloe sitzt in einer lavendelfarbenen Cordhose und einem blassrosa Sweatshirt mit einem Bild Winnie Poohs auf dem Bett und beobachtet ihn. Ihre Füße, die in Turnschuhen stecken, schlagen immer wieder gelangweilt gegen den Bettrahmen. Unter einem Arm hat sie einen Plüschorca.

»Lies vor«, schlägt sie vor und wickelt sich eine rote Haarsträhne um den Finger.

»Ge… mü… gemüüü… t… liiich… gemüüütliiich … gemütlich. «

»Genau!«

»Ja?« Dante lächelt erfreut.

»Ja«, bestätigt Chloe, »und jetzt nochmal den ganzen Satz.«

»Poohs Bett war gemütlich und … warm.«

»Du lernst schnell«, sagt Chloe. »Wenn du tagsüber nicht schlafen müsstest, könntest du bestimmt in die Schule gehen und würdest nur Einsen bekommen – garantiert!«

Dante schnaubt und wirft einen Blick über die Schulter. »Ich hätte immer nur Sechser.«

»Warum?«, hakt Chloe nach, fasst sein Haar zu einem P ferdeschwanz zusammen und streicht es zwischen ihren Fingern glatt. »Warum nur Sechsen?«

»Weil ich den Lehrern sagen würde, wie beschissen sie sind!«

Sie kichert und presst eine Hand auf den Mund. »Dante-Engel! «

Eine verschwommene Bewegung, dann steht Dante plötzlich vor dem Bett und beginnt, Chloe zu kitzeln. Sie kreischt vor Vergnügen, rollt auf dem Bett hin und her und trommelt mit den Turnschuhen auf die Matratze. Lachend hält er sich einen Arm vor den Brustkorb und versucht, sich vor ihren nun ebenfalls kitzelnden Fingern zu schützen.

Er zieht den Orca unter Chloes Arm hervor und lässt das Plüschtier durch die Luft schwimmen, vorbei an ihren danach fassenden Händen. Dann hält er es vor ihre Nase und drückt es auf ihr Gesicht. »Mma, mma, mma!« Ein großer, feuchter Orcakuss.

»Kann ich dein Haar bürsten, während du das Alphabet aufschreibst?«, fragt Chloe.

»Klar«, meint Dante und gibt ihr lachend den Plüschwal zurück.

»Junge, beweg deinen Arsch in den Keller, und zwar sofort! « Die Stimme eines Mannes – tief und mit dem typischen Bayou-Akzent des Südens – spricht aus dem Off. »Gleich kommt Besuch, und da müssen wir dich fesseln. Du brauchst diesen ganzen Schulmist doch nicht für das, was du tust, Petit. Reine Zeitverschwendung.«

Der Mann lacht – ein zigarettenheiseres Lachen, das sich in ein Husten verwandelt.

»Du kannst mich mal«, sagt Dante. »Ich bin gleich da.«

Chloes Lachen verschwindet, und sie setzt sich auf. Das Plüschtier presst sie gegen den rosa Pulli. »Lass ihn«, sagt sie mit scharfer Stimme. Sie runzelt die Augenbrauen – trotzig und wütend.

»Sei still. Sonst setzt’s was.«

Dante drückt einen Augenblick lang Chloes Knie. Sie klappt den Mund zu, statt zu antworten. Er sieht den Sprecher an. Jetzt ist jeglicher Ausdruck aus seinem Gesicht verschwunden. Doch in seinen dunklen Augen züngelt ein Feuer, das der Mann sehen, ja fühlen muss.

»Du wirst mehr als Handschellen brauchen, um mich zu fesseln, wenn du sie anrührst«, sagt Dante leise und ausdruckslos.

Noch ein zigarettenheiseres Lachen. »Hältst dich immer noch für was Besseres, was, Junge? Beweg deinen Arsch, oder ich schicke stattdessen die freche kleine M’selle in den Keller …«

Dante dreht sich um und küsst Chloe auf die Stirn, streicht ihr das lange Haar aus dem Gesicht. »Gute Nacht, Prinzessin. Wir sehen uns morgen.«

Chloe sieht ihn besorgt an. »Dante-Engel …«

Er schüttelt den Kopf. »Psst. Je suis ici. Komm nicht runter. Nicht heute.«

Sie nickt bedrückt. Dante wirft ihr eine Kusshand zu und verlässt das Zimmer.

 

Hier brach der Film ab. Heather dachte einen Moment lang nach – wie alt mochte er da gewesen sein? Zwölf? –, ehe sie ihre geballte Faust öffnete und auf den nächsten Abschnitt klickte.

Später verstand sie mit brennenden Augen, warum De Noir gesagt hatte, Dante solle sich besser nicht an seine Vergangenheit erinnern. Sie verstand, dass ihm sonst das Herz brechen würde und warum ihn Stearns ein Monster genannt hatte.

 

Dante hustete Blut und erwachte.

Dunkelheit. Motorengeräusche. Schmerz zerriss ihm fast die Brust. Blut füllte seinen Mund. Er drehte sich auf die Seite, wobei die Handschellen klirrten, als er sich bewegte, und spie Blut auf den Boden, bis er Luft holen konnte.

Benommen lauschte er dem beruhigend gleichmäßigen Brummen des Motors. Er blickte an sich herab. In seiner Brust steckte ein Messer.

»Wir sind in Alabama«, sagte Elroy. »Fühlt sich das nicht super an?«

Dante erhaschte Elroys sonnenbrillenbeschirmten Blick im Rückspiegel. Der Perverse grinste.

»Mach dir nichts aus der Klinge«, sagte er. »Ich konnte nicht widerstehen. Wie fühlt es sich an?«

Dante hustete und spuckte erneut. »Scheißkerl«, brummte er. »Nimm mir die Handschellen ab, dann zeige ich dir, wie sich das anfühlt.« Er riss die Arme noch weiter hoch und zerrte an den Handschellen.

Elroy lachte. »So ist er – mein liebes Bad-Seed-Bruderherz.«

Dante dämmerte wieder weg, während die Kilometer draußen vorbeirollten. Er schlief nicht richtig, sondern war in einem Nebel aus Drogen und Schmerzen gefangen. Erst als der Van langsamer wurde und anhielt, machte er mühsam die Augen auf.

Der Perverse schaltete den Motor ab und streckte sich. Er stand auf und kam nach hinten, wobei er kurz innehielt, um einen Vorhang zwischen der Fahrerkabine und dem hinteren Teil des Autos zuzuziehen. Dann ging er seitlich wie ein Krebs auf Dante zu. Er hob eine mitgenommen aussehende schwarze Tasche, öffnete sie und zog eine Mappe voller Papiere heraus.

»Es ist Zeit, dass du ein paar Dinge erfährst.« Elroy ließ sich auf die Knie nieder und beugte sich über Dante. »Zum Beispiel, wer und was du bist.« Er fasste nach dem Griff der Klinge und zog sie aus Dantes Brust.

