16

BLUTSCHWÜRE

Dante öffnete die Augen. Kerzenlicht flackerte weiß und golden an der Decke. Schatten zitterten. Er roch nach Vanille duftendes Wachs und schmeckte Blut im Rachen. Sein Kopf pochte, doch der Schmerz schien in weiter Ferne zu lauern, als hätten ihn Morphium oder Luciens kühle Hände gelindert.

Es tat weh zu schlucken. Das Blut schmeckte nach seinem eigenen. Wieder Migräne? Wieder Nasenbluten? Welche Nacht war dies eigentlich? Er versuchte, sich zu besinnen, sich daran zu erinnern, was er vor dem Schlaf getan hatte. Aber er prallte an einer hohen, leeren Wand ab.

Jäh brandeten lebhafte Bilder durch seine Gedanken – eine Wespe, Ketten, die von Fleischerhaken hingen, ein blutiger Baseballschläger – und verwandelten sein Bewusstsein in einen Alptraum.

Stacheldrahtstacheln durchbohrten Haut. Wespen summten. Dante schüttelte den Kopf. Er spürte, wie Trey sanft gegen seine Schilde klopfte. Dante holte tief Luft und ließ ihn ein.

Eine Nachricht für dich auf dem Club-E-Mail-Konto, meldete Trey.

Oui?

›Ich weiß, wo dein hübsches Spielzeug versteckt ist. Er lebt, und es geht ihm einigermaßen. Sei nett, dann das wird so bleiben. Ich werde dir eine Nachricht im Club hinterlegen.‹ Ich konnte die Botschaft zu einem Internetcafé zurückverfolgen. Getürkte Kreditkarte. Sackgasse.

Sein Puls raste, als Dante sich aufsetzte. Blut rauschte in seinen Schläfen.

»Agent Wallace hat angerufen, während du im Schlaf lagst«, sagte Lucien, der in diesem Moment ins Zimmer kam. »Der Mörder lebt noch, und sie rät dir, besser zu Hause zu bleiben. «

»Dann hatte sie also Recht«, sagte Dante. »Aber ich werde nicht daheim bleiben. Ich muss ein Versprechen halten.«

Traust du dieser Information?

»Natürlich nicht! Aber das ist das Einzige, was ich gegenwärtig habe.« Dante warf die Leintücher beiseite und stand auf.

Ich rette dich, Jay. Atme weiter. Kämpf weiter.

 

Heather atmete tief durch und sog die Mischung aus Patschuli, Gewürznelken und Schweiß ein, die im Club Hell wie immer in der Luft lag. Während sie sich durch die erhitzte, schwitzende Menge schlängelte, hielt sie ständig den Blick auf Dante gerichtet.

Er saß auf dem Rand des Fledermausthrons, die Muskeln gespannt, den Körper verkrampft. Er trug eine Lederhose und ein Latexshirt mit Metallstreifen. Die Ringe an seinen Fingern und der Bondagekragen um seinen Hals blitzten. Eine schwarzhaarige Goth-Prinzessin schmiegte sich an seine Beine. Sie hatte die von Netzstoff bedeckten Arme um seine Waden gelegt, und auf ihren roten Lippen lag ein glückliches Lächeln.

Dantes Finger strichen über das Haar des Mädchens, eine sanfte, wenn auch gedankenverlorene Geste. Den dunklen Blick hatte er auf Heather gerichtet. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts, weder, ob er sich über das Wiedersehen freute noch ob er sich ärgerte. Er wirkte nur über alle Maßen aufmerksam.

Musik erdröhnte und schüttelte die tanzende Menge. Der schwere Bass ließ die Wände und den nebelübergossenen Boden erzittern. Es klang fast wie ein Defibrillator, der ein Herz wieder zum Schlagen bringen sollte.

Nicht schlecht, dachte Heather und hob den Arm, um einen Crowdsurfer abzuwehren. Erinnert mich an Annies alte Band. Viele Hände schoben und stießen, und der Surfer glitt links von Heather weiter über die Köpfe. Sie senkte den Arm. Sie wollte sich gerade zur Seite drehen, als sie merkte, dass sich jemand direkt vor sie gestellt hatte, so dass ihr Weg blockiert war. Sie runzelte die Stirn, ballte die Fäuste und blickte auf. Ihr blieb einen Augenblick lang fast das Herz stehen.

