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EINE STIMME FÜR DIE TOTEN

Der süßliche Geruch von Blut und Geißblatt hing wie fauliger Rauch im feucht-dunstigen Innenhof. Eine nackte Gestalt lag zusammengerollt an einer efeubewachsenen Steinmauer, die gefesselten Hände wie die eines schlafenden Kindes unter dem Gesicht gefaltet – eine Geste, die im krassen Gegensatz zu dem geschwollenen, geschundenen Antlitz des Mannes stand. Ein schwarzes Netzhemd war um seinen Hals gewickelt, und Blut sammelte sich um seinen Körper. Schimmerte auf der Haut und dem Steinboden.

An der Wand über ihm stand in Blut geschrieben:

WACH AUF

Heather Wallaces Muskeln, die von dem langen Flug aus Seattle bereits verkrampft waren, spannten sich noch mehr an. Die Botschaft war eine verstörende Neuerung, falls es sich tatsächlich wieder um eine Tat des Cross-Country-Killers handelte. War es eine Warnung? Eine Aufforderung? Oder ein düsterer, zynischer Scherz auf Kosten seines sterbenden Opfers?

Heather holte tief Luft und trat aus der Hintertür von Da Vincis Pizza in den im Schatten liegenden Hinterhof. Sie umrundete behutsam die mit Nummern versehenen Beweisstücke, die auf dem alten Steinboden verteilt lagen.

»Daniel Spurrell. Alter neunzehn«, sagte Detective Collins, der gerade unter die Tür getreten war. »Aus Lafayette. Student an der LSU. Vor drei Tagen verschwunden. Wurde um etwa zwölf Uhr mittags von einem Angestellten im Innenhof entdeckt.«

Woanders gefoltert, dann hier abgelegt, dachte Heather. Warum gerade hier?

Altmodische Gaslaternen tauchten den Hof in ein fahles, flackerndes Licht. Außer dem Blutgestank nahm Heather einen Hauch von Jasmin und Efeu wahr, kraftvoll und immergrün, ein weißblütiges Aroma, das den Geruch des Todes nicht zu verdecken vermochte.

Seit drei Jahren folgte sie nun schon der Spur des CCK. Trotzdem wurde es nicht leichter, seine Opfer zu sehen.

Sie kniete sich neben das, was von Daniel Spurrell übrig geblieben war. Gepeinigt. Geschändet. Inszeniert. Das jüngste Opfer eines durchs Land wandernden sexuellen Sadisten.

Eine dumpfe, aber heftige Erschütterung drang durch eine weitere Tür an der Hinterhofmauer und kroch Heathers Rückgrat hinauf. »Was ist auf der anderen Seite dieser Mauer?«, fragte sie den Detective, den Blick weiterhin auf Daniels gequetschtes Gesicht gerichtet.

»Club Hell«, antwortete Collins. »Ein Musikschuppen. Bar und so.« Er hielt inne und fügte hinzu: »Außerdem ein Treffpunkt für Vampire. Für solche, die so tun als ob. Sie wissen schon.«

»Meinen Sie Goths? Oder Gamer?«

Collins lachte. »Das müssen schon Sie mir sagen. Klingt, als würden Sie sich in dieser Szene ganz gut auskennen.«

»Meine Schwester war mal Sängerin einer Band«, meinte Heather. »Auf ihren Konzerten habe ich alle möglichen Typen getroffen.«

Langes, blauschwarzes Haar verschleierte das Gesicht des Jungen. NightGlo, dachte Heather. Eine Farbe, die Annie oft benutzt hatte, wenn sie und WMD mit ihrem Hardcore-Punkrock auf die Bühne gestürmt waren. Das war, bevor sich die manisch-depressive Annie bei einem aufsehenerregenden Zusammenbruch während eines Konzerts vor den Augen des Publikum die Pulsadern aufgeschnitten hatte.

Heather konzentrierte sich auf das Zeichen auf der Brust des Jungen – ein Zeichen, das ins Fleisch geschnitten oder gebrannt worden war. Sie beugte sich weiter vor. Verkohlte Haut. Brandblasen. Eine Reihe von Kreisen – hatte der CCK etwa einen Zigarettenanzünder benutzt?