Da er nicht mit Lucien in Kontakt treten wollte, versuchte Dante, seine Verbindung zu Simone und Von zu öffnen. In seinem Kopf rauschte es schmerzhaft, als er es mehrfach probierte und immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen wurde. Niemand hörte ihn. Was auch immer der Perverse ihm in die Adern gepumpt hatte, es hatte sein Bewusstsein so stark gedämpft, als wäre es von einer dicken Watteschicht umwickelt worden. Seine Gedanken vermochten sein Hirn nicht zu verlassen und mit den anderen Kontakt aufzunehmen.

Elroy spielte mit der Klinge, indem er sie in der Luft herumwirbelte. Das Metall schimmerte in der dämmrigen Beleuchtung des Autos. Als er sie erneut einmal um sich selbst gedreht hatte, stieß er sie Dante in den Bauch.

Dieser schloss schlagartig die Augen. Unerträglicher Schmerz schoss ihm durch den ganzen Körper und raubte ihm die Stimme. Ein weiterer Stoß, und neuer Schmerz setzte seine Brust in Brand und nahm ihm den Atem. Er begann, wieder heftig zu husten.

»Es ist Zeit, dir alles über S beizubringen«, flüsterte Elroy. »Öffne die Augen.«

Finger huschten über Dantes Lider. Strichen über seine Lippen. Er roch Blut an Elroys Fingern – sein eigenes. Er öffnete die Augen und sah in Elroys schwitzendes Gesicht. Das Grinsen war verschwunden. Seine Finger hielten noch immer die zweite Klinge umschlossen, die in Dantes Brust steckte.

Schmerz breitete sich kreisförmig in Dantes Oberkörper aus, und ihm wurde schwarz vor Augen. Er biss sich auf die Lippe, wild entschlossen, nicht zu schreien, um diesem armseligen, kranken Schwächling keine Genugtuung zu geben.

Dante-Engel?

Psst. Nicht jetzt, Prinzessin. Muss aufwachen. Muss mit dem Träumen aufhören.

»Hör zu«, sagte Elroy.

Dante blinzelte, bis er wieder klarer sah. Er spuckte und hustete. Der Perverse hielt einige Bilder hoch. Dante fixierte sie. Die Fotos zeigten ihn, als er noch jünger war. Sie stammten aus einer Zeit, an die er sich nicht erinnerte. Schmerz flammte hinter seinen Augen auf, stach in seine Schläfen.

»Du bist Teil eines Projekts namens Bad Seed«, sagte Elroy. »Ich im Übrigen auch. Wir sind die beiden letzten Überlebenden. Alle anderen Teilnehmer sind tot. Sie haben mich geschnappt, als ich zwei oder drei war, nachdem sich meine Eltern gegenseitig abgemurkst hatten.« Er hielt das Bild eines lachenden Kleinkindes hoch. »War ich nicht putzig? «

Er nahm einen Aktendeckel und blätterte ihn durch. »Bei dir war es anders. Dich haben sie gleich nach der Geburt geschnappt. Deine Mutter haben sie durch eine schwere Schwangerschaft begleitet und dann vernichtet, kaum dass du auf der Welt warst. Da sie auch eine Blutsaugerin war, haben sie ihr den Kopf abgeschlagen und ihren Körper verbrannt.«

Mit rasendem Herzen und nach Atem ringend versuchte Dante, Elroys Worte zu begreifen. Schmerz brannte seine Gedanken fort. Er hustete. Seine Mutter …

Genevieve.

Du siehst ihr so unfassbar ähnlich.

Wespen summten, und die Welt verschwamm vor seinen Augen. Aus weiter Ferne hörte er den Perversen sagen: »Sie hat dir kurz vor ihrem Tod noch deinen Namen gegeben, und es machte der Mamaschlampe Moore anscheinend Spaß, ihn zu behalten. Dante.«

Etwas schlug Dante ins Gesicht, so dass sein Gesicht zur Seite rollte. Seine Zähne bohrten sich erneut in seine Unterlippe. Weiße Lichter blitzten auf und tanzten am Rand seines Sehfelds. Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf Elroys eingefallenes Gesicht.

»Beinahe wärst du weggetreten«, sagte dieser. »Übrigens hast du schon wieder Nasenbluten.«

Dante hustete, und diesmal zerriss es ihm fast die Lunge, und ein Schwall helles Blut spritzte ihm aus dem Mund. Elroy wich aus seiner Spuckreichweite.

»Nimm die verfluchten Messer raus«, wisperte Dante, nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte, »und dann sprich weiter. Lies es mir vor. Schlag mich, wenn ich das Bewusstsein verliere. Aber lies vor.«

Der Perverse schob seine Sonnenbrille auf die Stirn und stierte Dante an. Seine haselnussbraunen Augen wirkten erstaunt. »Vorlesen?« Er beugte sich über Dante, packte eine Klinge und zog sie heraus. Dann ließ er die Spitze über Dantes Bauch wandern und malte eine Blutspur auf dessen Haut. »Mit dem größten Vergnügen.«

Er setzte sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase und begann laut zu lesen. Wenn Dante das Bewusstsein zu verlieren begann oder ihm die Migräne beinahe den Verstand raubte, gab er ihm mit dem Handrücken ein paar Ohrfeigen, so dass er wieder zu sich kam.

 

Pflegeeltern wurden informiert, dass die Testperson eine Krankheit hat, die einer besonderen Aufmerksamkeit und besonderer Ernährung bedarf, was eine Extrazulage bei der Bezahlung bedeutet …

Dante erinnerte sich an LaRousse, der in der Kneipe gehöhnt hatte: Sechzig Pflegefamilien und zweimal in der Klapsmühle. Licht wirbelte vor seinen Augen wie ein Feuerrad und zertrümmerte die Welt in tausend Stücke. Sein Kopf dröhnte und pulsierte. Sein Herz raste, doch er hörte weiter aufmerksam zu.

 

S Lieblingsdecke weggenommen und verbrannt. S dazu gezwungen, zuzusehen und ihm erklärt, dass die Decke verbrannt wurde, weil er »böse« war.

Pflegeeltern Nummer Zehn bestraften S für seine Trotzhaltung. Sie nahmen die Vorhänge in seinem Zimmer ab und sperrten ihn dort ein. Er versuchte, sich so lange in einer schattigen Ecke zu verbergen und auf diese Weise dem Sonnenlicht zu entkommen, bis es keine Schatten mehr gab …

 

Sonnenlicht wanderte über den Teppich und tat seinen Augen weh. Staubflocken tanzten in der Luft, während ihm die Furcht das Rückgrat hinaufkroch. Plötzlich tat sich der Erinnerungsabgrund weit auf, und Dante stürzte hinein. Das Sonnenlicht versengte und verbrannte seine Haut. Der Gestank verbrannten Fleisches ließ ihn würgen.