»Sie wissen anscheinend, wie man so was macht«, stellte Dante fest. Auf seinen Lippen lag die Andeutung eines Lächelns.

»Na ja, meine Schwester war mal Frontfrau einer Band«, versuchte Heather den Lärm der Musik zu übertönen. Als sie ihn ansah, entdeckte sie eine Art von Begrüßung in seinen dunklen Augen. Ihre Spannung ließ merklich nach.

»Welche Band?«

»WMD.«

Die Menge um sie herum wich zurück, als die Tänzer merkten, wer da neben ihnen stand. In ihren Augen zeigten sich alle möglichen Spielarten von Hunger und Lüsternheit. Ein erregtes Flüstern war zu hören. Zitternde Finger streckten sich aus. Heathers Blick raste von einer Person zur nächsten, während sie sich fragte, ob der Mörder wohl unter ihnen tanzte. Sie zuckte zusammen, als eine Hand nach ihrer Schulter griff. Dante beugte sich zu ihr, seine Lippen ganz nah an ihrem Ohr.

»Sie müssen nicht schreien«, wisperte er. »Ich kann Sie gut hören, und WMD gehörte zu den Besten!« Er richtete sich wieder auf, wobei seine Finger noch einen Moment lang auf ihrer Schulter verweilten.

»Stimmt.«

Heather hielt Dantes Blick stand. Nur halb war sie sich des Flüsterns und des Dröhnens der Stimmen um sie herum bewusst.

Ein magerer junger Mann mit Dreadlocks und Tarnklamotten hielt Dante die neueste Inferno-CD – Deliberately Set – und einen Marker unter die Nase.

»Heywenndukönntestwäredasvollcoolvondir«, stammelte er mit weit aufgerissenen Augen.

Dante gab dem Tarntypen die signierte CD und den Marker zurück.

Er blinzelte verlegen. »Äh … danke.«

Heather hatte nicht gesehen, wie er die CD genommen und signiert hatte. Sie hatte eine verschwommene Bewegung wahrgenommen, sonst nichts. Dante sah sie an und hielt ihr die Hand hin. Sie nahm sie und legte ihre Finger um seine warme Haut.

Dann führte er sie durch die Menge. Vor ihnen öffnete sich wie von Geisterhand ein Weg, und Dantes Name lief durch die Tanzenden – jedes Flüstern ein weiterer Stein, der auf der Oberfläche eine Wellenbewegung auslöste. Verlangende Blicke folgten ihm. Finger berührten ihn. Flehentlich. Ein junger Mann mit honigblondem Haar und einem altmodischen Gehrock wagte es, vor Dante hinzutreten. Er schloss seine von schwarzem Kajal umrandeten Augen, breitete die Arme aus und bot seine Lippen zum Kuss.

Dante blieb stehen, wie Heather verblüfft feststellte. Ohne ihre Hand loszulassen, trat er dem jungen Mann gegenüber. Nur wenige Millimeter trennten ihre Körper voneinander, als Dante den Jungen auf die dargebotenen Lippen küsste.

Ein verlangendes Seufzen ging durch die Zuschauer. Heather trat neben Dante und fixierte die schwitzenden, überpuderten Gesichter in seiner Nähe. Ein paar weinten, dunkle Wimperntuschetränen liefen über ihre Wangen.

Sie beten ihn an. Völlig. Liegt das an seinem Aussehen? Wer ist er?

Oder was soll er sein?

Der Kuss endete. Der honigblonde junge Mann stolperte ein paar Schritte zurück und verneigte sich, wobei er mit einem Arm in einer ausladenden Geste über seine Taille, während er ein Bein nach vorn streckte – eine vornehme Geste, die auch durch seine zitternden Hände nichts an ihrer Anmut verlor.

»Merci beaucoup, mon ange de sang.« Er sah mit geröteten Wangen und benommenem Blick auf. »Du hast mir eine große Ehre erwiesen.«

»Pourquoi? Sa fini pas.«

Heather hörte die Anstrengung in Dantes Stimme. Er hatte keine Zeit zum Trauern, dachte sie. So viel ist in den letzten paar Tagen geschehen.

