13

ANDENKEN

Ronin sperrte das Vorhängeschloss auf, das die Metalltür versperrte. Die Tür knarrte, als er sie aufriss, und der Laut hallte durchdringend in dem leeren Lagerhaus wider. Er drückte den Lichtschalter neben der Tür und trat ein.

Auf einem Feldbett zusammengerollt, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, lag der Junge und sah ängstlich auf, als auf einmal das grelle Licht im Raum aufleuchtete. Die fluoreszierenden Deckenlampen begannen zu surren und unterbrachen die Stille. Als der Junge Ronin sah, setzte er sich auf und drückte sich in die Ecke des Betts, den Rücken an die Wand gepresst.

Amüsiert schüttelte Ronin den Kopf. »Mich musst du nicht fürchten, Junge«, sagte er, »sondern meinen Partner – den Mann, der dich hierhergebracht hat. Erinnerst du dich?«

Die Jugendliche schüttelte den Kopf, ohne den Blick von Ronin zu wenden. Der Kajal um seine Augen war verschmiert. Er presste sich fester gegen die Wand, als könne er hineinsickern und darin verschwinden. Ronins Lächeln wurde breiter. Der Junge starrte auf seine Reißzähne. Er erstarrte.

Ronin setzte sich an den Rand des Feldbetts. Das rasende Herz seines Gegenübers faszinierte ihn. Er konnte das mit Adrenalin vollgepumpte Blut riechen, das heiß durch dessen Adern floss. Dann warf er einen Blick auf den Hals, der bis zur Hälfte von einem Spitzenstehkragen bedeckt war. Eine schimmernde Fledermaustätowierung zeigte sich in der kleinen Grube zwischen den Schlüsselbeinen des anmutigen Jungen. Wie oft hatte Dante diese bleiche Haut wohl geküsst? Sie mit den Zähnen durchbohrt? Das dunkle Blut getrunken, das durch diese Adern lief?

Ronin beugte sich vor und strich eine Strähne blonden Haars aus dem Gesicht des Jugendlichen. Dieser spannte sich an und begann vor Angst zu beben, ohne dass er die grünen Augen von Ronins Gesicht wandte.

»Ich höre jeden deiner Gedanken«, sagte der Vampir. »Du kannst sie genauso gut laut äußern.«

Für einen Augenblick schloss der Junge die Augen. Er holte tief Luft, versuchte, sich zu beruhigen und zu sammeln. Doch er drückte sich nur weiter gegen die Betonmauer, während sein Herz bis zum Hals pochte.

»Lass mich dir helfen«, sagte Ronin. »Gina ist tot. Ja, ich weiß, du trägst Dantes Zeichen, doch du wirst durch die Hände eines Serienkillers sterben – wenn ich dich hierlasse.«

Der Junge wandte ruckartig den Kopf zu Seite, als hätten ihm die offenen Worte einen heftigen Schlag verpasst.

»Oh, und was den Grund für all das betrifft: Nenne es Schicksal.«

»Ich glaube Ihnen nicht«, antwortete der Junge mit leiser, angespannter Stimme. Er öffnete die Augen und wandte Ronin wieder sein Gesicht zu. »Gina lebt. Dante wird sie finden und …«

»Er hat sie schon gefunden«, unterbrach ihn Ronin, dem das plötzliche Aufleuchten in den Augen des Jungen gefiel. »Nachdem mein Kompagnon mit ihr fertig war.«

Der Junge blinzelte Tränen fort. Er schluckte. »Sie lügen.«

Ronin packte den Jungen mit einer Hand an seinem schlanken Hals und riss ihn von der Wand weg, so dass er nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt war. »Tue ich das?«, zischte er. »Dante sucht auch dich. Es ist deine Entscheidung, ob er dich findet, bevor mein Freund wiederkommt oder danach.«

Der Junge riss sich los und zerrte mit einer Hand an Ronins Handgelenk, während er mit der anderen gegen dessen Brust drückte. Mit halb geschlossenen Augen lauschte Ronin dem Herzen des Jungen, das nun noch ungestümer schlug. Er roch seine Wut, seine Angst und seine Verzweiflung. Sein Blut würde eine aufreizende Mischung aus natürlichen Pheromonen bilden.

»Vorher oder nachher«, zischte Ronin. Er sah in die angstgeweiteten grünen Pupillen vor ihm. »Es liegt bei dir.«

Der Junge hörte plötzlich auf, sich zu wehren. Er wurde ganz ruhig und kniete sich auf das Feldbett. Einen Augenblick lang vermochte Ronin ihn nicht mehr zu hören – keinen geflüsterten Gedanken, keine Furcht, kein Bild. Eine Schranke war zwischen ihnen niedergegangen, und das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach, war das rhythmische Pochen ihrer Herzen.