Er holte tief Luft und hustete wieder. Schmerz zerschmetterte die Erinnerung und stieß sie außer Reichweite. Einige Momente lang stand ihm nur eine Erkenntnis klar vor Augen: Klapsmühlenaufenthalt Numéro un hatte nach dieser Bestrafung stattgefunden.

 

Pflegemutter Nummer zwölf entwickelt eine echte Zuneigung für S und kommt ihm emotional näher. S scheint ihre Anwesenheit zu genießen. Er wird ihr in Kürze wieder entzogen werden …

S benimmt sich immer starrköpfiger. Pflegeeltern nehmen ihm sein Lieblingsspielzeug, ein Plastikkrokodil auf Rädern, weg und entsorgen es vor seinen Augen. Er rächt sich, indem er ihre Zigaretten und ihr Bier wegwirft. S wird geschlagen …

S fand oder stahl eine Gitarre und bringt sich selbst das Spielen bei. Er hat ein außerordentlich gutes Gehör und lernt sehr schnell. Zeigt eine echte musikalische Begabung …

S wird zur Beobachtung und zu Untersuchungen sediert und in die Anstalt gebracht. Dr. Wells und ich sind neugierig zu erfahren, wie viel ein geborener Vampir körperlich aushalten kann. Wir werden morgen mit den Experimenten beginnen …

 

Erinnerungsfragmente tauchten aus seinem Unterbewusstsein auf, getragen auf den Flügeln gigeresker Wespen: ein kalter Stahltisch. Ketten. Nadeln. Ein blutiger Baseballschläger in der Hand eines Assistenten mit einem Gesichtsschutz und einem blutbespritzten Labormantel. Unsäglicher Schmerz wischte die Bilder weg. Er erinnerte sich nicht. Er durchlebte seine Vergangenheit. Elroys flache Hand beförderte Dante in die Gegenwart zurück.

»Lies weiter«, wisperte Dante.

Der Perverse starrte ihn einen Moment lang an, leckte sich die Lippen und fuhr dann mit dem Lesen fort.

 

Die Experimente werden wiederholt, sobald S in die Pubertät kommt … falls Vampire einen Entwicklungsprozess wie eine Pubertät durchlaufen. Jedenfalls sicher faszinierend …

S zeigt für ein anderes Pflegekind in seinem neuen Zuhause große Zuneigung. Es handelt sich um ein Kind namens Chloe Basescu. Er kümmert sich um sie. Sie nennt ihn aus einem unerfindlichen Grund »Dante-Engel« – vielleicht weil er sie vor ihrem P flegevater beschützt. S und Chloe schlafen häufig im selben Bett, ohne dass es jedoch um Sex geht.

S zeigt Anzeichen von etwas, das ich für Vampir-Pubertät halte. Er treibt sich nachts herum, wechselt innerhalb seiner Altersgruppe häufig den Sexualpartner, beißt, ist von Blut fasziniert und nicht länger mit seiner täglichen Dosis »medizinischen« Bluts zufrieden. Er will auf die Jagd. Seine Gefühle scheinen ihn sowohl zu erregen als auch zu verwirren. Seine Bedürfnisse überwältigen ihn beinahe. Er vertraut sich Chloe an. Das macht mir Sorgen …

Es ist Zeit, Dante Chloe wegzunehmen.

Dante drängt Chloe in eine Ecke. »Duck dich«, wispert er. »Ich werde nicht zulassen, dass sie dir etwas tun.«

Als Chloe in die Hocke geht, Orem den Orca an die Brust gedrückt, stellt sich Dante vor sie. Er knurrt. Drei Männer in schwarzen Anzügen – abgrundtief schlechte Männer wie Wells, Papa Prejean oder all die abartigen Arschlöcher, die runter in den Keller kommen – verteilen sich in dem Raum mit den weiß wattierten Wänden.

Hunger oder Gier brennen in Dante. Ihre pochenden Herzen ziehen ihn magisch an. Ihr Geruch nach Schweiß und Hopfen lässt ihn fast schwindelig werden. Alle drei stürmen zugleich auf ihn zu. Dante lässt sich fallen, wirbelt herum, kratzt sie mit seinen Nägeln. Heißes Blut spritzt ihm ins Gesicht. Der Blutgeruch dringt in ihn, und er verliert sich darin. Er geht auf die Knie und schlägt seine Reißzähne in weiches Fleisch. Blut strömt ihm in den Mund, süßer als Lakritz, berauschender als heimlich getrunkener Whisky. Er kann nicht genug bekommen. Er trinkt und trinkt, bis nichts mehr da ist.

Noch immer auf Knien sieht Dante sich um. Alle drei abgrundtief schlechten Männer liegen mit dem Gesicht nach unten auf dem blutbesudelten Boden. Er fährt herum, wischt sich den Mund ab und fasst nach Chloe. Seine Hände erstarren an seinem Mund. Sein Herz beginnt zu rasen … und bricht.

Chloe …

Dantes Prinzessin, seine kleine Schwester, sein Ein und Alles. Er schrie, als sich die fehlende Erinnerung durch den Schmerz bohrte. Schreiend riss er an den Handschellen, hustete Blut und verschluckte sich fast daran. Eine Nadel bohrte sich in seinen Nacken. Kälte breitete sich in seinen Adern aus.

Während Dante ins Dunkel der Drogen sank, löste sich Chloes Bild in Luft auf – Nein! Ich will sie behalten! Lasst sie mir!

Doch noch deutlich hallten eine Frage und ihre Antworten in seinem Inneren wider:

Wovor hast du Angst, Blutgeborener?

Nicht vor dir, Voyeur. Nicht vor dir.

Vor mir.

Jemand lachte, und Dante wusste nicht, ob das er selbst oder Elroy war. Aber wer es auch sein mochte: Er lachte und lachte und lachte und hörte nicht mehr auf.

 

Heather nahm die CD aus dem Laufwerk des Laptops. Mit den Ellbogen auf dem Tisch vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Sie war erschöpft und zu Tode betrübt. Dante war so sehr in seinem Kampf, seiner Wut und seinem Blutdurst gefangen gewesen, dass er nach allem und jedem schlug, der in seine Nähe kam – inklusive Chloe. Sie versuchte, die Bilder zu verdrängen, die sie gesehen, die Geräusche auszublenden, die sie gehört hatte – zu spät. Die bestürzte Miene Dantes, als er Chloes Leichnam entdeckte, und der verzweifelte Ton, der sich seiner Brust entrang, würden sie von jetzt an wahrscheinlich auf ewig verfolgen.

Wie der Schrei im Schlachthaus.

Ein Stuhl wurde zurückgeschoben, kratzte über den Boden. De Noir. Heather senkte die Hände und sah auf. Er sammelte die Berichte ein und stopfte sie in den Aktendeckel zurück.