Noch immer sich verneigend wich der junge Mann zurück, um Dante wieder den Weg freizugeben. Die Seufzer und das Murmeln wurden stärker. Dante ging weiter, die Finger noch immer fest um Heathers Hand gelegt. Hinter ihnen schloss sich die Menge wieder. Als sie die Stufen zum Podest erreichten, drückte Dante kurz ihre Hand und ließ sie dann los.

Sie folgte ihm die Stufen hinauf, vorbei an den Goth-Fürsten und -Prinzessinnen, die wie zufriedene Katzen auf den Stufen saßen. Das schwarzhaarige Schoßkätzchen, das sich zuvor an Dantes Beine geschmiegt hatte, saß nun auf dem Podest, den verlangenden Blick auf sein Gesicht gerichtet. Hinter dem Thron stand De Noir in einem purpurnen Hemd; der Anhänger mit dem X funkelte um seinen Hals, und seine Miene wirkte ausdruckslos.

Dante kauerte sich neben das wartende Goth-Mädchen. Er fuhr ihr mit dem Finger über die Kinnlinie, beugte sich zu ihr hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Heather bemerkte, wie dunkel Dantes Haar in dem gedämpften Licht des Clubs wirkte, schwärzer als die tiefste Nacht. Gleichzeitig schimmerte es natürlich und glänzte und schien nicht matt zu sein wie die gefärbten Strähnen des Mädchens, mit dem er redete.

Die Goth-Prinzessin senkte den Blick, und ihre Unterlippe begann zu beben. Dante hob ihr Kinn an und küsste sie. Gierig schlang sie die Arme um seine Hüften.

Die meisten Leute schütteln sich die Hand. Dante küsst. Bei einem Betriebsausflug könnte das recht interessant werden.

Heather verschränkte die Arme vor der Brust.

Als der Kuss vorbei war, ließ die Netzkönigin Dante widerwillig los. Ihre Hände glitten über seine Hüften. Lächelnd strich sie ihm mit dem Daumen über die Lippen und wischte ihren Lippenstift weg. Sie bedachte Heather mit einem finsteren Blick, als sie eine Stufe herabkam, und musterte sie voller Verachtung von Kopf bis Fuß.

Heather ging lächelnd an ihr vorbei.

Dante setzte sich im Schneidersitz vor den Thron auf die oberste Stufe des Podests und gab Heather ein Zeichen, es ihm nachzutun. Das tat sie, wobei sie den Schulterriemen ihrer Tasche über den Kopf zog und sie dann hinter sich schob. So musste sie keine Sorge haben, die Tasche in dem allgemeinen Durcheinander im Club zu verlieren.

Musik donnerte und hämmerte. Sie kroch Heathers Rückgrat hinauf bis in den Hinterkopf. Im Käfig über ihnen jaulte jemand vor Schmerzen auf. Feedback heulte durch die Verstärker. Heather zuckte zusammen. Ihr Blick wanderte zum Käfig, der voller Fetische hing. Die Band dort oben trat um sich und schnappte nach den Händen, die nach dem gestürzten Sänger griffen. Finger krallten ins Leere, doch dazwischen sah man blutüberströmte, zerfetzte Stoffstücke und Strähnen langen, tiefroten Haares.

Endlich gelang es der Gruppe, ihren Frontmann zu befreien, der daraufhin das Mikro wieder nahm, sich hinstellte und weitersang. Blut lief ihm über das blasse Gesicht.

»Dark Cloud 9 aus Portland«, flüsterte Dante Heather ins Ohr.

»Er ist nicht tot«, sagte sie.

»Lucien hat es mir gesagt. Was wollen Sie jetzt tun?«

»Sie bewachen.«

Ein belustigtes Lächeln zeigte sich auf Dantes attraktivem Gesicht.

»Oh, Sie glauben wohl, Sie brauchen das nicht, Mr. unzerstörbarer Vampir?«

»Ich habe nie behauptet, unzerstörbar zu sein«, erwiderte er.

