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VERLOREN IM SYSTEM

Heather sah auf die Uhr. Dreizehn Uhr fünfzehn. Sie sog verärgert die Luft ein und ging zu dem verglasten Raum mit den Akten, hinter dessen Scheibe zwei Angestellte sie unermüdlich ignorierten. Mit einem Fingerknöchel klopfte sie gereizt gegen das Glas.

Das schnelle, laute Einhacken auf eine Computertastatur brach ab. Der Mann hinter der Scheibe blickte auf und sah Heather mit einer hochgezogenen Braue an. Er wirkte über die Störung nicht gerade glücklich.

»Sind Sie sich absolut sicher, dass Dr. Anzalone weiß, dass ich da bin?«, fragte Heather. »Ich warte jetzt seit fast zwei Stunden.«

Ihr fielen sein zurückgegeltes Haar und das weiße kurzärmelige Hemd auf, das gemeinsam mit einer dünnen schwarzen Krawatte ziemlich retro aussah. Er sieht aus, als wäre es ihm wesentlich lieber, wenn ich aufgäbe, mich in Luft auflöste oder einfach stürbe.

»Ja, Madam, sie weiß Bescheid«, antwortete er. Seine Stimme klang durch die dicke Glasscheibe dumpf. »Aber sie ist sehr beschäftigt.«

»Das bin ich auch. Fragen Sie bitte noch einmal nach.«

Heather kehrte zu der Bank zurück, wo sie bereits seit zwei Stunden saß, so dass ihr Hinterteil fast eingeschlafen war. Diesmal ließ sie sich am äußersten Rand nieder. Hören wir mal, ob es Collins besser ergangen ist. Sie holte ihr Handy aus der Handtasche und wählte die Nummer des Detective. Er antwortete nach dem zweiten Klingeln.

»Hi, Wallace«, sagte er mit gepresst klingender Stimme.

»Hi, Collins. Ist der Polizeibericht fertig?«, fragte sie.

»Stellen Sie sich vor: Er ist im System verlorengegangen. Sie finden ihn nicht!«

Heather lief es kalt über den Rücken. Sie senkte die Stimme. »Verloren … verstehe, und der handschriftliche Bericht des ermittelnden Beamten?«

»Witzig, dass Sie fragen. Verlegt. Sie suchen noch …«

»Aha, und der Beamte selbst?«

»Ist seit heute in Urlaub. Musste plötzlich Überstunden abbauen, sonst …«

»Sonst hätte er sie nicht mehr nutzen können«, beendete Heather den Satz. Das unangenehme Gefühl, dass etwas nicht stimmte, wurde immer stärker. »Hier ist es mir bisher auch nicht besser ergangen. Ich warte, seitdem ich eingetroffen bin.«

»Ich werde weiterstochern, und zwar mit einem scharfen Stock. Wollen doch mal sehen, ob wir nicht doch noch etwas zutage fördern.«

»Ich auch.« Heather legte auf und schob das Mobiltelefon wieder in ihre Tasche.

Was zum Teufel ist hier los? Heather massierte sich die Stirn. In Gedanken ging sie noch einmal alles durch, was in den vergangenen Tagen geschehen war, um zu sehen, ob es noch andere seltsame Dinge gegeben hatte, die ihr bisher entgangen waren.

Natürlich war da der verweigerte Zugang zu den Akten des CCK, und zwar sowohl über ViCAP als auch über NCAVC.

An beiden Tatorten war ein Zeichen in Blut an den Wänden zurückgelassen worden – das Anarchiesymbol.

Ein toter Verdächtiger – angeblich der CCK persönlich –, den man in flagranti ertappt hatte.

Fehlende Berichte, unauffindbare Beweise, ein Polizist, der plötzlich im Urlaub war.

Ihre Unfähigkeit, mit ihrem Senior Agent in Kontakt zu treten. Ihre unbeantworteten Anrufe.

Jedesmal, wenn sie versuchte, ein Stück des Puzzles an seinen richtigen Platz zu legen, schien sich das Gesamtbild zu verändern. Mit den Händen vor dem Gesicht schloss Heather einen Augenblick lang die Augen. Sie musste dringend schlafen. Die wenigen Stunden in Dantes Sessel waren nicht genug gewesen. Ihr Gehirn arbeitete nur noch langsam, und ihre Reflexe ließen ebenfalls nach.