Mit einem Schaudern sah der Junge Ronin an. »Vorher«, sagte er.

»Kluge Wahl.«

Ronin fasste nach einem Büschel blonden Haars, zerrte den Kopf des Jugendlichen nach hinten und vergrub seine Zähne in dessen Hals.

 

E betrat das dunkel daliegende Haus, schloss die Tür hinter sich und verschloss sie. Er blickte sich im Salon um. Eine Flasche Wild Turkey Bourbon stand auf dem Beistelltischchen neben der Couch, daneben ein Whiskyglas. Im Aschenbecher befand sich eine einzelne Zigarettenkippe. E schnupperte. Schnitt eine Grimasse. Die Luft roch nach dem arabischen Mist, den Ronin gerne rauchte.

Der Camaro war verschwunden, und der gute Tommy-Boy ebenso.

Umso besser. Er war nicht in der Laune, sich mit dem Mist auseinanderzusetzen, den der Vampir gern von sich gab. Er berührte die Beule an seiner Stirn. Unter seinem Finger pochte es schmerzhaft, und er riss die Hand zurück. Sein Grinsen verschwand. Wenn dieser große Kerl nicht aus Stein war, dann wusste er auch nicht …

E durchquerte den Raum und ging den Gang entlang zu seinem Schlafzimmer. Vielleicht würden etwas Vicodin und ein Whisky helfen, die Schmerzen zu lindern. Er öffnete die Tür und betrat sein Zimmer. Dort setzte er sich auf den Rand des ungemachten Bettes. Sein Kopf pochte, und sein Magen verkrampfte sich.

E zog die Schublade des Nachttischchens heraus und durchsuchte deren Inhalt: mehrere rot-weiße Schachteln Marlboro, ein Feuerzeug, ein Kugelschreiber mit einer nackten Frau (wenn man den Stift auf den Kopf stellte, begann sich die Frau auszuziehen). Schließlich fand er den gesuchten Beutel mit den Pillen.

Er zog mit bebenden Fingern den Reißverschluss auf und schüttelte die Pillen auf das Nachttischchen. Pfirsichfarben, altweiberblau und gelb tanzten sie einen Augenblick lang auf der Oberfläche.

Er warf fünf oder sechs von ihnen in den Mund, nahm die Whiskyflasche, die ebenfalls auf dem Nachttisch stand, und spülte sie mit einem gehörigen Schluck brennenden Canadian Hunter hinunter. Eine Welle der Übelkeit beutelte ihn. Erneut zitternd stellte E die Flasche neben das Bett auf den Boden und streckte sich auf seiner Matratze aus. Er starrte ins Dunkel, während er darauf wartete, dass die Tabletten Wirkung zeigten.

Er schloss die Augen und schmiegte das Gesicht ins Kissen. Er roch Gina, Schwarzkirschen und süßen Sex. Er hatte ihren Strumpf in seinem Kissenbezug versteckt. Wie gern behielt er ein Andenken – etwas, das ihn an eine bestimmte Situation erinnerte. Er berührte seine rechte Jeansvordertasche und strich mit den Fingern über die glatte rechteckige Oberfläche seines jüngsten Andenkens.

 

Er kommt in einem Haus voller Vampire wieder zu sich, und zwar auf der Couch im Salon. Langsam öffnet er die Augen. Kerzenlicht flackert und wirft zitternde Schatten an die Wand. Nur das stete Ticken einer großen Pendeluhr durchbricht die Stille.

Mit schmerzendem Kopf rollt er zur Seite. Sein Blick fällt auf eine Gestalt, die in einem Ohrensessel ihm gegenübersitzt.

Er fragt sich, ob sie nur so tut, als schlafe sie, ob sie ihr Spiel mit ihm treibt und ihn stattdessen durch ihre langen schwarzen Wimpern hindurch anschaut. Doch ihr tiefes, regelmäßiges Atmen überzeugt ihn, dass sie wirklich schläft. Er war ihr noch nie zuvor so nah – selbst dann nicht, als er sie heimlich durch das Fenster beobachtet hat.

Wenn er sie jetzt berühren würde – was würde wohl passieren?

Seine liebliche Heather, seine persönliche Stalkerin, schläft in seiner Gegenwart. Sie zeigt sich in der Gegenwart eines Gottes verletzlich und angreifbar.