Das Symbol für Anarchie.

Eiseskälte ließ Heather das Blut in den Adern gefrieren. Das Symbol war auch neu. Wenn das hier tatsächlich ein weiteres Werk des Cross-Country-Killers sein sollte, dann hatte sich seine typische Signatur, sein Grund für die Morde von der bisherigen Suche nach einsamer Intimität – die letzten verzweifelten Momente seines Opfers gehörten schließlich allein ihm – in den Wunsch nach einer öffentlich wahrgenommenen Tat verwandelt. Er schien plötzlich geradezu um Aufmerksamkeit zu buhlen.

Undenkbar. Theoretisch. Aber falls sich der Antrieb wirklich geändert hatte, was dann?

Dann musste sie den Grund dafür finden.

Heather musterte Daniels Gesicht, das blauschwarze Haar, den Netzstoff, der eng um seinen Hals gewickelt war. Sie atmete den noch immer in der Luft hängenden Geruch des Todes ein und versuchte, ihn zu schmecken.

Warum du? Bewusst ausgesucht? Oder zur falschen Zeit am falschen Ort … und warum gerade hier?

Sie glaubte, die Stimme ihres Vaters zu hören, tief und leise, in einem fast ehrfürchtigen Tonfall: »Die Toten sprechen allein durch die Indizien. Allein mit Hilfe der Indizien kannst du eine Stimme für die Toten sein. «

Heather stand auf. S. A. James William Wallace – angesehenster Gerichtsmediziner des FBI und schlechtester Vater der Welt.

»Die Toten sind nicht die Einzigen, die sich Gehör verschaffen wollen, Dad.«

»Ach, Pumpkin, die Mörder haben in dem Augenblick ihre Stimme gefunden, in dem sie eine Pistole, ein Messer, einen Strick oder einen Baseballschläger in die Hand nehmen – in dem Augenblick, in dem sie töten. Nur durch Indizien wirst du ihre Stimme zum Schweigen bringen. «

Heather wandte sich von Daniels zusammengerolltem Körper ab. Sie strich sich die regenfeuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht und lauschte dem dumpfen Dröhnen des Basses, der aus dem Club Hell zu ihr herüberdrang.

Daniels Mörder sprach laut und vernehmlich. Er war ein organisierter Killer und schien stets reflektiert zu sein. Es konnte sich also nicht um Zufall handeln, dass er diese Mauer neben dem Club gewählt hatte. War Daniel seinem Mörder vielleicht im Club begegnet? Warum hatte dieser dann den Leichnam im Hof von Da Vincis deponiert und nicht einfach auf der anderen Seite der Mauer?

Was, wenn diese Tat in Wirklichkeit das Werk eines Trittbrettfahrers war?

Dann war der Cross-Country-Killer noch immer da draußen, genoss weiterhin seine Spritztour durch die Vereinigten Staaten und suchte sich lässig seine Opfer aus – Männer wie Frauen – wie ein Tourist in Bermudashorts seine Postkarten.

Während dieser Gedanke Heather durch den Kopf ging, war ihr eines wieder einmal deutlich bewusst: Sie würde nie zulassen, dass eine Spur kalt wurde, nur weil sie den Ruf eines geliebten Menschen nicht gefährden wollte. Sie würde nie wichtige Beweise unterschlagen, ganz gleich, wie schmerzhaft das auch für alle Beteiligten sein mochte.

Im Gegensatz zu dem ach so prominenten James William Wallace.

Heather gesellte sich zu Collins, der noch immer auf der Schwelle zu Da Vincis stand. Sie konnte deutlich die unausgesprochene Frage in seinen Augen lesen: Ist der Cross-Country-Killer jetzt in New Orleans?

»Die übliche Signatur ist anders«, erläuterte sie. »Die Botschaft an der Mauer … ich kann allerdings erst Genaueres sagen, wenn uns der Autopsiebericht und die DNS-Analyse vorliegen.«

»Was sagt Ihnen Ihr Bauchgefühl?«

Heather warf noch einmal einen Blick auf den Leichnam. Zusammengerollt. Gefaltete Hände. Splitternackt im Regen. Immer wieder war auf den Körper eingestochen worden. Erwürgt. Jung und attraktiv – zumindest früher.