»Das nehmen Sie aber augenscheinlich an«, antwortete Heather und sah ihm tief in die Augen. »Sie sind nicht daheim geblieben. Was zum Teufel tun Sie hier?«

Dantes Lächeln verschwand. »Ich muss ein Versprechen halten.«

»Ein Versprechen? Wie wäre es, wenn Sie versprechen, sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben?«

»Mensch, Heather!«, brummte er. »Ich habe Ihnen nie irgendetwas versprochen. Aber ich habe Jay versprochen, ihn zu beschützen – und das habe ich auch vor. Verstehen Sie?«

»Jay ist tot. Dafür ist es zu spät«, antwortete sie und berührte sein Knie.

»Nein, ist er nicht. Der Leichnam, den man aus dem Fluss gefischt hat, war nicht seiner. Ich habe das überprüft.« In Dantes dunklen Augen loderte ein Feuer. »Heute Abend habe ich eine Nachricht erhalten. Jemand weiß, wo man Jay versteckt hält. Es hieß, man würde mich hier benachrichtigen. Also warte ich.«

Heather starrte ihn sprachlos an. Was hatte Dante gesagt? Sie solle den Köder auswerfen? Aber es war ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Auslegen eines Köders und dem Versuch, den Haken direkt ins Maul eines Haifischs zu werfen. War es zudem nicht ausgesprochen interessant, dass die Nachricht erst gekommen war, nachdem sie New Orleans verlassen hatte?

»Der Einzige, der überhaupt wissen kann, wo …«

Dante hob eine Hand und blickte über die tanzende Menge hinweg zum Eingang. Heather verstummte. Sie sah ebenfalls zur anderen Seite des Raumes.

»Der Voyeur ist hier«, sagte Dante. Er stand in einer einzigen fließenden Bewegung auf. »Er will offensichtlich mit mir sprechen.«

Heather erhob sich auch. Ihr Magen verkrampfte sich vor Beunruhigung. Die Menge teilte sich wie eine Amöbe, als zwei Gestalten vom Eingang her auf die Tanzfläche traten. Von ging mit langen, lockeren Schritten voran, seine vernarbten Hände hingen an den Seiten herab. Seine Lederjacke war an einer Stelle ausgebeult. Offenbar trug er ein doppeltes Pistolenholster.

Ihr Blick wanderte zu dem Mann, der Von folgte. Ronin. Sie hatte im Internet und auf Buchcovern schon Bilder von ihm gesehen, aber dies war das erste Mal, dass sie ihn persönlich vor sich sah. Sie hatte einen auffälligen Mann erwartet – groß, athletisch, mit einer Haut, die eine Schattierung heller als der Nachthimmel war, kurz geschnittenen Haaren und einem gestutzten Bart –, aber auf seine Präsenz war sie nicht gefasst gewesen. Selbst von der anderen Seite des Raumes aus forderte er Aufmerksamkeit und lenkte die Blicke auf sich.

Der Blick des Journalisten streifte Heather. In seinem Gesicht zeigte sich Überraschung. Überraschung und Erkennen. Er weiß, wer ich bin, dachte sie, und hat mich hier nicht erwartet. Sie nickte. Ein kaltes Lächeln huschte über Ronins Lippen und war gleich wieder verschwunden.

Von stieg die Stufen zum Thronsitz hinauf. Vor Dante hielt er inne. Der eintätowierte Halbmond unter seinem Auge schien im gedämpften Licht des Clubs zu vibrieren.

»C’est bon«, sagte Dante. »Gètte le.«

Mit einem raschen Kopfnicken ging Von an Dante vorbei und stellte sich leicht schräg rechts von ihm hin, wohl um alle im Augen behalten zu können.

Ronin trat aufs Podest. Er wandte sich einen Augenblick lang Von zu und machte eine angedeutete Verbeugung. »Eine Ehre, von dir hierherbegleitet zu werden, Llygad«, sagte er.

Von reagierte nicht. Er stand reglos mit leicht gespreizten Beinen da, die Hände an den Seiten.

