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CLUB HELL

»Verpiss dich mit deinem Geld und stell dich gefälligst wie alle anderen auch hinten an.«

Heather löste sich aus der Gruppe von Leuten, die sich auf der engen, vollen Straße drängten, fasste nach einem der pferdekopfgekrönten Pfosten aus Messing und zog sich auf den ebenso überfüllten Gehweg.

Sie warf einen Blick auf den Sprecher. Er stand an der Eingangstür des Clubs neben einer Absperrung aus einer stacheldrahtumwickelten Samtkordel, die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen. Neonlicht spiegelte sich in den dunklen Gläsern und erleuchtete den silbernen Halbmond, der unter seinem rechten Auge eintätowiert war. Der Mann war groß, schlank und trug Jeans, wettergegerbte Lederchaps und eine Lederjacke in den Farben der Nomads – was Heather überraschte. Sie hatte noch nie zuvor ein Mitglied eines dieser familienbewussten Clans beim Arbeiten gesehen und schon gar nicht in Diensten eines Clubbesitzers. Zumindest nicht, wenn es um etwas Legales ging. Er hatte sein langes, dunkles Haar zusammengebunden, und ein Bart umrahmte seinen Mund. Auf diesem zeigte sich jetzt ein Grinsen, als er dem Touristen hinterhersah, der verlegen ans Ende der Schlange schlurfte.

Heather überlegte. Hatte sie gerade Reißzähne gesehen, als der Türsteher grinste? Möglicherweise. Sie hatte auf einem von Annies Auftritten erfahren, dass man sich inzwischen für einige Tausend Dollar solche maßgefertigten Fänge implantieren lassen konnte.

Da es schließlich Club Hell war …

Die Leute drängten auf den Bürgersteig. Ellbogen und Schultern rammten sich in Heathers Seiten. Ein besonders heftiger Stoß in die Rippen ließ sie die Arme fester an ihren Körper pressen. Ihr Blick wanderte währenddessen an der Schlange von Leuten entlang, die alle ungeduldig darauf warteten, dass man sie einließ.

Die Mehrheit bildeten Goths – schwarz gefärbte Haare, bleiches Make-up, schwarzer Lippenstift und Kajal. Männer und Frauen. Einige der jungen Männer schienen sich für Brad Pitt oder Tom Cruise aus diesem Vampirfilm zu halten: langes Haar, Rüschenhemden, Samtjacketts und Stöcke mit Silberknauf. Die jungen Frauen hatten sich in figurbetonte Gummi-oder Lederkleider gequetscht oder trugen dunkle Samtminiröcke mit Netz- oder Seidenstrümpfen.

Dazwischen waren ein paar Farbtupfer zu sehen: Jugendliche in Jeans und T-Shirts, die Haare im Igelschnitt oder als verknotete Dreadlocks. Andere hingegen – wie der zurechtgewiesene Tourist – waren wohl vor allem aus Neugier gekommen.

Als Heather an dem zweistöckigen Gebäude mit den schwarzen schmiedeeisernen Balkonen hochsah, entdeckte sie im ersten Stock Vorhänge, die in der nächtlichen Brise aus der geöffneten Balkontür wehten. Drinnen flackerte einladend der Widerschein einer oder mehrerer Kerzen.

Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge, vorbei an den Nachtschwärmern, die nach Bier, Patschuli und Schweiß stanken, bis sie zum Türsteher gelangte. Dort betrachtete sie die unauffällige Tür, an der es keinen Hinweis darauf gab, dass sich dahinter ein Club befand.

Der Regen hatte sich inzwischen in ein kühles Tröpfeln verwandelt. Wassertropfen hingen auf Heathers Gesicht und in ihrem Haar und rannen über ihren Trenchcoat. Wie in Seattle, dachte sie. Sie steckte die Hand in die Tasche und umfasste ihre FBI-Marke.

Eine Punk-Queen in einer karierten Hose mit Bondagebändern ließ sich gerade von dem Türsteher auf Waffen abtasten. Sie trug ein zerrissenes schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift »Eats your Dead«, das an den Seiten mit Sicherheitsnadeln zugehalten wurde. Die vernarbte Hand des Mannes hielt am Aufschlag ihres linken Hosenbeins inne. Er fasste weiter nach unten in ihren Stiefelschaft und holte ein Springmesser heraus.

»Böses Mädchen«, sagte er gespielt vorwurfsvoll und zog eine Braue hoch. Er hielt die glänzende Klinge wie ein Profi in der Hand und ließ sie einen Augenblick lang zwischen den Fingern kreisen, ehe er sie in die Tasche seiner Lederjacke schob.