»Agent Wallace?«

Heather ließ die Hände sinken und richtete sich auf. Der Beamte im Retrolook stand vor ihr. Ein nervöses Lächeln zuckte um seine Lippen.

»Dr. Anzalone bittet Sie, in ihrem Büro auf sie zu warten«, sagte er.

Heather stand auf. »Toll.«

Der Beamte begleitete sie einen Flur entlang, vorbei an einer doppelten Metalltür, die in den Autopsiesaal führte, bis sie schließlich zu einem Büro kamen, auf dessen Tür PATHOLOGE stand. Der Mann öffnete die Tür und trat beiseite, damit Heather an ihm vorbei hineingehen konnte.

»Danke«, sagte sie lächelnd. Mit einem knappen Nicken eilte der Mann davon.

Heather ignorierte die beiden Stühle vor dem Schreibtisch und ging zur Tür zurück. Der Gang lag wieder still und verlassen da.

Wenn man bedenkt, dass sich diese Anzalone nicht gerade als höflich oder korrekt erwiesen hat … Sie verließ das Büro und eilte mit schnellen und – wie sie hoffte – leisen Schritten den Gang hinunter. … werde ich mich jetzt auch nicht von meiner besten Seite zeigen.

Sie stieß die Tür zum Autopsiesaal auf. Ein erschreckter Assistent in einem weißen Labormantel sah von einem Leichnam auf, den er gerade zunähte.

»He!«, rief er entrüstet und ungläubig zugleich. »Sie dürfen hier nicht rein!«

Heather lächelte. »Ich bin die leitende Beamtin im Fall des Cross-Country-Killers«, erläuterte sie, holte ihre FBI-Marke auf der Tasche und klappte sie auf. »Dr. Anzalone erwartet mich.«

»Mir hat sie nichts gesagt«, antwortete der Assistent. »Ehrlich, Sie dürfen hier nicht herein.« Er legte die Nadel, mit der er genäht hatte, auf den Bauch der Leiche und eilte durch den Raum auf Heather zu. Er blieb vor ihr stehen und fixierte stirnrunzelnd die Marke. »Ich glaube nicht …«

»Ist das das Opfer? Rosa Baker?« Heather nickte in Richtung der Leiche.

»Ja, das ist sie. Aber ganz im Ernst …«

»Wo ist der Leichnam des Täters?« Heather ging um den Assistenten herum zu der Bahre. Dort blieb sie neben einem Tablett mit blutbefleckten Instrumenten stehen, das sich in der Nähe des Kopfendes befand.

»Des Täters?«, wiederholte der junge Mann unsicher. »Äh … da müssen Sie Dr. Anzalone fragen. Aber er wurde, soweit ich weiß, schon freigegeben.«

Heather erstarrte. Sie musste sich verhört haben. Unmöglich. Sie drehte sich um und sah den Assistenten an. Dieser erwiderte ihren Blick. Sie bemerkte seine angespannte Körperhaltung und die nervöse Art, wie er die Hände aneinanderrieb.

»Sagten Sie gerade, man hat ihn freigegeben?«

»Äh … ja. Eventuell wurde die Leiche bereits zu einem Bestattungsinstitut geschickt. Aus Versehen.«

Verloren. Unauffindbar. Verschwunden. Der Assistent verlagerte sein Gewicht von einer Hüfte auf die andere. Senkte den Blick. Heather spürte, wie ein starres Lächeln ihre Lippen kräuselte. Heilige Scheiße, da ist noch mehr.

»Sagen Sie bloß, er wurde verbrannt«, sagte Heather ausdruckslos. »Aus Versehen.«

Ohne sie anzusehen, nickte der Mann. »Das könnte durchaus der Fall sein.«

»Sie holen besser Dr. Anzalone.«

Der Assistent schluckte und wandte sich ab, und die Sohlen seiner Sneakers quietschten auf dem gefliesten Boden, als er den Raum durchquerte. Er stieß die Schwingdoppeltür auf und war verschwunden.

Heather holte mehrmals tief Luft und ließ sie dann langsam entweichen. Eine unbeschreibliche Wut verkrampfte ihre Muskeln. Sie konnte kaum mehr klar denken. Nach einer Weile betrachtete sie noch einmal die Leiche auf der Bahre. Es war eine Frau mittleren Alters mit vollschlanker Figur und aschblondem Haar, deren Augen halboffen standen und seltsam leer wirkten. Stichwunden und an Hals und Schenkeln blaue Flecken und Prellungen.