Offenbar hatte Ronin auch keine Antwort erwartet, da er sich sogleich Dante zuwandte, ohne weiter Von anzusehen. Sein Blick wanderte von Dante zu De Noir, der hinter dem Thron stand, und dann wieder zu Dante

»Ich bin überrascht, dass Sie hier sind, Agent Wallace«, sagte er mit einer glatten Stimme.

»Weshalb?«

Ronin zuckte die Achseln. »Ich habe in der Zeitung gelesen, der CCK sei in Pensacola erledigt worden. Das FBI und die örtlichen Dienststellen meinten, der Fall sei abgeschlossen. «

»Warum sind Sie dann nicht in Pensacola, wie das ein guter Reporter sein sollte?« Heather schlug sich mit der Hand gegen ihre Schläfe. »Ach ja, hatte ich ganz vergessen: Sie sind kein guter Reporter.«

Der Mann lächelte, zog eine Braue hoch und meinte: »Aua.«

»Sie wollten mich sprechen, Voyeur«, sagte Dante.

»Vielleicht können Sie mir sagen, ob das hier etwas bedeutet oder irrelevant ist.« Ronin fasste in die Innentasche seiner Jeansjacke.

Heathers Nackenhaare stellten sich auf. Sie warf einen unauffälligen Blick über die Schulter und sah, dass De Noir jetzt direkt hinter Dante stand, die Augen starr auf Ronin gerichtet.

Dark Cloud 9s Industrial-Wand bestand jetzt nur noch aus Drums und Bass, wobei der Beat fast hypnotisch und urtümlich klang. Immer wieder erklang der düster gefauchte Refrain des Leadsängers:

»One step closer to the end
one step closer
one
step
closer
to the end …«

Ronin zog ein gefaltetes Stück Papier aus der Tasche, das er Dante reichte. »Ich habe das hier heute Abend in meiner Tageszeitung gefunden.«

Dante zog das Blatt aus Ronins Fingern, faltete es auf und überflog den Text darauf. Heather beugte sich vor und las über seine Schulter mit.

jay mcgregor lässt herzlich grüßen. frag dante, warum. frag dante, wie viel mehr blut es braucht, um ihn endlich zu wecken. wie viele noch? schreib die wahrheit. richte dante aus, er soll in seinen wagen schauen.

Drums dröhnten, der Bass pulsierte und vibrierte.

One step closer to the end,
one step closer,
one
step
closer
to the end …

Dante schob das Stück Papier in seine Gesäßtasche. »Merci«, flüsterte er. »Aber das ändert gar nichts.«

Ronin schüttelte den Kopf und kam einen Schritt näher. »Wovor hast du Angst … Blutgeborener?«

Heathers spürte einen Luftzug, der ihr Haar zerzauste, während sie gleichzeitig am äußeren Rand ihres Gesichtsfeldes sah, dass Dante sich bewegte. Er hatte auf Ronins Eindringen in seinen persönlichen Raum reagiert, indem er seinerseits noch näher gekommen war. Jetzt war nur noch eine Handbreit zwischen den beiden. Die dunkle Haut des Reporters stand in so starkem Kontrast zu Dantes bleichem Teint – Mitternacht und Winterweiß –, dass Heather das Yin-Yang-Symbol in den Sinn kam.

»Nicht vor dir, Voyeur.« Dantes Hände ballten sich zu bebenden Fäusten. »Was zum Teufel meinst du mit ›Blutgeborener‹?«

»Nichts«, sagte De Noir. Er ging an Heather vorbei und stellte sich neben Dante. »Absolut nichts.« Er fixierte Ronin eindringlich. »Er treibt Spielchen.«

Heather warf einen Blick auf Von. De Noirs Bemerkung hatte ihn dazu veranlasst, die Brauen überrascht hochzuziehen, so dass man sie über der Sonnenbrille erkennen konnte. Sieht aus, als sei sich der Nomad da nicht so sicher. Interessant.

Dante erbebte am ganzen Körper und schloss die Augen. »T’es sûr de sa?«, flüsterte er.

Auf De Noirs Gesicht zeigte sich Besorgnis. Er runzelte die Stirn. »Sie sollten jetzt besser gehen, M’sieur Ronin.«

»Noch nicht.« Ronin streckte die Hände aus, um sie auf Dantes Schultern zu legen.