Sie sah Collins an. Er musste etwas über einen Meter achtzig groß sein. Schmal. Mitte dreißig. Ihr fiel die Spannung in seinen Schultern und seinen Kiefermuskeln auf. »Wie tief in der Scheiße stecken Sie, wenn Sie sogar so weit gehen, freiwillig einen FBI-Agenten anzufordern, Detective?«

Einen kurzen Moment lang wirkte er überrascht. »Sie sind offenbar nicht ohne Grund FBI-Agentin geworden … bis zum Hals, würde ich sagen, und es wird schlimmer.«

»Ich werde mein Möglichstes tun, um Sie da rauszuholen«, antwortete Heather. »Übrigens bin ich froh, dass Sie mich angefragt haben.«

Collins musterte sie für eine Weile. Seine haselnussbraunen Augen wirkten grüblerisch. Dann nickte er. »Danke. Aber ich komme da schon selbst raus.«

»Wie Sie meinen.« Heather wich seinem eindringlichen Blick nicht aus. »Meinem Bauchgefühl nach zu urteilen ist das tatsächlich das Werk des CCK. Aber das ist noch inoffiziell. «

Die Andeutung eines Lächelns zeigte sich auf Collins’ Lippen. »Wie Sie meinen.«

»Er ist wahrscheinlich schon lange wieder weg.«

Der Detective nickte trostlos. »Ein Reisender.«

Schrilles Gelächter und durchdringende Jazzrhythmen wehten von der Straße in den Innenhof hinein, unterlegt vom Dauerwummern der Bässe aus dem Club Hell.

»Mardi Gras«, sagte Collins. »Jedenfalls fast. Noch drei Tage, und es ist schon jetzt ziemlich verrückt.« Er schüttelte den Kopf. »Haben Sie das schon mal mitgemacht?«

»Nein, das ist mein erstes Mal in New Orleans«, antwortete sie.

»Darf ich mich dann bei Ihrem Bauch mit einem New-Orleans-typischen Abendessen bedanken?« Collins, der am Türrahmen gelehnt hatte, richtete sich aufrecht. Sein klares, würziges Eau de Cologne durchdrang den immer stärker werdenden Geruch von Blut und Tod.

»Danke, heute nicht. Aber ich nehme gerne einen Gutschein. Heute Abend will ich mich noch ein wenig umsehen und wahrscheinlich auch etwas Schlaf nachholen.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Ich danke Ihnen jedenfalls erst mal für Ihre Zeit und Hilfe, Detective.«

Collins nahm ihre Hand und schüttelte sie. Ein fester Händedruck. Ein zuverlässiger Mann. »Nennen Sie mich Trent. Oder Collins, wenn Sie alter Schule sind. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich etwas höre.«

»Klingt gut, Trent.«

Sie ließ Collins’ Hand los und betrat die Pizzeria, wo sie schnurstracks den Vordereingang ansteuerte. Ihre Gedanken kreisten um das Anarchiesymbol, das sich in ihr Hirn eingebrannt hatte.

Das Muster hat sich verändert. Er kommuniziert. Aber mit wem und warum jetzt?

Heather saß an dem schmalen, lackierten Schreibtisch in ihrem Zimmer und loggte ihren Laptop in das WLAN des Hotels ein. Sie öffnete eine Dose Dr. Pepper und nahm einen tiefen Schluck der kalten, süßen Limonade mit Pflaumengeschmack. Das Getränk breitete sich in ihrem leeren Magen aus wie ein großes Stück Eis.

WACH AUF.

Eine Anweisung? An die Polizei? An das FBI? An sie? Oder an jemanden ganz anderen?

Betrunkenes Gelächter und Rufe – »Alter! Willst du einen Bissen? Alter!« – waren auf dem Gang vor ihrer Tür zu hören. Der Lärm verebbte, als die Nachtschwärmer ihre Zimmer gefunden hatten.

Heather stöpselte sich die Kopfhörer ihres iPods in die Ohren und drosselte die Lautstärke, so dass sie das Klingeln des Telefons hören konnte, falls jemand anrufen sollte. Sie trank noch einen großen Schluck Dr. Pepper und gab dann den Suchbegriff »Club Hell« in die Suchmaschine ein.