Heathers Blick wanderte zu der Nadel, mit der der Assistent den Leichnam wieder zugenäht hatte. Dem Y-Schnitt nach zu urteilen war die Autopsie bereits beendet. Die unterbrochenen Nähte endeten kurz unter dem Nabel.

Vor einem Tag hatte Rosa Baker noch gelebt und geatmet. Sie hatte ihr Gesicht gewaschen, ihre frische Wäsche zusammengelegt, das Mittagessen geplant, und jetzt … Heather wandte sich dem entspannten, bleichen Gesicht und den leeren Augen der Frau zu. Jetzt erinnerte nichts mehr an Rosa Baker, und ihr blieb nur ein Grab oder das Feuer.

Hätte ich diesen Tod verhindern können?

Nach jedem Mörder kam ein neuer, und sie würde immer wieder neben einer Metallbahre stehen, auf der ein erstochenes, erschossenes, erschlagenes oder erwürgtes Opfer lag, das sein Leben verloren hatte.

Für manche würde ihr brutaler Tod die größte Aufmerksamkeit bedeuten, die sie je bekommen hatten. Durch ihr Sterben, weil sie Mordopfer waren, nahm man sie zum ersten Mal wahr – zumindest für einen Augenblick, bis man sie schnell wieder vergaß.

Aber sie erinnerte sich. An jeden Einzelnen. Sie trug die Bilder dieser Menschen in ihrem Inneren mit sich herum: ein mentales Fotoalbum der Toten, ein Jahrbuch der beendeten Leben.

Leere Versprechen. Stumme Opfer.

Sie wünschte sich, ein Finger zu sein, der auf einen Killer wies; ein Mund, durch den die Opfer ihre letzten Worte sprechen konnten: Er war es. Er hat mich getötet.

Heather sah zur Decke mit den hellen Neonröhren und einem Mikrofon auf, das dort baumelte. Ein Opfer war noch nicht tot. Dieser junge Mann atmete noch irgendwo in New Orleans, wo er wahrscheinlich – sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr – gerade schlief. Sie konnte das Versprechen halten, das sie Dante gegeben hatte. Doch zuerst musste sie herausfinden, warum die Sache hier so sehr nach einer Vertuschung roch.

Sie ließ die Schultern kreisen und strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Dann lief sie durch den Saal, bis sie die Transkriptionseinheit entdeckte, an die das Mikrofon angeschlossen war und die Beobachtungen und Kommentare des obduzierenden Pathologen festhielt. Sie schaltete sie ein, klickte NEUESTE EINTRÄGE an und kehrte dann zu der Bahre mit der Leiche zurück.

Die ausdruckslose Stimme der Pathologin durchbrach die Stille.

»Das Opfer ist eine gut genährte Weiße Mitte bis Ende vierzig …«

Heather musterte Rosa Bakers Gesicht, während Dr. Anzalone benannte, was sie bereits selbst gesehen hatte. Es war der falsche Opfertyp, der falsche Modus Operandi, der falsche Tatort. Mit jedem Wort der Pathologin wurde ihr kälter.

 

Johanna tippte ihren Code ein und öffnete die Tür. Nachdem sie sie wieder hinter sich geschlossen hatte, stellte sie das Schloss wieder ein. Die Tastatur piepte. NICHT MÖGLICH erschien in roten Buchstaben auf dem winzigen Display. Sie starrte einen Augenblick lang auf die beiden Wörter und versuchte zu verstehen. Sie musste die falschen Zahlen eingegeben haben. Stirnrunzelnd tippte sie noch einmal ihren Code ein.

Die Tastatur piepte. NICHT MÖGLICH.

Johanna erstarrte. Horchte. Der Kühlschrank surrte in der Küche. Wasser tropfte aus Badezimmerhähnen, und draußen fuhren knirschend Autoreifen über den Schnee und die vereiste Straße.

Im Haus atmete nichts außer ihr. Es gab keinen Pulsschlag außer dem ihren.

Trotzdem … der hinausgeschobene Schlaf raubte ihr allmählich ihre sonst so hellwache Aufmerksamkeit und benebelte ihre Sinne.

Johanna wandte sich von der Tür ab. Mit Blicken durchsuchte sie das leere Zimmer hinter ihr: Plüschsofa, Ledersessel, dunkler Kamin und kleine Nippes auf dem hölzernen Kaminsims. Die Lampen waren gedimmt, auf dem Bodenbelag gab es keine Fußabdrücke.