Mit noch immer geschlossenen Augen wich Dante den Händen aus, indem er in atemberaubender Geschwindigkeit die Arme hochriss. Seine Finger schlossen sich um Ronins Handgelenke. Er öffnete die Augen, und der Reporter starrte ihn mit offenem Mund an, ohne sich zu rühren.

Er schien sich über Dantes Schnelligkeit nicht zu wundern, wie Heather auffiel. Doch er wirkte über seine eigene Reaktion erstaunt. Wie lange hatten Ronin und sein unheimlicher Assistent Dante wohl schon beobachtet?

Dante schlug Ronins Handgelenke weg, fasste dann nach dem bärtigen Gesicht des Journalisten und strich mit seinen Lippen über die des Mannes.

In Ronins Miene spiegelte sich Schock, als Dante mit wieder herabhängenden Händen zur Seite trat. Ronin sah weg, die Augen auf den Boden gerichtet. An seiner Wange zuckte ein Muskel. Er ballte einen Augenblick lang die Fäuste und entspannte sie dann wieder.

Dante kam zu Heather und sah sie an. Ein leichtes Lächeln spielte um seinen Mund, doch in seiner Iris zeigten sich rote Schlieren.

»Vorsicht«, sagte sie. »Sie spielen mit dem Feuer.«

»Ich mag Feuer.« Sein Blick wanderte wieder zu Ronin.

»Warum haben Sie den Brief nicht der Polizei ausgehändigt, Ronin?«, fragte Heather. »Was wollen Sie?«

Ronin blickte auf und drehte sich zu ihr. Er lächelte, aber einen kurzen Augenblick lang zeigte sich etwas Dunkles, Zynisches in seinen Augen, das Heather nicht entging. »Ich will nur die Geschichte«, sagte er.

»Lügner«, meinte Dante.

Ronins Augen blitzten belustigt. »Ich höre mich überall um und halte alles fest, was passiert und von Bedeutung zu sein scheint.«

»Warum sollten wir diesen Brief nicht an die Polizei weitergeben? «

Ronin zog eine Braue hoch und sah sie an. »Wir?« Er schüttelte den Kopf. »Selbst wenn Sie die Polizei hinzuziehen, Agent Wallace, würde ich die Story bekommen.«

Der Bass wurde zu einem steten, dumpfen Pochen, die Drums pulsierten und das heisere Singen des Frontmanns nahm zu, bis es sich in ein Schreien verwandelte:

One step closer to the end,
One fucking step closer …

»Ich werde Ihnen erklären, was ich mit ›Blutgeborener‹ gemeint habe«, sagte Ronin.

Dante zuckte die Achseln. »Wer sagt, dass ich das wissen will?«

Ronin grinste. »Ich.«

Heather starrte auf die Fänge des Reporters. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, und das Blut gefror in ihren Adern. Bin ich verdammt nochmal die Einzige hier, die keine Reißzähne hat oder sich nicht einbildet, ein Vampir zu sein?

Sie warf einen Blick auf Dante. Atemberaubend. Kreativ. Unmenschlich schnell. War er wirklich ein Vampir?

De Noir griff nach Ronins Ellbogen. Augenscheinlich wollte er den Journalisten nun endgültig vom Podest befördern. Doch plötzlich hielt er inne, die Hände noch in der Luft, den Blick nach innen gerichtet.

Die Musik verstummte. Die Lichter im Club wurden schwächer und gingen dann ganz aus.

»Hörst du das?«, fragte Dante, dessen Stimme völlig bezaubert klang. »Ich spüre einen Rhythmus … wie Feuer, wie dein Lied, Lucien, wie …«

Heather näherte sich der Stelle, von der Dantes Stimme erklang. In dieser Finsternis konnte alles passieren. Ein Mörder konnte sich mühelos nähern. Ein schneller Schnitt quer über den Hals … es war nur ein geringer Trost, dass der Mörder Dante vermutlich lieber lebendig in seine Gewalt bringen würde … zumindest für eine Weile. Sie streckte die Hand aus und tastete nach seinem Arm. Ihre Finger glitten über Latex und drückten Dantes Unterarm.

