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EINE LEBENDE VERBINDUNG

Lucien ließ den bewusstlosen Assistenten auf die Couch im Salon fallen. Eine riesige blauviolette Beule hatte sich auf der Stirn des Mannes gebildet. Dante kniete sich neben die Couch und durchsuchte die Taschen des Mannes mit flinken, sicheren Händen.

Das hat er schon mal gemacht, dachte Heather. Wahrscheinlich sogar mehr als einmal.

Er warf einen kleinen Schlüsselbund auf den Boden, dem ein Mobiltelefon, mehrere Münzen und ein Kaugummi in Silberpapier folgten. Dann fiel noch ein scharfes Messer auf den kleinen Haufen.

De Noir atmete geräuschvoll ein. Heather warf ihm einen Blick zu. Er schüttelte den Kopf, die Kiefermuskeln angespannt. Offenbar war er sauer, dass ihm diese Waffe entgangen war.

Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder Dante zuwandte, stellte sie fest, dass er eine schmale schwarze Geldbörse in Händen hielt. Er klappte sie auf und zog einige Kreditkarten und Rechnungen heraus.

»Elroy Jordan«, sagte er. »Jedenfalls seinem Ausweis nach.«

»Woher kommt er?«, fragte Heather. Sie kniete sich neben Dante, um über seine Schulter hinweg mitlesen zu können.

»New York.«

Dante schnappte sich das Mobiltelefon des Assistenten. »Schauen wir doch mal nach, mit wem Elroy als Letztes gesprochen hat«, sagte er und drückte auf die Wahlwiederholungstaste.

Heather betrachtete Jordans Foto. Schütteres Haar, schiefes Grinsen – typisches Passbild.

Dante hielt einen Finger hoch, und ein Grinsen erhellte sein Gesicht. »Wenn das nicht der Voyeur persönlich ist«, sagte er ins Handy. »Ich habe Ihren Assistenten, Elroy den Perversen, kennengelernt.« Dante lauschte einen Augenblick, und sein Grinsen wurde noch breiter.

Heather starrte auf seine Fänge, die, wie sie sich einredete, Implantate sein mussten. Oder?

»Das glaube ich kaum«, sagte Dante, dessen Grinsen verschwand. »Er ist momentan nicht ganz bei Bewusstsein. Da er den Abend freihatte, muss er in seiner Freizeit wohl auch Voyeur sein, oder was meinen Sie?«

Wieder lauschte er in das Mobiltelefon und strich sich dabei durchs Haar. Er warf Heather einen Blick zu und grinste. Dann lachte er tief und ein wenig düster.

»Keine Sorge. Ich lasse ihn frei, wenn er wieder bei sich ist.« Dann beendete er das Gespräch und warf das Handy auf den kleinen Haufen zurück.

»Wie heißt denn der Journalist?«, wollte Heather wissen.

»Ronin. Thomas Ronin.«

Heather starrte Dante an. »Ronin? Dieser Bastard ist hier?«

»Augenscheinlich hat Sie seine coole schwarze Visitenkarte auch nicht beeindruckt«, sagte Dante. Ein Mundwinkel zuckte ironisch. »Was ist mit ihm?«

»Er taucht an den jeweiligen Tatorten auf, ohne dass wir je die Chance hatten, sie unter die Lupe zu nehmen«, erklärte sie wütend. »Dann macht er von den Opfern Bilder und verkauft sie an die Boulevardpresse oder an Snuff-Seiten im Internet. Zugegebenermaßen kann er schreiben, aber er beschuldigt die Polizei oder das FBI immer wieder grober Fahrlässigkeit und Unfähigkeit. Schlimmer noch: Er behauptet, wir fingieren Beweise und verhaften Unschuldige. Seine Artikel enden außerdem stets mit der Behauptung, er wüsste, wer der ›wahre‹ Killer sei.« Heather stand auf und klopfte sich die Knie ihrer Hose ab. »Wo sind Sie ihm begegnet?«

»Auf der Straße«, antwortete Dante und erhob sich mit einer fließenden Bewegung. »Er hat behauptet, er wolle mich sprechen.«

Er zog den Führerschein aus der Geldbörse und schob ihn sich in die hintere Hosentasche. Dann warf er die Geldbörse zu den anderen Sachen.