»Ich werde sie verbrennen«, sagte er mit ruhiger Stimme.

»Nein.« Sie setzte sich auf. »Dante muss das erfahren … er muss sehen …«

»Das?« De Noir wedelte mit dem Aktendeckel vor ihrer Nase herum. »Nein. Muss er nicht. Nein.« Er nahm die CD und schloss die Faust darum. Plastik knirschte und brach in mehrere Stücke.

»Was tun Sie da?«, rief sie und sprang auf. »Wir brauchen das …«

»Wofür?« De Noir warf die Stücke der CD durch die Küche. »Um meinem Kind wehzutun? Um es noch einmal zu brechen? Die Vergangenheit kann man nicht verändern.«

Heather starrte den großen Mann an.

Mein Kind?

In diesem Augenblick begriff sie, in welcher Beziehung De Noir und Dante zueinanderstanden – aufmerksam, beschützend, diskret. Die plötzlich auftauchenden goldenen Flecken in Dantes dunklen Augen … »Weiß er es?«

De Noir nickte und wandte dann den Blick ab. »Ich habe es ihm heute gesagt. Ich hatte gehofft …« Er brach ab und schüttelte den Kopf. Dann legte er einen Finger an die Kuhle an seinem Hals.

Der Anhänger mit der x-förmigen Rune war verschwunden. Heather sank wieder auf ihren Stuhl. »Kein Wunder, dass er nicht gewartet hat, als ich ihn darum bat«, sagte sie. »Er war auf der Flucht vor Ihnen.«

»Nein«, antwortete De Noir. Er blickte ihr tief in die Augen. Seine Pupillen blitzten golden. »Er dachte, er müsse für Gina und Jay Sühne leisten … wegen des Mädchens, an das er sich nicht erinnern kann.«

Sühne. Alles, was Dante je etwas bedeutet hatte, hatte man ihm seit seiner Geburt immer wieder entrissen. Wenn er jemanden ins Herz schloss, folgte darauf Leid. Heather fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Er war allein zu Ronin gegangen, damit zumindest diesmal kein anderer sterben oder an seiner statt leiden musste.

»Ich brauche diese Akte, um Dante zu finden«, sagte sie. »Elroy Jordan hat ihn in seiner Gewalt, und der Grund dafür steht vielleicht da drin.«

»Um ihn zu quälen – genau wie Sie es vorhergesagt haben«, antwortete De Noir leise. »Sie haben mich davor gewarnt, dass ich es nicht aufhalten könne. Aber ich wollte nicht auf Sie hören.«

Die tiefe Niedergeschlagenheit in De Noirs Stimme tat Heather weh. Sie schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich keine Vorwürfe«, antwortete sie. »Sie dachten, Sie könnten ihn beschützen. «

Sie stand auf und trat an die Theke. Ein schwacher Duft von Kaffee hing in der Luft. Sie kippte den alten Kaffeesatz in den Müll, schwenkte den Filter im Spülbecken aus und löffelte neuen Kaffee hinein.

Elroy Jordan war der Cross-Country-Killer. Vielleicht war Ronin an den Morden beteiligt gewesen, vielleicht hatte er Jordan auch nur in Dantes Richtung gelenkt. Ronin hatte gewusst, dass sowohl Dante als auch Jordan an Johanna Moores Psychopathen-Experiment teilgenommen hatten. Aber woher hatte er diese Information gehabt?

Sie schüttete Wasser in die Kaffeemaschine, stellte die Kanne auf die Heizplatte und schaltete den Apparat ein. Was war mit Ronin geschehen? Sie warf einen Blick auf De Noir. Er stand reglos neben dem Tisch, den Aktendeckel in einer Hand, den Kopf gesenkt. Sein schwarzes Haar verdeckte sein Gesicht. Er schien zu lauschen, und sein Körper zitterte fast vor Anstrengung.

»Dante«, hauchte er. »Ah, still, Kind. Ich werde dich finden. « De Noir hob den Kopf und sah Heather an. »Ich habe ihn gerade gespürt … ihn gehört … zumindest einen Augenblick lang. Er ist …« Er hielt inne und schwieg.

De Noirs Miene signalisierte Heather, dass das, was er von Dante erfahren hatte, alles andere als beruhigend gewesen war. Ihr Herz verkrampfte sich. »Ronin«, sagte sie trotzdem. »Was ist mit ihm passiert?«

»Er ist tot.«

Was auch immer Ronin geplant hatte, ob er jemanden entlarven oder erpressen wollte, war mit ihm gestorben. Wie viel hatte er Elroy über Bad Seed erzählt? Genug, vermutete sie, gerade genug, um ihn zu kontrollieren. Genug, um ihm Appetit auf die ganze Geschichte zu machen.

Heather hörte zu, wie der Kaffee in die Kanne tröpfelte. Wie sah also Jordans Plan aus? S gehört mir. Einer Sache war sie ganz sicher, und diese Sicherheit jagte ihr einen eisigen Schauder über den Rücken: Egal, was passieren würde – Jordan wollte Dante besitzen. Für immer – und von Seattle bis New York pflasterten die Leichen derer seinen Weg, die Elroy Jordan zuvor hatte besitzen wollen.

Wohin war er unterwegs? Wohin brachte er Dante? S gehört mir. An wen waren diese Worte gerichtet gewesen? An Ronin? An die Bullen?

Als der starke Duft frisch aufgebrühten Kaffees die Küche erfüllte, rutschte endlich das letzte Stück des Puzzles an seinen Platz.

Johanna Moore. Die Worte waren an Johanna Moore gerichtet gewesen.

Jordan wollte sie mit Dante – mit S – konfrontieren und ihr zeigen, dass er ihn jetzt bei sich, in seiner Hand hatte.

Mit rasendem Herzen stürzte Heather zu De Noir und entriss ihm den Aktenordner. »Ich glaube, ich weiß, wohin sie unterwegs sind«, sagte sie.

Johanna kehrte mit einem Glas Eierlikör mit einem Schuss Cognac an den offenen Kamin in ihrem Wohnzimmer zurück und setzte sich in einen Sessel. Das Feuer prasselte, die Holzscheite knackten und verströmten ihren Kiefernduft im Zimmer. Sie nippte an dem Glas, klappte ihr Mobiltelefon auf und wählte erneut Giffords Nummer. Sein anhaltendes Schweigen beunruhigte sie.

Nach dem dritten Klingeln nahm jemand ab. Aber es war nicht Giffords Stimme, die sie am anderen Ende der Leitung hörte. »Hallo? Hallo? Hier Detective Fiske. Wer ist denn da?«

»Hier Dr. Johanna Moore, FBI. Wieso haben Sie Agent Giffords Telefon, wenn ich fragen darf, Detective?«, antwortete sie.