»Hör genau zu«, sagte De Noir, dessen Stimme gepresst und dringlich klang.

Dante ächzte vor Schmerz.

»Was?«, fragte Heather, die sich anspannte. »Was ist hier los?«

In diesem Augenblick gingen die Lichter wieder an.

Ronin stand reglos am Rand des Podests. Er runzelte die Stirn und hatte den Blick auf Dante und De Noir gerichtet, die er aufmerksam beobachtete. De Noirs Hand lag auf Dantes Schulter, und es kam Heather vor, als bohrten sich seine Nägel durch Dantes Shirt. Dante begegnete verwirrt De Noirs Blick.

Heather ließ Dantes Arm los. »Was ist hier los?«, wiederholte sie.

»Hör mir zu«, sagte De Noir. »Wappne dich. Sperr es aus.« Er hob Dantes Kinn mit einem Klauenfinger. »Ich muss weg. Versprich mir, mir nicht zu folgen.«

Dante sah in De Noirs inzwischen golden gewordene Augen. Obwohl er kein Wort sagte, hatte Heather den Eindruck, als ob sich die beiden intensiv miteinander austauschten.

»Lass mich helfen«, wisperte Dante und sah sein Gegenüber frustriert an.

»Versprich es mir.«

Dante wandte den Kopf ab, um den Finger unter seinem Kinn abzuschütteln, und biss die Zähne zusammen. Dann hob er zwei Finger und schob sie in den Halsausschnitt seines Shirts, wo sich zuvor die Daumenkralle in seine Haut gebohrt hatte. Er zog sie wieder heraus. Sie waren voller Blut, als er sie gegen De Noirs Lippen presste.

»Ich verspreche es.«

»Ein Blutschwur«, murmelte Ronin. Seine dunklen Augen leuchteten.

Mit Dantes Blut auf den Lippen schritt De Noir die Stufen hinab und trat in die Menge der Zuschauer, die alle ihren Blick zum Thron hoch gerichtet hatten.

Dante sah ihm nach. Er schlang die Arme um seinen Oberkörper, und sein bleiches Gesicht wirkte besorgt.

»Worum ging es da eben?«, fragte Heather.

»Ich weiß nicht«, sagte Dante heiser. »Er wollte es mir nicht sagen.« Sein Blick wanderte über die Menge, und Heather tat es ihm gleich.

De Noir erklomm bereits die Treppe in den zweiten Stock. Er streifte sein purpurnes Hemd ab. Darunter zeigten sich starke Muskeln. Das Hemd schwebte wie ein Rosenblatt aus dem Strauß eines Liebhabers auf die Stufen herab.

Eine Gestalt eilte hinter De Noir die Treppe hinauf, nachdem dieser um die Ecke gebogen und nicht mehr zu sehen war. Eine rothaarige Goth-Prinzessin in einer dunklen Krinoline und mit Netzstrümpfen hob das beiseitegeworfene Hemd auf. Sie drückte es gegen ihre Wange und kam dann wieder die Treppe herunter in den Club.

»Ist De Noir auch ein Vampir … ein Nachtgeschöpf?« Heather wandte sich Dante zu.

Der ließ die Arme sinken und schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist ein Gefallener.«

Klauen. Goldene Augen. Blaues Feuer. »Wie in ›gefallener Engel‹?«

Das geht die Gefallenen nichts an.

Dante zuckte die Achseln. »Das ist eine der Geschichten, die sich um die Gefallenen ranken – ja.«

»Das ist es also«, murmelte Ronin.

»Zeit zu gehen, Voyeur«, sagte Dante. »Wir haben nichts mehr zu klären.«

»Gut.« Ronin hob die Hände. »Ich bin nicht gekommen, um mir Feinde zu machen.«

Dantes Mundwinkel zuckten ironisch. »Lügner«, sagte er nochmals.

Etwas bewegte sich pfeilschnell in Heathers Augenwinkel, sie roch Rauch und spürte einen kalten Wind. Dann stand Von neben Ronin. Die zwei Männer – Vampire? – waren gleich groß und starrten einander nun finster an.