»Sie haben sich doch nicht bereiterklärt, oder?«, fragte Heather.

»Scheiße, nein«, schnaubte Dante verdrießlich. Er ging durch den Salon, stieß die Tür zur Küche auf und verschwand.

Heather seufzte und rieb sich den Nasenrücken. Super. Jetzt habe ich ihn auch noch beleidigt.

Eine kleine Gruppe hatte sich inzwischen im Salon versammelt. Silver saß in einem Sessel neben der Couch, die Beine über der Armlehne. Simone stand in der Nähe des Eingangsbereichs, neben ihr ein junger Mann mit taillenlangen Dreadlocks, der sich die Brille auf die Stirn hochgeschoben hatte. Simone nickte Heather zu. »Mein Bruder Trey«, stellte sie ihn vor.

»Hi, Trey«, brummte Heather. »Könnte jemand diesen Kerl im Auge behalten, während ich kurz mit Dante spreche?« Ihr Blick wanderte von Simone zu De Noir.

»Mache ich«, sagte De Noir. »Aber fassen Sie sich kurz, Agent Wallace.«

»Lassen Sie mich sofort wissen, wenn der Bursche zu sich kommt«, sagte Heather. Sie ging in die Küche.

Dort saß Dante am Tisch, einen Kaffeebecher und eine Flasche Cognac vor sich.

»Hören Sie«, sagte Heather. »Ich weiß, dass Sie Musikmagazinen und so kaum Interviews geben, und ich wollte auch nicht Ihre Integrität infrage stellen …«

»Vergessen Sie es«, unterbrach Dante sie und zuckte die Achseln. »Ist unwichtig.«

Heather setzte sich an den Tisch ihm gegenüber. Sie sah, dass wieder Dampf aus ihrem Becher aufstieg, und vermutete, dass Dante den Kaffee in der Mikrowelle aufgewärmt hatte. Sie musste grinsen.

»Also … Sie meinten, ich habe einen Stalker? Einen Serienmörder? « Dante schüttete Cognac in seinen Kaffee. Er warf Heather einen fragenden Blick zu und hob dabei die Flasche.

Sie schüttelte den Kopf. »Das nehme ich an. Aus irgendeinem Grund muss er auf Sie fixiert sein. Vielleicht ist er ja ein Fan.«

Heather nahm einen Schluck von dem Zichorienkaffee mit Milch und Zucker. Sie sah Dante zu, wie er Cognac in seinen Becher rührte, und bemerkte die Anspannung in seinen Schultern. Er schien zu spüren, dass sie ihn beobachtete, und seine Miene wirkte vorsichtig.

»Kannten Sie Daniel Spurrell?«, fragte sie. »Das Opfer aus dem Hof der Pizzeria«, erklärte sie, als Dante die Stirn runzelte.

»So hieß er? Daniel?« Dante schüttelte den Kopf. »Ich hatte ihn im Club gesehen, und wir haben uns über das letzte Album von Inferno unterhalten, aber gekannt habe ich ihn nicht.«

»Wie lange kannten Sie Gina?«

Dante wandte den Blick ab und klammerte sich an seinen Becher. »Kannten? Es fällt mir noch immer schwer, von ihr in der Vergangenheit zu sprechen.«

»Ich weiß, dass das schwierig ist, aber ich muss das fragen.«

Dante fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und kippte ihn nach hinten. »Wir haben uns etwa so … na ja … sechs Monate oder so gekannt. « Er sah auf. »Mit Daten und Zeiten war ich noch nie gut.«

»Also waren Sie beide … Sie und Gina … zusammen? Ein Paar?«

Dante nahm einen großen Schluck Kaffee mit Cognac. »Nein. Wir waren Freunde. Sie hat … verdammt – hatte – einen Freund.«

»Wissen Sie, was der Satz ›Wach auf S‹ bedeuten könnte?«

Dantes Muskeln spannten sich an, und er schloss die Augen. »Nein«, wisperte er kaum hörbar.