Die Raubkopie von Leigh Stanz, die sie sich auf ihren iPod heruntergeladen hatte, spielte in ihren Ohren und half ihr, sich zu sammeln. Stanz’ tiefe, eindringliche, von einer akustischen Gitarre begleitete Stimme klang heiser und erschöpft – wie die Stimme eines Mannes, der zum letzten Mal sein Herz ausschüttet.

I long to drift like an empty boat on a calm sea
I don’t need light
I don’t fear darkness …

Als Heather die Links durchforstete, die ihr die Suchmaschine aufgelistet hatte, erfuhr sie, dass der offenbar ausgesprochen angesagte Club Hell bereits vier Jahre zuvor eröffnet hatte und vor allem von Goths, Punks und Möchtegern-Vampiren frequentiert wurde. Es war also die Art von Location, wo Annie mit ihrer Band WMD früher vermutlich gespielt hätte.

Viele der örtlichen Bands und Underground-Musiker traten in diesem Club auf, vor allem jedoch Inferno, eine Industrial-Goth-Band. Ihr Leadsänger war ein junger Mann, von dem man munkelte, ihm gehöre gleichzeitig auch der Club Hell. Anscheinend war er nur unter dem Namen Dante bekannt.

Heather schüttelte den Kopf. Dantes Inferno. Putzig. Vermutlich kein schlechter Marketingschachzug. Da sie hoffte, mehr über den möglichen Clubbesitzer herauszufinden, googelte sie »Inferno« und erhielt prompt eine Million Treffer. Sie scrollte bis zur offiziellen Website der Band hinunter und klickte dort zuerst auf die Tourdaten. Keine im vergangenen Jahr. Alben – zwei, ein drittes sollte in wenigen Tagen erscheinen. Fotos. Sie hielt inne und betrachtete die dort hochgeladenen Bilder.

Drei Männer Anfang bis Mitte zwanzig – Dreadlocks oder Irokesenschnitt, gestählte Körper, gepierct und tätowiert – standen auf einem von New Orleans’ Friedhöfen und blickten in verschiedene Richtungen. Hinter ihnen war eine vierte Gestalt in schwarzen Jeans und einem weiten Hoodie zu sehen, die Kapuze hochgezogen. Der Mann hatte den Kopf gesenkt und hielt den Rand seiner Kapuze fest, so dass sein Gesicht unsichtbar war. Er schien eingehend die Muscheln und den Kies unter seinen Stiefel zu betrachten.

Was Heathers Aufmerksamkeit jedoch vor allem erregte, war der Anhänger um seinen Hals. Das Anarchiesymbol. Sie setzte sich aufrechter hin und vergrößerte die Aufnahme, starrte auf das A im Kreis, das aus etwas wie Stacheldraht hergestellt zu sein schien und an einem schwarzen Kabel hing.

Mit rascher klopfendem Herzen las Heather die Bildunterschrift. Der Mann war wirklich Dante. Sie klickte auf das nächste Bild. Diesmal hatte er der Kamera den Rücken zugewandt. Kein Anarchiesymbol war zu sehen. Auf der nächsten Aufnahme entdeckte sie den Stacheldrahtanhänger wieder – diesmal an einem gedrehten Stück Draht um sein Handgelenk, wo er an einen Talisman erinnerte.

Daraufhin musterte Heather eingehend alle Fotos. Das Anarchiesymbol war nicht immer präsent oder jedenfalls nicht immer sichtbar. Aber eines fiel ihr auf: Infernos Leadsänger Dante stand nie im Mittelpunkt der Aufnahmen. Er befand sich immer hinter seinen Bandmitgliedern, am Rand des Bildes oder kniete vor ihnen, wobei er allerdings den Kopf gesenkt hielt, so dass man ihn nicht genau sah. Kein einziges Mal konnte man sein Gesicht erkennen. Auf einem Bild gab es eine Strähne schwarzen Haars, auf einem andere eine bleiche Wange – das war alles.