»Ich habe Sie herein begleitet«, sagte Von langsam. »Ich begleite Sie auch wieder hinaus.«

»Wieder, Llygad, bin ich geehrt«, antwortete der andere.

Der Nomad ging an Ronin vorbei die Stufen hinunter. Ronin sah Dante in die dunklen Augen. »Blutgeborener«, sagte er. »Lass mich wissen, wenn du deine Meinung änderst.«

Damit wandte er sich ab und ging hinter Von die Stufen hinunter. Heather sah ihm nach, wie er zum Eingang schritt, gefolgt von dem Nomad.

»Blutgeborener?«

Dante schüttelte den Kopf. »Der Kerl redet nur Scheiße.«

»Aber was bedeutet das Wort?«

»Unwichtig«, antwortete er. »In dem Brief stand etwas von meinem Auto. Ich schaue mal nach.«

Heather trat zu ihm und atmete seinen warmen, erdigen Duft ein. »Nicht allein. Das ist zu gefährlich.«

»Ich werde hier nicht um Erlaubnis bitten«, entgegnete Dante, »und noch weniger werde ich nur faul rumsitzen und jemanden sterben lassen, der mir am Herzen liegt.«

»Natürlich nicht. Aber ich komme mit Ihnen.«

In Dantes Augen blitzte Überraschung auf. »Als Freundin oder als Bulle?«

»Beides«, antwortete Heather. »Ich bin beides.«

»Ja?« Auf Dantes Gesicht zeigte sich ein offenes Lächeln.

»Ja. Sie werden eine Freundin und einiges Glück brauchen …«

Dante nahm Heathers Gesicht in die Hände, die sich auf ihrer Haut wunderbar warm anfühlten. »Für das Glück«, flüsterte er und küsste sie auf die Lippen.

Sie schloss die Augen. Seine Lippen, die sich weich und fest gegen ihre drückten, entfachten das Feuer in ihren Adern und brachten die Glut in ihrem Bauch zum Lodern.

Der Kuss endete viel zu schnell, und Dante ließ die Hände wieder sinken. Heather öffnete die Augen. In seinem Blick zeigte sich keine Belustigung, und auch um seinen Mund zuckte kein anzügliches Lächeln. Er sah sie nur an – offen und unverstellt.

Die Gedanken, die durch ihren Kopf wirbelten, beruhigten sich allmählich. Sie errötete, als ihr klarwurde, dass sie der Kuss so aus der Fassung gebracht hatte, dass sie ihn nicht einmal berührt, sondern nur mit herabhängenden Armen dagestanden hatte. Als hätte sie noch nie zuvor geküsst.

Ist aber garantiert aufregender als ein Händedruck.

»Gehen wir«, sagte Dante. Er hielt ihr die Hand hin.

Heather nahm sie und folgte ihm die Stufen hinunter. Gesichter und Gerüche vermischten sich, als sie über die Tanzfläche schritt – Dreadlocks, Irokesen, goldene Claudia-Schiffer-Locken, beißender Tabak, Nelken, Patschuli. Sie schwebte schwerelos an Dantes Hand dahin.

Als sie sich unerwartet schnell im Freien wiederfand, verlor sich das Gefühl der Schwerelosigkeit wieder. Dante ließ sie los. Sie folgte ihm durch eine schmale Gasse, die zwischen der Pizzeria und dem Club Hell verlief, bis zu einer Seitenstraße.

Er blieb vor dem MG stehen, den Heather schon kannte und der dort am Bordstein parkte. Heather blieb auf der Beifahrerseite stehen. »Du hast keinen Führerschein«, stellte sie fest.

»Stimmt.« Er öffnete die Tür und glitt auf den Fahrersitz. »Ist das ein Problem?«

Heather öffnete die Beifahrertür, beugte sich vor und sah ins Innere des Autos. »Schließt du deinen Wagen nie ab?«

Dante entgegnete nichts. Er starrte auf etwas, das ans Lenkrad gebunden war. Seine Miene wirkte tief bestürzt. Mit bebenden Fingern band er es los und wickelte es ab. Ein glänzend schwarzer Nylonstrumpf.

Er sah genauso aus wie der, den man um Ginas Hals gefunden hatte.