Heather stellte ihren Kaffee auf den Tisch. Sie hasste diesen Teil ihrer Arbeit, dieses Herumstochern und Nachbohren bei einem Trauernden, dieses Wiedererwecken des Schmerzes. Sie wusste, wie weh es tat, wenn einem bewusst wird, dass ein geliebter Mensch getötet wurde. Dass er nicht im Schlaf oder auch durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen war. Er war ermordet worden, jemand hatte sein Leben absichtlich beendet, und er würde nie mehr zurückkommen. Nie mehr.

Genau wie ihre Mutter.

Sie griff über den Tisch hinweg nach Dantes Hand. Er sah auf, sie erstarrte, und ihr Atem stockte. Sie fühlte sich in seine dunklen Augen gesogen wie Blut in eine Kanüle. Ihr Herz flatterte kolibrischnell, als sie den Blick mühsam abwandte und ihre Hand zurückzog, um ihren eigenen Becher wieder mit zitternden Fingern zu umfassen.

Was hatte er nur an sich? Er war natürlich sehr gut aussehend, aber sie war kein Teenager mehr. Sie war sogar sicher, dass sie einige Jahre älter war als er. Warum zum Teufel verschlug es ihr dann die Sprache, und ihr Herz begann wie verrückt zu pochen?

Heather streckte die Hand nach der Cognacflasche aus, die Dante ihr daraufhin reichte. Ihre Finger berührten die seinen, und ein elektrischer Schlag schoss von ihrer Hand in ihren Bauch. Fast hätte sie die Flasche fallen gelassen.

»Sie meinten, Gina hätte einen Freund gehabt«, fuhr sie fort und goss sich etwas Cognac in den Kaffee. »Glauben Sie, er … wie heißt er eigentlich? … na ja, dass er …«

»Niemals! Jay liebt … liebte sie.«

Heather blickte von ihrer Tasse auf und stellte die Cognacflasche wieder auf den Tisch. Dantes Miene blieb distanziert, und seine Körpersprache – der abgewandte Blick, das Klammern an den Becher, so dass die Fingerknöchel weiß hervortraten – signalisierte ihr eine große Anspannung.

Heather fuhr mit sanfterer Stimme fort: »Vielleicht aus Eifersucht? Sie haben zum Beispiel Zeit mit seiner Freundin verbracht. «

»Er hatte keinen Grund, eifersüchtig zu sein.« Dante sah Heather an. »Er war immer mit von der Partie.«

»Bei allem?«

»Ja.«

Dante schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Er trat zur Arbeitsplatte und stützte sich darauf.

Heather drehte sich auf ihrem Stuhl um. »Wo kann ich Jay finden? Wie heißt er mit Nachnamen?«

»Soweit ich weiß, ist Jay verschwunden«, sagte Dante. Er drehte sich um, lehnte sich an die Arbeitsplatte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Gestern Nacht ist er mit Gina weggegangen. Ich will ihn suchen. Sobald wir hier fertig sind.«

»Er ist mit ihr weggegangen? Woher wissen Sie, dass er nicht auch tot ist? Oder gar ihr Mörder? Muss ich Ihnen das wirklich erklären?«, fragte Heather und stieß ihren Zeigefinger auf die Tischplatte, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Ein Mörder beobachtet Sie. Er weiß, wer Ihnen nahesteht. Nennen Sie mir Jays Nachnamen.«

Dante hielt ihrem Blick schweigend stand. Heather seufzte. Gut aussehend, sexy, aber verdammt bockig. »Sie können nicht nach ihm suchen. Lassen Sie mich helfen. Ich kann die Polizei beauftragen …«

»Scheiß auf die Bullen.«

»Ich verfolge diesen Psychopathen seit drei Jahren«, sagte sie leise, »und Sie sind bisher die einzige lebende Verbindung zu ihm.«

Dante trat an den Tisch. Er griff nach dem Cognac. Als sich seine Finger um den Hals der Cognacflasche legten, schlang Heather eine Hand um sein Handgelenk. Seine Haut war samtweich und warm. »Ich will, dass Sie am Leben bleiben«, fuhr sie fort, »und deswegen werden Sie mich so schnell nicht wieder los.«

Er sah sie an. Diesmal war seine Miene weniger vorsichtig, seine Augen wirkten vielmehr unfreundlich und grüblerisch.