War das ein weiterer Marketinggag? Eine Stilisierung zum wahnsinnig mysteriösen Leadsänger? Oder zeigte sich darin echter Unwille, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen – außer wenn er sich auf der Bühne befand?

Heather scrollte durch die Interviews, die sie ebenfalls im Internet fand. Es überraschte sie nicht, auch hier feststellen zu müssen, dass bei fast allen andere Mitglieder von Inferno Rede und Antwort standen, nicht Dante. »Ist im Studio« war fast immer die Erklärung für dessen Abwesenheit.

Sie trank ihr Dr. Pepper aus und öffnete den letzten Artikel über die Band. Diesmal war Dante nicht »im Studio«, sondern ließ sich sogar allein befragen. Heather stellte die leere Dose mit einem dumpfen Knall auf den Schreibtisch und beugte sich neugierig vor, um das Interview zu lesen.

Ihr fiel auf, dass Dante ausgesprochen klug über Musik und die Musikindustrie sprach, wobei französische oder Cajun-Wörter seine Antworten durchzogen. Sein Ton wirkte oft düster, wenn auch humorvoll.

DANTE: Es ist an der Zeit, wieder zu den Tagen der Guillotine zurückzukehren. Wenn man für Musik keine Leidenschaft verspürt, wenn nicht allein le Cœur zählt, sondern nur Geld, Ruhm oder Mädels, dann ab mit dem Kopf.

AP: Ist das Ihr Ernst?

DANTE: Klar. Das wäre wenigstens echte Unterhaltung. So oder so muss man für sein Publikum bluten.

AP: Warum geben Sie nicht häufiger Interviews?

DANTE: Ich will, dass man sich für meine Musik interessiert. Nicht für mich.

AP: Aber die Leute wollen mehr über Sie wissen. Sie sind die Musik. Warum haben Sie den Club Hell aufgemacht?

DANTE (angespannt) : Um Musiker vorzustellen, neue Talente.

AP: Wie gehen Sie mit dem Gerücht um, Sie seien ein Vampir?

DANTE (erhebt sich): Falsche Frage. Wir sind hier fertig.

Ein Vampir? Sollte das ein Witz sein? Eventuell eine weitere Marketingidee? Heather erinnerte sich auf einmal, was Collins gesagt hatte: »Außerdem ein Treffpunkt für Vampire. Für solche, die so tun als ob.«

Mit Hilfe der ID-Codes des FBI zapfte Heather die Datenbank der Stadt New Orleans an und suchte alle einschlägigen Infos zum Club Hell heraus. Eingetragener Eigentümer war ein gewisser Lucien De Noir, ein französischer Unternehmer. Alle Lizenzen und Urkunden liefen auf ihn. Aber wenn sie das Interview mit Dante und ihr Bauchgefühl in Betracht zog, nahm Heather ziemlich sicher an, dass De Noir nur der Geldgeber war. Club Hell war Dantes Baby.

Sie loggte sich mit Hilfe ihres Gast-Sicherheitscodes in die Datenbanken der Polizei von New Orleans ein und suchte nach Dante, wobei sie ohne Nachnamen keine Hoffnung hegte, fündig zu werden. Die Suche ergab eine Liste von Leuten, die mit Vor- oder Nachnamen Dante hießen. Diese ging sie nacheinander durch, bis sie zu einem gewissen Dante Prejean kam. Keine Sozialversicherungsnummer. Kein Führerschein. Alter geschätzte einundzwanzig. Weigerte sich, sein Geburtsdatum anzugeben. Kein amtlich beglaubigter Nachname. Der Name Prejean war ihm von einer Pflegefamilie geblieben, die ihn als Kind in Lafayette aufgezogen hatte.

Lafayette … Daniel Spurrells Heimatort. Plötzlich gab es Verknüpfungen, die dem Ball eines Flipperautomaten gleich durch Heathers Kopf schossen. Verschiedene Striche bildeten plötzlich eine zusammenhängende Linie.

Anarchiesymbol. Lafayette. Club Hell.