»Tut mir leid, Doktor Moore, aber Agent Gifford ist tot.«

Die schwarze, leere Nacht schlich sich in Johannas Herz und ließ es fast stillstehen. »Wie?«

»Wir sind noch nicht sicher, was genau passiert ist. Wir haben mehrere Leichen am Tatort«, antwortete Fiske. »Warum war Ihr Agent denn hier?«

»Er sollte jemanden beobachten.« Das Feuer im Kamin entließ das Aroma von Kürbis und Zimt in die Luft. »Sind die anderen Toten schon identifiziert? Vielleicht ist unser Verdächtiger darunter.«

»Special Agent Craig Stearns und einer unserer Männer – Detective Trent Collins.« Fiskes Stimme klang belegt und heiser.

»Das tut mir leid zu hören, Detective«, antwortete Johanna. »Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden, ja?«

»Wen haben Ihre Leute beobachtet?«

»Thomas Ronin.«

»Das Haus hier hat jemand unter diesem Namen angemietet. Ich werde Sie anrufen, wenn ich noch Fragen habe.«

»Tun Sie das, Detective. Danke Ihnen.« Johanna beendete das Gespräch.

Sie starrte ins Feuer, und die tanzenden Flammen beruhigten ihr aufgewühltes Inneres. Sie versuchte, sich zu sammeln. Langsam ging sie vom Wohnzimmer ins Arbeitszimmer und blieb hinter dem Schreibtisch stehen. Sie sah auf den GPS-Empfänger. Kein Signal. Wie E war auch S nicht mehr angeschlossen. Hatten sie sich zusammengetan? War Ronin bei ihnen?

Johanna trat zum Fenster und zog den Vorhang beiseite. Sie berührte die Glasscheibe, die zwischen ihr und der Winterwelt draußen stand, und schloss die Augen. Sie wünschte sich, es würde schneien.

Stearns und Wallace hatten sie einen guten Mann gekostet, den sie noch viele Jahre vermissen würde. Was war in New Orleans passiert?

Johanna öffnete die Augen und wandte sich vom Fenster ab. Sie musste ihr schönes blutgeborenes Kind finden, ehe Ronin es korrumpierte und zerstörte – und was, wenn ihr père de sang E und S nach Hause brachte?

Dann musste sie stark sein. Johanna schlüpfte in ihren Mantel und zog Handschuhe an – eine Gewohnheit, die sie aus ihren Zeiten als Sterbliche beibehalten hatte. Sie trat in die Nacht hinaus, ihr Atem ein blasser Hauch in der Luft, und ging auf die Jagd.

 

Um sich vor dem kalten, feuchten Wind zu schützen, duckte sich Heather hinter Von und drückte ihr Gesicht gegen seine Lederjacke, während der Nomad mit seiner Harley die Interstate in Richtung des Louis Armstrong International Flughafens brauste. Sie hatte die Arme um Vons Taille geschlungen und war froh, dass ihr Simone Helm und Handschuhe geliehen hatte. Der Wind blies durch Vons Haar und peitschte seine Mähne immer wieder von einer Seite zur anderen.

Von lenkte das Motorrad durch den Verkehr und zwängte sich dabei in einer furchterregenden Geschwindigkeit zwischen Autos und Sattelschleppern durch. Die Nacht flog an Heather vorbei, durchzogen von rotsilbernen Schlieren.

Nachdem Trey im Netz Johanna Moores Adresse gefunden hatte, war Heather ohne Zögern ans Telefon gestürzt und hatte den nächsten Flug nach Washington gebucht. Sie setzte so zwar alles auf eine Karte, und zwar darauf, dass Elroy Jordan zu Moore »nach Hause« fuhr, doch es fühlte sich irgendwie richtig an.

De Noir hatte sich geweigert, einen Platz im Flugzeug zu reservieren. Er hatte erklärt, er werde auf seine eigene Weise dorthin gelangen.

Sie fragte sich, ob er gerade jetzt über ihnen dahinflog, Haar und Wimpern weiß bereift.

Trey hatte auch herausgefunden, dass ein gewisser C. K. Cross ein paar Tage zuvor einen Einkauf getätigt hatte, und zwar einen weißen Chevy-Van mit auf Kundenwunsch getönten Fenstern und einigen Änderungen im Innenraum. Der Händler hatte auch die provisorischen Nummernschilder gestellt, aber Heather hatte das Kennzeichen nicht an die Polizei weitergeleitet, da sie nicht wollte, dass noch mehr Menschen – so wie Collins – sterben mussten.

Außerdem war da noch Dante … Heather war nicht sicher, wie er reagieren würde, wenn sie von der Polizei angehalten werden würden. Sie dachte an die alptraumartige Szene auf der CD und an den eisigen Zorn, der sich in Dantes Miene widergespiegelt hatte, als er die Prejeans umbrachte.

 

Dante sitzt im Schneidersitz in einer Ecke des Esszimmers und blättert in einem Musikmagazin – vielleicht ist es Metal Scene – , in seinen Ohren stecken Kopfhörer. Er befindet sich anscheinend in seiner eigenen Welt, ist aber angespannt und nervös, bereit innerhalb des Bruchteils einer Sekunde um sich zu schlagen.

Wenn eines der anderen vier Pflegekinder im Haus auf ihn zutritt, zieht er seine Kopfhörer bereitwillig heraus. Mit zweien der Kinder spricht er Cajun, mit den anderen beiden Englisch. Er neigt den Kopf zur Seite und lacht. Ein Teenager in etwa demselben Alter wie Dante – etwa dreizehn oder vierzehn – setzt sich ein Weilchen neben ihn und legt seinen Kopf auf Dantes Schulter. Dante nimmt den Jungen in den Arm, und dann betrachten sie gemeinsam das Magazin.

Dann, einen Herzschlag später, bricht die Hölle los. »Mama« Adelaide Prejean gibt einem blonden Mädchen, das gerade den Tisch deckt, eine Ohrfeige und erklärt ihr, dass sie »wieder mal nur Scheiße« mache. »Papa« Cecil Prejean grunzt gereizt und verpasst der Kleinen mit dem Handrücken eine weitere Ohrfeige, so dass diese zu Boden geht.

Dante steht so schnell auf, dass nicht einmal die Kamera seine Bewegung festhalten kann. Der andere Junge, der neben ihm saß, hält mit offenem Mund noch die flatternde Illustrierte in der Hand. Dante verpasst Mama Prejean einen Schlag, wodurch sie einen Meter durchs Zimmer fliegt. Er springt sie an und reißt sie um. Dann schlägt er ihren Schädel gegen die Dielenbretter, bis er bricht und Blut und Hirnmasse auf das Holz und Dantes Hände spritzen.

Dann schüttelt er sich, steht auf und bewegt sich erneut zu schnell für die Kamera. Er drückt den fassungslosen Papa Prejean gegen die Wand und reißt seinen Hals mit den Fingernägeln auf. Blut spritzt auf Dantes verzückt wirkendes Gesicht. Er leckt es sich von Lippen und Fingern.