Er betrachtet sie mehrere Minuten lang, nimmt die Farbe ihres Haars, die Linie ihrer Wange, die leicht geöffneten Lippen in sich auf.

Über ihm knarrt die Decke. Plötzlich fällt ihm wieder ein, wo er sich befindet. Er ist in einem Haus voller Vampire. Das warme, goldene, göttliche Gefühl verschwindet abrupt.

Er steht leise auf und tritt auf Zehenspitzen zu dem Sessel, den Blick auf Heather gerichtet – sein strahlendes Licht.

Dabei versucht er, nicht daran zu denken, wer sonst noch durch dieses Haus wandelt.

Er beugt sich über Heather, bis sein Atem leicht ihr Haar zerzaust. Er berührt eine Strähne, die wie Seide über seine Finger gleitet. Vorsichtig nimmt er sein Mobiltelefon von der Armlehne des Sessels. Er neigt den Kopf und betrachtet Heather einen Moment lang. Welche Botschaft will sie ihm senden, indem sie sein Handy dort hingelegt hat?

Wieder knarrt die Decke. Er weicht zurück, lässt die Frau allein, die sich in den Sessel geschmiegt hat. Widerwillig wendet er sich ab. Auf dem Boden neben der Couch liegen sein Portemonnaie, seine Messer und alles, was er sonst noch so in den Taschen hatte.

Er geht in die Hocke und rafft seine Sachen zusammen. Als er sich wieder aufrichtet, geht er wie fremdgesteuert in die Küche. Eine Stimme in seinem Kopf sagt ihm, dass er ein verdammter Idiot ist und nichts wie weg sollte, nichts wie weg, nichts wie weg! Aber es ist zu spät. Er holt sich schon seine Andenken.

Heathers Mantel und ihre Handtasche hängen über der Rückenlehne eines Stuhls. Er durchsucht beide, bis er findet, was er braucht und es sich nimmt. Sein Blick wandert hastig durch die Küche, als er nach einer Spur Dantes sucht – irgendeine Erinnerung an den scharfen kleinen Vampir, den Heather so lüstern angeschaut hatte. Eine Erinnerung an seinen Bad-Seed-Bruder.

Schließlich nimmt er den schwarzen Kaffeebecher und schleicht aus der Küche.

Er bleibt noch einmal neben dem Ohrensessel stehen, und plötzlich findet sich ein Messer in seiner Hand wieder. Mit klopfendem Herzen reißt er sich von Heather los. Er zwingt sich, zur Haustür zu gehen. Er zwingt sich, sie zu öffnen. Endlich draußen. Leise zieht er die Tür hinter sich ins Schloss. Dann rennt er wie der Teufel.

E lächelte und öffnete die Augen. Er holte sein Andenken aus der Tasche. Das Magazin einer Achtunddreißiger schimmerte in seiner Hand.

 

Dante kniete sich neben Treys Bürostuhl. Das Licht vom Computerbildschirm und den dort erscheinenden Bildern flackerten auf dem gelassen wirkenden Gesicht des Runners, tanzten über die Kabel, die mit seinem Hals verbunden waren, bis zu seinen Fingerkuppen.

»Kommst du an die Daten der Pathologie?«, fragte Dante.

Bilder und Seiten zuckten über den Bildschirm. Treys Finger waren so flink, dass sie verschwammen. Dante lauschte dem elektronischen Knistern und Surren und fragte sich wieder einmal, ob die Daten in Treys Venen wie Feuer brannten, während sie sich ständig veränderten und in andere übergingen, mit diesen verschmolzen.

Eine Seite blieb auf dem Monitor. PATHOLOGIE – AUFNAHME.

Dante drückte Treys Oberarm. »Très bien, mon ami.«

Ein Lächeln zuckte um die Lippen des Runners und verschwand dann wieder. Dante zog liebevoll an einem seiner Dreadlocks.

Trey durchsuchte die Bilder der Neuzugänge und hielt dann bei dem neuesten inne. Es war ein junger Mann mit durchtrennter Kehle. Dante beugte sich vor und betrachtete das Bild. Das Haar mochte ursprünglich blond gewesen sein, doch da es nass zu sein schien, war die Farbe schwer festzustellen. Er hatte die Augen geschlossen. Aus dem Gesicht und den Lippen war alle Farbe gewichen. Eine offene, blutlose Wunde verlief quer über den Hals.