Sie überflog Dante Prejeans Akte – Sachbeschädigung, Vandalismus, Hausfriedensbruch, Erregung öffentlichen Ärgernisses. Dann suchte sie nach einem Fahndungsfoto, fand aber keines. Stirnrunzelnd ging sie die Protokolle zu den jeweiligen Verhaftungen und Anklagen durch. Normalerweise wurde Nichtfunktionieren der Kamera als Grund für ein fehlendes Fahndungsfoto angegeben, doch in diesem Fall hatte ein Polizeibeamter eine gänzlich andere Begründung notiert:

Verdammter Scheißkerl will nicht stillhalten. Jedesmal, wenn wir ein Bild von ihm machen wollen, bewegt er sich so schnell, dass alles verschwommen ist. Mit diesem Arschloch passiert das wirklich jedesmal. Anbei die einzige Aufnahme, für die er stillgehalten hat.

Heather öffnete das beigefügte Foto. Gesenkter Kopf mit Kapuze und eine Hand vor dem verborgenen Gesicht, den Mittelfinger nach oben gereckt. Ein aufsässiger Typ, der selbst auf der Polizeiwache noch seine Spielchen trieb. Sie fixierte die Aufnahme. Das einzige Fahndungsfoto, für das Dante je stillgehalten hatte? Waren die zuständigen Beamten einfach ungeschickt gewesen?

Let me go, bro, let me go …

Leigh Stanz’ heisere Stimme. Dann endete der traurige, sehnsüchtige Song. In der darauffolgenden Stille umkreiste Heather in Gedanken immer wieder die unausgesprochene Frage, die sie in Collins’ Blick hatte lesen können: War der Cross-Country-Killer jetzt in New Orleans?

War er außerdem … was? … vielleicht identisch mit Dante Prejean?

Jetzt? Plötzlich? Nach drei Jahren?

Eine Instant Message von Craig Stearns, ihrem Chef beim FBI, blinkte auf dem Bildschirm ihres Laptops auf: »Wallace, irgendwelche Fortschritte bei den Nachforschungen?«

Heather tippte: »Nachforschungen noch nicht ganz abgeschlossen. Es scheint der CCK zu sein, bin mir aber noch nicht 100% sicher.« Sie hielt inne, ihre Finger schwebten über der Tastatur.

Sollte sie ihm von der Datenpanne erzählen, mit der sie auf dem Weg von Seattle konfrontiert gewesen war? Sollte sie ihm erzählen, dass es unmöglich gewesen war, ViCAP- und NCAVC-Daten über die Opfer des CCK einzusehen – ein Problem, das sie noch nie gehabt hatte, seit sie mit dem Fall betraut war?

Heather rieb sich mit den Händen übers Gesicht und blickte dann aus dem Fenster. Draußen schüttete es, und die Scheibe war über und über mit Wasser bedeckt, in dem sich die Neonschilder auf der Straße spiegelten. Vielleicht litt sie unter Verfolgungswahn. Vielleicht war es einfach nur menschliches Versagen gewesen. Ein kurzer Ausfall des Servers. So etwas konnte passieren. Möglicherweise musste sie nur mal wieder ihren Computer auf die neueste Version aufrüsten?

Trotzdem … es gab eine Änderung im Verhalten des CCK, und es hatte eine Computerpanne gegeben.

Heather wandte sich wieder dem Monitor und dem blinkenden Cursor zu. Ihr Magen verkrampfte sich auf einmal vor Unruhe.

Was, wenn doch jemand die Panne absichtlich hervorgerufen hatte? Konnte es möglicherweise Stearns selbst gewesen sein?

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Chef war ein aufrechter Typ, hart, aber ehrlich. Er hatte ihr sogar mit Annie geholfen, als sich ihr Vater geweigert hatte, auch nur einen Finger krummzumachen. Eine solche Täuschung hätte nicht zu Stearns gepasst.

Heathers Finger legten sich wieder auf die Tastatur: »Verfolge noch einige Spuren. Beinahe fertig. Kontaktiere Sie morgen. « Dann drückte sie auf »Senden«.

Schließlich schob sie den Stuhl zurück, klappte den Laptop zu und schaltete den iPod aus. Sie stand auf, schlüpfte in ihren Trenchcoat, nahm den Achtunddreißiger vom Schreibtisch und schob ihn in die speziell dafür angefertigte Brustinnentasche ihres Mantels.

Zeit für eine Höllenfahrt.