Johanna stellte ihre Handtasche auf ein Beistelltischchen und zog ihre Sechsunddreißiger-Glock heraus. Sie schlüpfte aus den Schuhen und schlich lautlos über den Teppich, die Waffe fest in beiden Händen. Sie huschte durch den Flut und hielt inne, als sie Fußabdrücke auf dem Teppichboden entdeckte. Zu groß, um ihre zu sein.

Ein Einbrecher? Reichenviertel. Schicke Sachen. Möglich.

Sie eilte ins Bad, schaltete das Licht ein und sicherte dann nach links und rechts. Nichts. Kein Schatten hinter der Milchglasscheibe der Duschkabine. Der Medikamentenschrank war zu. Keine Fingerabdrücke auf dem Frisierspiegel. Alles unberührt.

Also niemand, der hinter Medikamenten her war.

Johanna ließ das Licht an und ging wieder in den Gang hinaus, wo sie sich mit dem Rücken an die Wand presste. Die Spuren führten den Flur entlang.

Konnte E nach Hause zurückgekehrt sein? Was, wenn er S mitgebracht hatte?

Sie erstarrte bei dem Gedanken. Ihr Herz pochte in ihrem Brustkorb, und das Blut rauschte panisch durch ihre Adern. Dennoch war ihre Haut kalt, kälter als die Eisschicht draußen auf der Straße.

Sie betrat das Gästezimmer und machte Licht. Auch nichts.

Falls E oder S wirklich hier waren, würden Pistolenkugeln nur bei E helfen. Um ihr blutgeborenes Kind aufzuhalten, bedurfte es wesentlich mehr.

Wer auch immer in ihr Haus eingebrochen war und es mit seiner ungebetenen Präsenz entweiht hatte, war schon lange wieder fort. Sie spürte nur ihre eigene Panik.

Johanna verließ das Gästezimmer, die Waffe auf den Boden gerichtet. Sie ging in ihr Arbeitszimmer und betätigte den Lichtschalter. Dann ging sie vor dem dunklen Aktenschrank in die Hocke und öffnete ihn. Die unterste Schublade glitt lautlos auf.

Sie war verschlossen gewesen, als sie das Haus verlassen hatte.

Sie stand wieder auf. Sie fühlte sich trotz ihres verkrampften Magens ruhiger, während sie um den Schreibtisch ging und die Schubladen aufmachte. Sie waren allesamt verschlossen gewesen – genauso wie der Aktenschrank. Sie durchsuchte die unterste Schublade. Alle Akten und Dokumente, alle Disks und CDs waren an ihrem Platz. Aber das bedeutete nicht, dass man die Dokumente nicht fotografiert hatte. Oder die CDs kopiert.

Nichts war beschädigt. Nichts kaputt. Sie war Opfer eines Profis geworden.

Was bedeutete, es waren FBI, CIA oder das Verteidigungsministerium gewesen.

Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Wer und warum? Wer hatte den Mut dazu und wozu? Sie wirbelte herum, ging wieder ins Wohnzimmer und holte ihr Mobiltelefon aus der Handtasche. Ohne zu zögern, wählte sie Giffords Nummer, während die Adrenalinausschüttung bereits nachließ. Er hob nach dem ersten Klingeln ab, sagte aber nichts, sondern wartete darauf, dass sie sprach.

»Man hat bei mir eingebrochen. Ein Profi«, erklärte sie, wobei ihre Stimme schläfrig klang. »Ruf die Sicherheitsleute an. Sie sollen sich das Büro ansehen, und dann schau es dir selbst an.«

»Wird erledigt.« Seine Stimme klang gelassen und leise wie immer.

Sie legte auf. Die Glock entglitt ihr und fiel mit einem dumpfen Knall auf den Boden. Schlaf. Sie hatte ihn zu lange aufgeschoben.

Johanna taumelte aus dem Raum und in den Flur. Sie zog sich an der Wand entlang, den Blick auf ihre Schlafzimmertür gerichtet. Sie hatte das Gefühl, ihr kein Stück näherzukommen. Ihr Kopf schlug gegen die Wand, und sie riss die Augen auf. Sie lag der Länge nach auf dem Boden.