Sobald Papa Prejean kein Blut mehr in sich hat, lässt Dante ihn fallen, und er sackt tot zu Boden. Dante nimmt die anderen Pflegekinder und erklärt ihnen, sie sollen verschwinden.

Er sucht die Leichname nach Kreditkarten, Bargeld und nach allem ab, was irgendwie wertvoll sein könnte, und durchwühlt auch Mama Prejeans Handtasche. Dann teilt er alles unter den vier Kindern au f und behält nichts für sich.

Sobald die anderen weg sind, verschüttet er Grillanzünder im ganzen Haus und holt Benzin aus der Garage. Das gießt er über die Leichen. Er entzündet ein Streichholz. Wumm! Er wartet noch einen Augenblick, ehe er zum letzten Mal das Domizil der Prejeans verlässt.

Dante sieht dem gewaltigen Feuer von der Straße aus zu. Auf seinem makellosen, blutbespritzten Gesicht, in dem sich die Flammen spiegeln, zeigt sich Verzückung.

 

Heather erinnerte sich an Dante, wie er vor dem Anarchiesymbol gestanden und erklärt hatte: Freiheit ist das Ergebnis von Zorn.

Er hatte in jener Nacht nur für vier die Freiheit gewonnen. Er selbst war vom Bad-Seed-Projekt aufgegriffen worden, ehe man sein Gedächtnis in seine Einzelteile zerlegt und tief in seinem Inneren vergraben hatte. Ihn bis aufs Blut gereizt und auf die Menschheit losgelassen hatte.

Dante hatte auf der Straße überlebt. Aber würde er auch seine Vergangenheit überstehen?

Von lenkte das Motorrad auf die Autobahnabfahrt und schaltete einen Gang herunter. »Wir sind fast da!«, rief er.

Stearns hatte Dante ein Monster genannt, aber die wahren Monster waren die Leute hinter dem Bad-Seed-Projekt – Dr. Johanna Moore und Dr. Robert Wells. Kein Wunder, dass Johanna Moore den Studenten an der FBI-Akademie derart viel beibringen konnte und ihre Fallanalysen jedes Mal unheimlich akkurat erschienen. Sie hatte schließlich in Wahrheit geholfen, die Mörder zu erschaffen, über die das FBI dann später Profile erstellen sollte.

War Bad Seed in Dantes Fall gescheitert oder erfolgreich gewesen? Der Mord an den Prejeans verstörte Heather, aber wenn man wusste, welche Qualen er durch dieses Paar und die anderen neunundfünfzig Pflegeeltern hatte erleiden müssen – die schlimmsten, die Louisiana zu bieten hatte –, war er irgendwie auch nachvollziehbar. Gleichzeitig hatte sie bisher immer geglaubt, es gäbe für Mord keine Entschuldigung. Doch ein Grund existierte meist zweifelsohne.

In diesem Fall – man hatte einen Jungen bewusst bis an die Grenzen des Erträglichen gebracht – sah Heather nur Grautöne, obwohl man sie dazu erzogen hatte, ausschließlich Schwarz und Weiß zu sehen. Man hielt sich ans Gesetz oder man brach es. Ganz einfach. Aber war es wirklich so einfach?

Hätte Dante einfach davonlaufen und die anderen Kids ihrem Schicksal überlassen können? Wenn das Projekt erfolgreich gewesen wäre, hätte Dante nur an sich selbst gedacht und die anderen zu seinem Vorteil benutzt. Er hätte sich nie wegen eines kleinen Mädchens in Gefahr gebracht. Er hätte nie wegen ihr geweint. Er wäre nie allein in ein Schlachthaus gegangen, um einen Freund zu retten und sich gegebenenfalls selbst zu opfern.

Ich muss ein Versprechen einlösen.

Aber wenn das Projekt gescheitert wäre, hätte er nie einen Mord begangen.

Die Lichter des Flughafens leuchteten vor ihnen in der kalten Luft auf. Heather sah über Vons Schulter, als er wieder schneller wurde. In Gedanken kehrte sie zu einem ihrer letzten Unterhaltungen mit Collins zurück. Fünf Tote in einer Kneipe. Brandstiftung. LaRousse und Davis – tot.

Die beiden waren mit einem Haftbefehl für Prejean unterwegs …

Das kleine Arschloch dreht sofort durch.

Böses Blut zwischen Dante und LaRousse.

Heathers Muskeln verkrampften sich. Ihre Gedanken gingen in eine Richtung, die ihr nicht gefiel. Was war, wenn Jays Tod und Dantes Unfähigkeit, ihn zu beschützen, sein Scheitern, ihn am Leben zu halten, dieselben Impulse in ihm auslösten wie Chloes Tod? Was war, wenn das Projekt doch erfolgreich gewesen war und Ronin die richtigen Stressfaktoren eingesetzt hatte, um Dante zum Überkochen zu bringen?

Was war, wenn Dante in der Kneipe gewesen war? Was, wenn er dort seine ersten Schritte auf dem Weg eines Serienmörders gemacht hatte? Einem Weg, den er nun weiter verfolgen wollte?

Heather schlang die Arme enger um Vons Taille. Sie hoffte, dass sich ihr Bauchgefühl zur Abwechslung irrte und ihr Instinkt falsch lag.

Er hat die Prejeans getötet und ihr Haus in Brand gesteckt.

Von wurde wieder langsamer und schaltete zwei Gänge herunter, als er die Harley auf die Abflug-/Ankunfts-Spur lenkte, die zum Flughafen führte. Das Motorrad knatterte, und das Geräusch hallte wie ein leises Donnergrollen von den Gebäuden wider. Einige Leute blickten sich überrascht um, als sie den Ton hörten. Von parkte die Maschine am Bordstein und drückte den Motorradständer nach unten.

Heather stieg ab. Sie öffnete den Riemen ihres Helms, setzte ihn ab und gab ihn dem Nomad. Vons windzerzaustes Haar fiel wieder nach unten und schimmerte im Licht des Flughafens wie dunkle Seide.

»Ich komme mit Ihnen«, sagte Von und schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn. »Sie brauchen einen Leibwächter, und ich bin gerne bereit, diese Rolle zu übernehmen, Süße.«

Heather sah in die grünen Augen des Mannes. Die Halbmond-Tätowierung glänzte wie Eis.

»De Noir wird da sein. Aber vielen Dank.«

»Nichts gegen Lucien, aber Ihr Schutz wird nicht sein Hauptanliegen sein.«

Heather zog eine Braue hoch. »Aber Ihres schon?«, fragte sie.