Dante hockte sich auf die Fersen, während er erleichtert aufatmete. Welchen armen Kerl die Bullen auch immer aus dem Mississippi gezogen hatten – es war nicht Jay gewesen.

Das bedeutete, dass Ginas Mörder ihn noch in seiner Gewalt hatte.

»Wer hat diesen Leichnam als Jays identifiziert?«

Detective LaRousse, sendete Trey. Seine Lider schlossen sich halb.

Dante spürte es auch in seinen Adern. Das Bedürfnis nach Schlaf.

»Finde heraus, welche Beweise er für diese Behauptung hat und wie seine Verbindungen aussehen, mon ami«, sagte Dante. Er fasste in seine Gesäßtasche, zog den Führerschein Elroys des Perversen heraus und legte sie auf den Schreibtisch vor den Monitor.

Trey warf einen Blick darauf und nickte.

Sieh auch nach, was du über ihn herausfinden kannst – und über Thomas Ronin.

Nach dem Schlaf. Trey riss die Kabel von seinem Körper und steckte sich aus dem Netz aus.

Bereits halb im Schlaf kam Simone herein, um Trey zu seinem Bett zu führen. Sie beugte sich vor und küsste Dante auf die Wange. Ihre weichen Lippen fühlten sich kühl auf seiner Haut an.

»Träum süß«, wisperte sie.

»Et toi.« Er strich mit einem Finger über eine ihrer duftenden Locken.

Simone richtete sich auf, so dass ihre Haar seiner Hand entglitt. Dann zog sie Trey vorsichtig hoch. Die Arme um die Schultern des jeweils anderen gelegt wankten beide aus dem Zimmer.

Der Schlaf durchflutete Dante und ließ sein Herz langsamer schlagen. Er stützte sich an der Armlehne von Treys Lehnstuhl ab und kämpfte gegen das Schwindelgefühl an, das ihn ergriffen hatte.

Jay war noch immer da draußen und wartete auf seine Rettung. Dante konnte nur hoffen, dass er dies nicht voller Schmerzen und ebenso zerschnitten tat wie Gina. Unbändiger Zorn begann in ihm zu toben, und für eine Sekunde wich der Schlaf zurück. Er stand auf.

Ginas Stimme flüsterte zärtlich in ihm, und ihre Worte hallten in seinem Kopf und seinem Herzen wider: Morgen wieder?

Hinter seinen Augen meldete sich undeutlich der Schmerz. Er stach in seine Schläfen, doch noch ehe er ihn wieder quälen konnte, vertrieb ihn der Schlaf. Benommen und mit einem starken Schwindelgefühl fühlte er sich wie nach einer Dosis Morphium. Er schwankte.

Hände berührten seine Schläfen und vereisten den Schmerz in seinem Kopf. Er stolperte rückwärts und prallte gegen Lucien. Der schien sich an ihn zu schmiegen, fest und beschützend. Ein wortloses, stimmenloses Lied drang vibrierend von Luciens Innerem in Dante, und etwas in ihm antwortete in wortloser Erwiderung.

Dante sank in einen Traum vom Fliegen. Von Fittichen, die ihn trugen.

Wehre dich nicht, mein Kind, und schlafe. Hör auf, immer wieder den Schmerz zu suchen.

Dante schüttelte sich und legte eine Hand um Luciens starkes Handgelenk. Ich weiß zu schätzen, was du tust, mon ami. Aber bitte …

Etwas, was Dante nicht benennen konnte, legte sich um sein Herz. Es war so intensiv, dass ihm fast der Atem stockte. Es war ein innerer Schmerz, der sich seltsam bekannt anfühlte. Ich will das so.

Er schob Luciens Hände weg und trat beiseite. Doch aller Zorn und Schmerz der Welt konnten ihn nicht wachhalten.

Undeutlich spürte er, wie sich Luciens Arme wieder um ihn legten, als er fiel.

Das Taxi entfernte sich, wobei weiße Abgaswolken in den grauen morgendlichen Himmel kurz vor Sonnenaufgang stiegen. Stearns trat vorsichtig auf den geräumten Bürgersteig. Eine dünne Eisschicht glitzerte auf dem Fußgängerweg. Er wechselte den Aktenkoffer von einer Hand in die andere und lief los.

Von Regen in Seattle zu Schnee und Eis in Washington. Wieso führte ihn ein Geheimauftrag eigentlich nie nach Hawaii oder Florida?