Also rollte sie sich im Flur zusammen, die Lippen geöffnet, um den Schlaf wie Blut in sich aufzunehmen. Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, wusste sie, was fehlte. Was sie – zu ihrem Vergnügen – zu Hause begutachtet hatte: die Akte über S und die CD, auf der die Experimente mit ihm als Teilnehmer von Bad Seed dokumentiert worden waren.

 

Dr. Anzalone stürmte durch die Doppeltür in den Autopsiesaal. Heather warf ihr einen raschen Blick zu und zog das Tuch über Rosa Baker. Die Tonaufnahme verstummte, als die Pathologin auf die Stopp-Taste drückte.

»Sie haben kein Recht, hier einfach hereinzuplatzen«, knurrte Dr. Anzalone. »Mir ist völlig egal, ob Sie vom FBI …«

»Wer hat von Ihnen verlangt, in diesem Fall die forensischen Ergebnisse zu verändern?« Heather drehte sich von der Bahre zu der Ärztin um und starrte sie ernst an. »So verändert, dass sie zum Modus Operandi des Cross-Country-Killers passen?«

Dr. Anzalone – haselnussbraune Augen, lockiges brünettes Haar, ein wenig mollig (wie Rosa Baker) – runzelte die Stirn und vergrub die Hände in den Taschen ihres Arztkittels. Typische Verteidigungshaltung.

»Wie können Sie es wagen, so etwas zu behaupten?«, fragte sie.

»Mein Täter ist Linkshänder«, antwortete Heather und kam auf sie zu. »Diese Stichwunden hat ihr ein Rechtshänder zugefügt. « Sie blieb vor der Pathologin stehen, die die Zähne zusammenbiss. »Aber der Beschreibung zufolge, die ich gerade gehört habe, sollen sie von einem Linkshänder stammen.«

Dr. Anzalone erstarrte. »Bevor Sie hier Anschuldigungen erheben, sollten Sie sich besser mit Ihren Vorgesetzten in Verbindung setzen.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Saal.

Heather starrte ihr nach, während die Schwingtür langsam auspendelte. Sie sollten sich besser mit Ihren Vorgesetzten in Verbindung setzen.

Dante wurde noch immer verfolgt, und man hatte sie weggelockt.

War Stearns an dieser Geschichte beteiligt?

Sie eilte aus dem Autopsiesaal, riss ihr Mobiltelefon aus der Tasche und rief erneut Collins an. »Wir müssen sofort nach New Orleans zurück. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich hole Sie ab.«

Heather schob sich durch den Vordereingang und rannte zu ihrem Mietwagen, während sie Dante anrief. Das Telefon klingelte und klingelte. Sie schloss den Stratus auf und stieg ein. Komm schon! Nimm ab! Dann warf sie einen Blick auf die Uhr. Fast sechzehn Uhr hier in Pensacola, also in New Orleans fünfzehn Uhr. Vielleicht schlief Dante ja noch.

Heather ließ das Auto an, schaltete ruckartig in den Rückwärtsgang und trat aufs Gas. Die Reifen quietschten, als sie das Auto mit Vollgas aus der Parklücke lenkte, mit einer Hand das Lenkrad drehte und mit der anderen vom R auf D schaltete. Sie wünschte sich, sie hätte ihren Trans Am mit seinem Von-Null-auf-Hundert-in-einer-Sekunde-Motor.

Das Klingeln verstummte. De Noirs tiefe Stimme meldete sich. »Agent Wallace?«

»Ich muss Dante sprechen.« Heather trat erneut aufs Gas, und der Stratus fädelte sich in den Verkehr ein. »Es ist dringend. «

»Er schläft.«

»Verdammt, De Noir! Dann wecken Sie ihn!«

»Unmöglich. Aber ich werde ihm gern etwas ausrichten.«

»Ich glaube Ihnen kein Wort.« Vor Wut wurde ihr fast schwindelig. Ihre Stimme klang gepresst, und sie trat stärker aufs Gaspedal.

Als sie die Fahrbahn wechselte, warf sie einen Blick über die Schulter und glitt dann problemlos in den dichten Verkehr. »Er ist noch in Gefahr. Der Killer ist nicht tot. Lassen Sie Dante nicht aus dem Haus, und lassen Sie ihn auf keinen Fall allein.«

»Dante tut, was er will«, antwortete De Noir ein wenig belustigt. »Aber ich werde ihm von Ihren Annahmen erzählen. Sobald er wach ist.«

»Toll«, schnaubte Heather und schleuderte das Mobiltelefon frustriert auf den Beifahrersitz.