Die Punk-Queen schlug sich mit einer tätowierten Hand gegen die Stirn. Ein schuldbewusstes Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen. »Mann, Von. Hatte ich ganz vergessen. Tut mir leid.«

»Klar«, antwortete er. »Kannst es zurückhaben, wenn du wieder rauskommst. Rein mit dir.«

Heather merkte sich den Namen des Mannes. Sie stand auf dem Bürgersteig, etwa einen Meter von ihm entfernt, und merkte, dass er sich ihrer Gegenwart bewusst war. Sie sah es an der verräterischen Entspanntheit seiner Haltung und der absichtlichen Weigerung, sie auch nur eines Blickes zu würden. Na gut. Für den Augenblick war sie noch mit der Rolle der Beobachterin zufrieden.

Nach einigen Augenblicken drehte sich der Türsteher jedoch zu Heather um und neigte den Kopf, um sie zu begutachten. »Okay, Kleine«, sagte er schließlich grinsend und ließ erneut die Reißzähne aufblitzen. »Was kann ich für dich tun?«

»Special Agent Wallace«, antwortete Heather kühl und trat neben ihn. Sie zog ihre Marke und klappte sie auf – allerdings so, dass nur er sie sehen konnte. »Ich untersuche den Mord im Nachbarhof.«

Der Türsteher schüttelte den Kopf. »Die Bullen waren schon hier, Süße.«

Heather hielt noch immer ihre Marke in der Hand, als sie zu den hinter der Sonnenbrille verborgenen Augen des Nomads hochblickte. Ihr doppeltes Spiegelbild sah ihr entgegen: nasses Gesicht, zusammengebundene Haare, das Schimmern des Regens auf ihrem Mantel. »Ich möchte mit Dante Prejean sprechen. «

Mit einem Achselzucken richtete der Türsteher seine Aufmerksamkeit auf eine Goth-Prinzessin, die vor ihm stand, ihr Gewicht ungeduldig von einem Bein auf das andere verlagerte und ihren rotgeschminkten Mund zu einem Schmollen verzog. »Könnte im Club sein oder auch nicht«, sagte er. »Das weiß man nie.«

Seine Hände hatten begonnen, über die in Samt gekleideten Kurven der Goth-Prinzessin zu wandern. »Kannst rein, Kleine«, sagte er schließlich. Er warf Heather einen Blick zu. »Sie auch. Ich bezweifle allerdings, dass das Ihre Szene ist …«

»Wie heißen Sie mit Nachnamen, Von?«

Er zog erneut eine Braue hoch und brummte: »Scharfe Ohren.« Dann zuckte er mit den Achseln. »Smith. Vielleicht auch Jones. Mutter hat da etwas den Überblick verloren. Aber wenn Sie es herausfinden sollten, Puppe …«, fügte er hinzu und musterte Heather über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg, wobei seine grünen Augen zu glühen schienen, »… dann können Sie es mich ja wissen lassen.«

»Darauf können Sie wetten«, antwortete Heather.

Der Türsteher sah der FBI-Agentin hinterher, als diese im Club verschwand.

Gesetzesvertreterin auf dem Weg. Adretter Trenchcoat mit entschlossenem Blick.

Wie immer schien Luciens Bewusstsein sehr beschäftigt zu sein, genau strukturiert, fremd. Aber auch offen. Von spürte, wie auf einmal jegliche Aktivität verebbte und Lucien kurz darauf seine Gedanken empfing. Sucht Dante.

Luciens Gedanke schoss pfeilschnell und mit einer solchen Intensität in Vons Bewusstsein, dass es ihn wie immer ein wenig verunsicherte – vor allem, wenn er bedachte, dass Luciens Antwort diesmal sanft ausfiel.

Sie wird mit mir vorliebnehmen müssen.

Das musste reichen. Bisher hatte es schon zwei Überraschungen gegeben, und die Nacht war noch jung. Die Agentin war bereits Numéro deux. Ein fremdes Nachtgeschöpf war Numéro un gewesen – ein bärtiger Schwarzer in Jeans, heraushängendem Jeanshemd mit Perlmuttknöpfen und Schlangenlederstiefeln, begleitet von einem Sterblichen, der etwas von einem Geek hatte.

»Ist mir eine Ehre, Llygad«, hatte der Fremde gesagt, als ihn Von nach Waffen abgetastet hatte. Doch seine starre Körperhaltung hatte im krassen Gegensatz zu dieser so locker klingenden Äußerung gestanden.

Genau wie übrigens auch das amüsierte Grinsen seines Kumpels.

Von wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Schlange vor ihm zu. Er lächelte zwei attraktiven jungen Dingern zu, die sich aneinanderklammerten, lachten und ihn mit drogenerweiterten Pupillen anhimmelten. Er konnte sie wittern – Sandelholz, Vanille und ein beißendes chemisches Aroma. Einen Augenblick lang lauschte er dem Rauschen des Blutes in ihren Adern.