Er ging um das elegante und zweifellos teure Stadthaus herum auf die Hinterseite. Jeder Schritt auf dem vereisten Schnee hallte laut in der Straße wider. Stearns biss die Zähne zusammen und hoffte, dass die Nachbarn entweder schliefen oder ihn für den Zeitungsjungen hielten, der seine Runde machte.

Er hielt inne und sah sich in dem kleinen Hof um. Sein Blick wanderte von dem Stadthaus hinter ihm zu beiden Seiten. Gelbes Licht erhellte einige Fenster, als die Bewohner langsam erwachten. Er horchte. Sein Atem bildete eine weiße Wolke, und seine Finger begannen, in den Handschuhen zu prickeln.

Stearns hatte die FBI-Zentrale angerufen und sich nach Johannas Aufenthaltsort erkundigt. Früher hatte sie spezielle Pillen genommen, die sie tagsüber wachhielten und der narkotischen Anziehungskraft des Schlafs entgegenwirkten. Natürlich konnte sie das nur eine gewisse Zeit lang, ehe sie einen Preis dafür bezahlen musste. Stearns hatte angenommen, dass sie gegenwärtig die Pillen nur so einwarf, um die Angelegenheit in New Orleans nicht aus den Augen lassen zu müssen. Er hatte erfahren, dass Johanna schon mehrere Tage am Stück wach war – was keine Seltenheit für sie darstellte – und es noch keinerlei Hinweise darauf gab, dass sie das Ganze in nächster Zukunft entspannter angehen würde.

Mit leise knirschenden Schritten durchquerte er den Hof bis zu den Stufen der Hintertür. Er konnte nur hoffen, dass Johanna ihr Limit hinsichtlich der Pillen noch nicht erreicht hatte. Aber auch so konnte sie im Stau stecken, so dass ihm noch etwas Zeit blieb, bis sie ankam.

Er stellte seinen Aktenkoffer auf die oberste Stufe und betrachtete das Schloss, mit dem die Tür verriegelt war. Ein Display leuchtete in der Dämmerung, auf dem in Rot ZU stand. Stearns nickte. Das war mehr oder weniger, was er erwartet hatte. Der schwierige Teil seiner Arbeit würde darin bestehen herauszufinden, ob es auch noch irgendwelche anderen beziehungsweise versteckten Sicherheitssysteme geben würde.

Stearns kniete sich hin und ließ die Schlösser an seinem Aktenkoffer aufschnappen. Dann holte er seine Spezialbrille heraus und setzte sie auf. Vorsichtig suchte er die Minibombe, die durch einen elektromagnetischen Impuls ausgelöst wurde, zwischen den Papieren heraus. Mit Hilfe eines Seitenschneiders zog er die Plastikisolierung von den Drähten der Bombe. Er schraubte die Box von der Tastatur des Schlosses und musterte die Drähte, die sich darin befanden. Hinter der Brille sah er blaue Linien, die die Drähte durchkreuzten. Ein verstecktes zweites Sicherheitssystem.

Ein Scharfschütze klettert hinter dir aufs Dach, und sobald er dich im Visier hat, bist du tot. Beeil dich und brich endlich ein. Los! Los! Los!

Stearns spürte die Kälte nicht mehr und verschwendete keine Zeit mehr damit, sich die beste Vorgehensweise zu überlegen. Stattdessen überließ er sich ganz seinen adrenalingesteuerten Instinkten. Seine Finger nahmen ruhig und schnell die richtigen Drähte auf, um sie mit dem Seitenschneider einzukerben. Dann knickte er die Drähte so, dass sie sich mit denen des Schlosses verbanden. So viel zum geheimen Sicherheitssystem.

Er stellte sich vor, wie sich der Scharfschütze bäuchlings flach aufs Dach legte. Er durchtrennte das Hauptkabel des Primärsystems und drehte das Gesicht weg, während er parallel die Minibombe zündete.

Als er einen Moment später wieder hinsah – der Scharfschütze richtet die Waffe auf dich –, war das ZU nicht mehr zu sehen und das Display stattdessen schwarz und leer. Das Sekundärsystem gab keine panischen elektronischen Signale von sich. Stearns drehte behutsam am Knauf. Die Tür ging auf. Er nahm seinen Aktenkoffer und schlich hinein.

Dort stellte er sich ein Projektil vor, das in höchster Geschwindigkeit in die Ziegelmauer einschlug, wo noch nicht einmal eine Sekunde zuvor noch sein Kopf gewesen war.

Er schloss die Tür hinter sich und versperrte sie auf die altmodische Tour, indem er in der Mitte des Knaufs den Knopf nach unten drückte.

Er war drinnen.