Entweder verstand De Noir nicht, was auf dem Spiel stand, oder er glaubte ihr nicht. Oder er war überzeugt, Dante selbst schützen zu können. Jede dieser Überlegungen konnte dazu führen, dass Dantes Leben in Gefahr war.

Ohne den Blick von der Straße und dem Verkehr zu wenden, tastete Heather nach dem Mobiltelefon und wählte dann Stearns’ Nummer.

»Wallace«, sagte er, als er nach dem ersten Klingeln abhob.

Heather wusste nicht, ob sie erlöst oder beunruhigt sein sollte. »Sir, ich bin gerade dabei, Pensacola wieder zu verlassen. Man hat uns mutwillig irregeführt. Die Pathologin hat ihren Bericht gefälscht …«

»Der Fall ist abgeschlossen«, sagte Stearns. »Die Untersuchung ist vorbei.«

Jemand hupte, und Heather merkte, dass die Ampel grün geworden war. Sie fuhr weiter, während ihr Herz wie verrückt pochte. »Wer hat den Fall geschlossen?«, fragte sie schließlich.

»Das ist egal, Wallace.«

Stearns’ Stimme klang ruhig. Wiederholte ihr Vorgesetzter und Mentor nur Worte, die er eigentlich nicht aussprechen wollte? Oder war er mit von der Partie? Heather wurde übel.

»Der Fall ist abgeschlossen.« Stearns klang erschöpft und enttäuscht. »Kommen Sie so schnell wie möglich nach Seattle zurück.«

»Er hat ein weiteres Opfer im Visier.«

»Vergessen Sie Dante Prejean, Wallace. Er ist nicht der, der er zu sein scheint.«

Als Heather Dantes Namen hörte, gefror ihr das Blut in den Adern. »Was soll das heißen?«

»Er geht Sie nichts mehr an.«

»Sir, bei allem Respekt, aber sind Sie an dieser Vertuschungsaktion beteiligt?«

»Heather, hören Sie zu.« Jetzt klang Stearns verzagt. »Halten Sie sich von New Orleans fern. Ihre Sicherheit ist in Gefahr. Sie sind dort nicht unter Freunden.«

»Das ist offenbar nichts Neues, Craig, oder?« Sie legte auf.

Was war passiert? War der CCK der Sohn eines Regierungsmitglieds? Der Bruder eines Diplomaten? Aber warum sollte der Fall gerade jetzt geschlossen werden?

Es musste mit Dante zu tun haben. Denk nach. Jemand wollte seinen Tod. Warum erschoss er ihn dann nicht einfach im Schlaf? Konnte es etwas mit der Vergangenheit zu tun haben, an die er sich nicht erinnerte?

Ein rotes Anarchiezeichen erregte Heathers Aufmerksamkeit. Sie starrte darauf, wobei sie einen Augenblick lang mit heftig pochendem Herzen den Atem anhielt. Es war ein Schild im Schaufenster eines Plattenladens.

Über dem Anarchiezeichen stand in großen Lettern: »Neu! Die neueste CD von INFERNO aus New Orleans! Deliberately Set.« Darunter war zu lesen: »Wach auf und rieche das Feuer!«

WACH AUF war in Blut an zwei Tatorten an die Wand geschmiert worden, und dann diese Vergangenheit, an die sich Dante nicht erinnern konnte. Heather ordnete sich rechts ein und hielt vor der Polizeiwache an. Collins wartete auf den Stufen vor dem Gebäude auf sie.

Dante konnte sich an nichts erinnern. Aber anscheinend wollte jemand, dass er sich an seine Vergangenheit erinnerte.

»Es gibt Probleme«, erläuterte Heather, nachdem sich Collins in den Wagen gezwängt hatte. Noch ehe er die Tür geschlossen hatte, trat sie wieder aufs Gas.

Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, schnallte sich der Detective an. Dann warf er Heather einen fragenden Blick zu. »Der Bastard lebt, nicht wahr?«

»Man hat Sie aus gutem Grund zum Detective gemacht«, brummte Heather und fädelte den Stratus wieder in den Verkehr ein. »Es kommt aber noch schlimmer: Das Ganze wird mutwillig vertuscht.«

»Dreck.« Collins starrte verärgert geradeaus auf die Straße.