»Heute früh im Club haben Sie mir vertraut«, gab Heather zu bedenken. »Was ist jetzt anders?«

Dante löste sich sanft aus ihrem Griff. Mit der Flasche in der Hand lehnte er sich wieder gegen die Arbeitsplatte. Licht fing sich in seinen Ohrringen. »Ich weiß nicht. Alles. Nichts. Wie soll ich Sie eigentlich nennen? Agent Wallace? Gesetzeshüterin? Miss? Wie?«

Heather schob auch ihren Stuhl über das Linoleum zurück, stand auf und trat zu ihm an die Arbeitsplatte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Ich habe das Gefühl, Sie sind gar nicht so ekelhaft, wie Sie tun.«

Für einen Moment zeigte sich auf Dantes Gesicht ein Lächeln. »Erweisen sich Ihre Gefühle meist als wahr?« Er nahm einen raschen Schluck Cognac.

»Meist schon«, meinte sie. »Nennen Sie mich beim Vornamen, da das auch der einzige Name ist, den ich für Sie habe. Heather.«

»Gut, Heather.«

»Wissen Sie, ich kann für Sie keinen offiziellen Nachnamen finden«, sagte sie und hielt Dantes Blick stand. »Nur einen, den Ihnen eine Pflegefamilie in Lafayette gab – Prejean. Daniel Spurrell war auch aus Lafayette.«

Dante schwieg weiter, seine Miene war misstrauisch, seine Muskeln waren angespannt.

»Sie sind polizeilich mehrmals auffällig geworden«, fuhr sie fort, auch wenn sie wusste, dass sie es damit wahrscheinlich zu weit trieb. Aber eventuell lag der Grund für all das ja auch in Dantes Vergangenheit. »Außer dieser geschlossenen Akte Ihrer Straftaten und Auffälligkeiten, die unter das Jugendstrafrecht fallen, kann ich aber nichts über Sie finden. Es gibt keinen Führerschein, keine Sozialversicherungsnummer, keine Kreditkarten – nichts. Warum?«

Dante zuckte zusammen und fuhr sich mit der Hand an die Schläfe. Plötzlich trat ihm Schweiß auf die Stirn. Ein weiterer Migräneanfall? Ausgelöst durch ihre Fragen? Wie war das möglich?

»He! Alles in Ordnung?«

Dante taumelte von ihr weg und lehnte sich dann an den Kühlschrank, sein Körper verkrampfte sich, und er zitterte fast vor Anstrengung. »Wenn Ihr Psychopath mich will«, sagte er heiser, »soll er mich ruhig haben.«

»Sind Sie wahnsinnig?« Heather trat auf ihn zu. »Man muss Sie in Schutzhaft nehmen.«

»Vergessen Sie’s. Stellen Sie ihm eine Falle, okay? Stellen Sie ihm eine Falle. Ich bin ein Nachtgeschöpf, schon vergessen?«

Die Cognacflasche fiel Dante aus der Hand und zerbarst auf dem Boden. Bernsteinfarbene Flüssigkeit spritzte auf die Schränke und Heathers Füße. Dante ging in die Knie, eine Hand noch immer an der Schläfe, mit der anderen stützte er sich am Kühlschrank ab. Heather rannte zu ihm, kniete sich neben ihn und packte ihn verängstigt an den Schultern. Blut lief ihm aus der Nase. Seine Augäpfel rollten nach hinten.

Die Küchentür flog so heftig auf, dass sie gegen die Wand knallte und dort ein Loch hinterließ. De Noir kam hereingerannt.

Dante sackte in Heathers Armen zusammen. Sein Kopf fiel nach hinten. Sie kam aus dem Gleichgewicht und setzte sich hart auf den Linoleumboden, während sie ihn festhielt. Ihr Puls raste so, dass sie ihn in ihren Ohren dröhnen hörte. Blut strömte aus seiner Nase und troff auf ihre Arme, ihre Hände, ihre Hose.

De Noir griff nach Dante. In seinem Gesicht spiegelte sich fast etwas wie Furcht wider.