»Ja – wegen Dante«, antwortete der Nomad. »Ich weiß, Sie bedeuten ihm viel.«

Heather schluckte. »Er bedeutet mir auch viel«, antwortete sie. »Aber die Sonne geht bald auf, und Sie werden in Schlaf fallen.«

»Wenn ich wegdösen sollte, verpassen Sie mir einfach einen Schlag, und zwar nicht zu zimperlich.«

»Ich habe genügend andere Sorgen, als dass ich Sie auch noch halb schlafend durch Washington schleppen möchte, Von«, sagte Heather und lächelte. »Aber nochmal danke für das Angebot. Ich kann ganz gut auf mich aufpassen. Das habe ich schon mein ganzes Leben getan, ich weiß, wie das geht.«

Von grinste sie schalkhaft an. »Das glaube ich gern, Süße. Sehr gern.« Er zog die Sonnenbrille wieder auf seine Nase.

»Außerdem brauchen wir jemanden hier, falls ich mich irren sollte.«

»Sie wissen, dass Sie das nicht tun«, antwortete Von, klappte den Motorradständer hoch und ließ den Motor an. Die Harley begann, laut zu rumoren. »Guten Flug«, sagte er, »und eine noch bessere Jagd. Bringen Sie ihn heil wieder zurück, Süße.« Damit trat er die Gangschaltung nach unten und rumpelte davon.

Heather ging in den Flughafen, die Handtasche über der Schulter. Immer wieder hörte sie Vons Worte in ihrem Inneren: Ich weiß, Sie bedeuten ihm viel. In diesem Augenblick wusste sie, dass auch Dante eine Stimme brauchte – eine Stimme, die ihm endlich für seine vielen verlorenen Jahre, für seine gestohlene, brutalisierte Kindheit und seine ermordete und dann achtlos weggeworfene Mutter Gerechtigkeit widerfahren ließ.

Dantes Leben hatte nie ihm gehört.

Dante hatte gesprochen, als er die Prejeans tötete. Er hatte mit den Monstern gesprochen, die sich in den Schatten verbargen, ihn beobachteten und alles aufnahmen. War Dante eine Stimme für Chloe gewesen?

Hatte er in der Gaststätte auch wieder gesprochen, als er verwirrt, mit gebrochenem Herzen und seiner Vergangenheit anheimgefallen, alles andere um sich herum vergessen hatte? War er da die Stimme für Jay gewesen? Oder war er einem Programm gefolgt, das Johanna Moore gestartet hatte? Oder hatte er sich vielleicht einfach der dunklen Seite seines Wesens ergeben?

Heather ging zum Sicherheitsschalter, um eine Genehmigung für Angehörige des Polizei und anderer Behörden zu holen, damit sie ihre Achtunddreißiger mit an Bord nehmen konnte. Sie holte ihre FBI-Marke heraus und gab sie dem apathischen Beamten.

Dantes Bewusstsein, seine Seele und seine Psyche waren schwer verletzt, aber sein Herz war noch immer voller Mitgefühl. Nachdem sie neben ihm und in seinen Armen gelegen hatte, wusste Heather, dass er nie so werden konnte wie Elroy Jordan, der aus Vergnügen und um der Macht willen tötete.

Was, wenn er trank? Wenn er auf die Jagd nach Blut ging?

Wie war es gewesen, als er Cecil Prejeans Hals aufgerissen hatte?

Würde sie auch für seine Opfer eine Stimme werden müssen? Konnte sie überhaupt für seine Opfer sprechen?

Heather fühlte sich seltsam leer und orientierungslos. Sie war voller Zweifel. Sie hatte sich bis über beide Ohren in einen Mann verliebt, der kein Mensch war – und ein Mörder. Doch wie konnte man erwarten, dass er sich für Taten verantwortete, an die er sich nicht einmal erinnern konnte? Mit dieser Frage würde sie sich vermutlich recht bald auseinandersetzen müssen.

Nachdem sie ihn gefunden hatte; nachdem sie ihn gerettet hatte.

 

Während E den Van durch Georgia lenkte, wanderte sein Blick immer wieder zum Rückspiegel, um den schlafenden Blutsauger betrachten zu können – mit Drogen vollgepumpt und gefesselt. Eine Klinge steckte noch immer in seinem Bauch. Der Anblick ließ E erbeben, als hätte er einen Stromschlag bekommen. Bald, versprach er sich innerlich.

Als Dante zu schreien begonnen hatte, während E ihm aus seiner Akte vorlas, hatte er ihn mehr als nur einmal erschreckt angestarrt. Die Handschellen hatten geklirrt, als Dante daran gerissen hatte, und der Van hatte so heftig geschaukelt, dass E Angst bekommen hatte, Dante könnte sich losreißen. Vorsichtshalber hatte er mit dem Lesen aufgehört und noch eine Spritze genommen, sie bis um Anschlag mit Blutsauger-Drogen gefüllt und Dante in den Hals gejagt.

Dann hatte Dante zu lachen begonnen.

 

Dante lacht, es ist ein unbegreifliches, tiefes, enthemmtes Lachen, das gebrochen klingt. Nach einer Weile lacht E mit, da es schließlich eine recht lustige Geschichte ist, wenn man diejenige, die man eigentlich will, aus Versehen abmurkst … der reine Wahnsinn! Zum Totlachen, wenn man es genau bedenkt, und dieser Gedanke lässt E erneut losprusten, bis er kaum mehr kann.

Dante schließt die Augen. Tränen laufen ihm aus den Augenwinkeln, während die Wirkung der Spritze einsetzt. Hat sich auch fast totgelacht, denkt E zufrieden und genießt ihre plötzliche Kameraderie. Sein Bad-Seed-Bruder verfällt in Schweigen.

 

Eine laut tutende Hupe katapultierte E in die Gegenwart zurück. Scheinwerfer im Rückspiegel. Er war so sehr damit beschäftigt gewesen, Dante zu begutachten, dass er aus Versehen so langsam wie eine alte Frau gefahren war. Obwohl ihn sein erster Instinkt am liebsten hätte auf die Bremse treten lassen, beschloss E, es sei vernünftiger, auf die rechte Spur hinüberzuwechseln. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war ein Zusammentreffen mit der Polizei.

Der Idiot, der so dicht aufgefahren war, rauschte an ihm vorbei, und E biss die Zähne zusammen, als der Kerl noch ein letztes Mal hupte. Vorsichtshalber merkte er sich das Kennzeichen. Man konnte ja nie wissen. Dann grinste er und warf erneut einen Blick in den Rückspiegel, um Dante zu beobachten.

Lies mir vor.

Diese Worte hatten E einen kalten Schauder über den Rücken gejagt. Sie taten es noch immer. Unruhig und sehnsüchtig begann er, auf dem Fahrersitz herumzurutschen. Die Sonne würde in etwa zwei bis drei Stunden aufgehen, und Dante würde für den Rest des Tages in Schlaf fallen, wie das die Vampire meist taten. E konnte dann auch etwas dösen. Eventuell würde er sich vorher an einer Raststätte noch etwas zu essen besorgen.

Was war mit seinem Bad-Seed-Bruder? Würde auch er einen Bissen brauchen? Könnte lustig werden, für Dante einen leckeren Happen zu besorgen.

E wand sich. Er konnte, er wollte nicht länger warten.

Bei der nächsten Raststätte bog er ab und parkte den Wagen so weit wie möglich von den anderen Autos und Lastern. Er schaltete den Motor aus und legte Dantes neueste Inferno-CD in den CD-Spieler. Dann drehte er die Lautstärke so hoch, dass man draußen keine Schreie hören würde. Die Musik dröhnte und donnerte, während Dantes sexy Stimme heiser flüsterte:

You try to kiss away my feelings,
you need to change me,
want to suck me dry …

E kroch in den hinteren Teil des Vans und schloss den Vorhang hinter sich. Sein gebrochenes Handgelenk schmerzte, aber das kümmerte ihn nicht. Er würde ein paar Pillen schlucken, wenn er mit Dante fertig war.

E kniete sich neben die Luftmatratze und strich Dante das Haar aus dem Gesicht. Sein Blick blieb an dem Blut unter seiner Nase und auf seinen Lippen hängen.

»Wie ein Engel«, murmelte E. Doch der Engel, den er sich vorstellte, hatte schwarze Flügel und dunkle, herausfordernde Augen.

I only trust my rage,
you mean nothing,
maybe you never did,
and that scares me …

Er zog die Klinge aus Dantes Bauch. Blut lief auf die bleiche Haut des Blutsaugers. E schob die Hand unter Dantes T-Shirt und ließ sie über dessen fiebrig heiße, klebrige Brust wandern. Die Wunden in seiner Brust waren beinahe verheilt.

Goldenes Feuer brannte in E und setzte seinen ganzen Körper in Brand. Sein Herz verfiel in einen Galopp und erschütterte seinen Körper mit einem intensiven Rhythmus. Seine Hand wanderte über Dantes flachen Bauch, vorbei an seinem geöffneten Gürtel und in seine Jeans. Der Gott gestattete sich eine weitere Erkundungsrunde.

Keuchend zog E die Hand aus Dantes Hose. Er schloss die Augen. Als er sie wieder aufschlug, verbanden ihn an Stirn, Bauchnabel und Schoß goldene Bänder mit seinem Bad-Seed-Bruder.

E nahm Navarros Gedichtband zur Hand, setzte sich auf seine Hacken und begann Dante erneut vorzulesen.

Ich spüre sie
Dort in der Dunkelheit
Lauernd darauf,
Sich an meinen Träumen zu laben.
Ihr schimmernder Schwanz rollt sich ein,
Hält mich gefangen.
Sie saugt an meinem Atem,
Nimmt mich in sich auf.
Ich brenne unter ihr,
In ihr …
Ein sterbender Stern.

Der Geschmack von süßem, zähflüssigem Honig breitete sich auf Es Zunge aus. Er schloss das blutbespritzte Buch und legte es auf den Boden. Auf Knien rutschte er zu der Luftmatratze und setzte sich auf Dante. Er lehnte sich vor und presste seine Lippen auf die seines Gefangenen.

»Ich bin dein Gott. Ich bestimme jeden Atemzug, den du machst.«

Dantes Augen öffneten sich. Seine Pupillen waren geweitet und bräunlich umrandet.

»Nenne mir den, den du liebst.«

»Du bist es jedenfalls nicht«, murmelte Dante mit von Drogen schwerer Zunge.

Ein Zucken des Handgelenks, und eine Klinge glitt in Es Rechte. Er holte tief Atem, während er den Geruch des Bluts genoss, das schon geflossen war. Doch da war auch noch etwas anderes – ein süßeres Aroma. Er runzelte die Stirn. Ein bekannter Geruch. Er beugte sich vor und schnupperte an Dantes Hals. Er schob sein Shirt hoch und beschnüffelte seine Brust. Blut und der schwache Duft von … Flieder.

Es Gedanken wirbelten in das Haus des Blutsaugers zurück, wo er auf der Couch aufgewacht war, nachdem er den Zusammenstoß mit dem großen Kerl gehabt hatte. Er dachte an die Frau, die in dem Sessel der Couch gegenüber gesessen hatte, rote Strähnen über das hübsche, schlafende Gesicht gebreitet. Er erinnerte sich, wie er sich über sie gebeugt hatte, die Klinge in der Hand – ein großmütiger Gott vor einer demütigen Bittstellerin. Er war ihr ganz nah gekommen und hatte ihren Duft eingeatmet. Warm und süß … Flieder.

Wie der Duft, den er jetzt auch an Dante wahrnahm.

E richtete sich auf. Der bittere Geschmack der Wahrheit löste den Honiggeschmack von seiner Zunge und begann, in seinem Bauch wie frischer Teer zu brodeln und zu kochen. E war Heather nie näher als in diesem Augenblick gekommen, als er an ihr, über sie gebeugt, gerochen hatte. Dennoch hatte er sie nicht berührt.

Doch Dante hatte es getan, dieser hinterlistige kleine Blutsauger.

»Du warst mit Heather zusammen«, sagte E mit leiser Stimme, in der deutlich selbstgerechter Zorn mitschwang. »Sie gehört mir. Schon immer. Sie folgt mir

»Sie folgt dir nicht – sie jagt dich, und sie gehört dir bestimmt nicht.«

»Nenne den, den du liebst«, fauchte E.

»Nein.«

»Sie gehört mir!«

E stieß die Klinge in Dantes Brust, dann riss er sie wieder heraus und stieß erneut zu. Blut spritzte. Die goldenen Bänder, die E mit Dante verbunden hatten, rissen, zerfaserten und versprühten goldenes Licht in die Luft.

Stechend und schlitzend ging E an die Arbeit. Dante wandte das Gesicht ab und schloss die Augen. Blut trat ihm auf die Lippen. Er zuckte und versuchte, E abzuschütteln, aber der grinste nur und drückte mit seinen Schenkeln fester zu. Er genoss das Ganze zu sehr, um sich so leicht abschütteln zu lassen.

Hatte Dante mit Heather Sex gehabt? Hatte er ihr Blut getrunken? Hatte sie ihn um mehr angefleht?

Keuchend vor Wut und Aufregung packte E Dante mit blutbefleckten Fingern am Kinn. Er wünschte sich, zwei gesunde Hände zu haben, um sie um Dantes bleichen Hals legen zu können. Als er ihn zwang, ihn anzusehen, öffnete der Blutsauger die Augen. Ein goldroter Ring umgab seine Iris, und seine geweiteten Pupillen glühten.

»Genug«, sagte Dante, obwohl er kaum zu sprechen vermochte.

Ein Schmerz schoss durch Es Kopf, bohrte sich in seine Augäpfel und durchdrang sein Trommelfell. Er griff sich an die Schläfe und schloss angsterfüllt die Augen. Schmerz verbrannte sein Gehirn.

E begann zu schreien.