Mit einer angedeuteten Verneigung nahm er dann die Samtkordel vom Haken und winkte die beiden durch. Die Erste – mit honigblondem Haar und dunklen Augen – fasste nach seiner Hand und küsste sie. Der Druck ihrer weichen, warmen Lippen war noch einen Augenblick auf Vons Haut zu spüren, als sie ihn bereits nicht mehr berührte. Ihr Kuss lief seinen Arm hinauf und kribbelnd sein Rückgrat hinunter.

Sie sah ihn mit einem bewundernden Blick an. »Nachtgeschöpf«, seufzte sie betört und warf ihm eine Kusshand zu, ehe ihre kichernde Freundin sie am Arm nahm und in den Club führte.

In Von regte sich der Hunger. Der verführerisch-warme Vanilleduft der Sterblichen lockte ihn. Er holte tief Luft und tastete den nächsten Wartenden ab. Währenddessen suchte er die wogende Menge nach jemandem ab, der nicht hierhergehörte. So wie diese Agentin. Agenten arbeiteten selten allein – das wusste er.

Er verdrängte seinen Hunger. Er musste konzentriert bleiben. Dies war keine Nacht, um von warmer Haut, heißem Blut und erotischem Gekicher zu träumen. Nicht, wenn sich eine FBI-Agentin im Club befand – und ein fremdes Nachtgeschöpf.

 

Ginas Kopf ruhte an Dantes Schulter, als er in ihren weißen Hals biss. Blut – heiß, üppig und kokaindurchsetzt – tropfte ihm in den Mund. Er nahm es bedächtig zu sich, in genau bemessenen Schlucken. Währenddessen ließ er seine Hand in ihr aufgeschnürtes Korsett gleiten und begann, ihre feste, warme Brust zu liebkosen. Ihre Brustwarze wurde bei seiner Berührung sogleich hart. Sie stöhnte und keuchte. Dante legte den Arm um ihre Taille und presste sie noch enger an sich.

Gina drückte den Rücken durch, und Dante blickte hinunter zu der Stelle, wo Jay am Boden vor dem Bett kniete und seine Hände unter Ginas nackten Hintern geschoben hatte. Das Gesicht hatte er zwischen ihren Schenkeln vergraben.

Dante merkte, wie sich etwas in ihm regte und er hart wurde. Er schloss die Augen und trank. Ginas Stöhnen nahm an Häufigkeit und Dringlichkeit zu. Er lauschte dem leisen Scheuern ihrer halterlosen Strümpfe auf dem Chenille der Tagesdecke, horchte auf Jays dumpfen Atem, hörte Ginas pochendes Herz und das Knirschen seiner eigenen Lederhose, als er sich auf der Matratze bewegte.

Eine tonlose Stimme – ein wortloses Lied – drang in seine brennenden Gedanken und rüttelte ihn auf, so dass er einen Moment lang den berauschenden Geschmack von Ginas Blut vergaß. Sorge drang flüsternd in sein Bewusstsein.

Dante öffnete die Augen und starrte ins von Kerzen und Neonlicht erhellte Zimmer.

Lucien?

Bleib, wo du bist, Kind. Trink. Spiel mit deinen Tayeaux.

Dante hob den Kopf von Ginas Hals. Sie sah mit halb geschlossenen Lidern verwirrt zu ihm auf. Dann keuchte sie erneut, als Jay einen Finger in sie schob. Ihre Augen schlossen sich wieder.

Was ist los?

Nichts, sendete Lucien. Es geht nur um etwas Geschäftliches.

Jäh bohrte sich ein scharfer Schmerz in Dantes linke Schläfe. Ihm stockte der Atem, als er heftiger wurde und dann verschwand. Angespannt hielt Dante Gina eng an sich gepresst, schloss die Augen und lauschte ihrem unregelmäßigen Atem, während Jay sie dem Höhepunkt näher brachte. Er lauschte Gina und blendete alles andere aus.

Auch das Flüstern, das der bohrende Schmerz in seinem Inneren zurückgelassen hatte.

Heather lief durch einen brechend vollen Gang mit schwarz gestrichenen Wänden und fluoreszierendem Graffiti. Aus dem Augenwinkel las sie einige der Sprüche, die dort standen: »Inferno rules!« oder »Randy Schwanzlutscher« oder auch »Wir sterben jung«.

Die Clubbesucher standen an beiden Seiten des Gangs. Viele hielten Gläser in den Händen, rauchten – die glimmenden Zigaretten leuchteten rot auf, wenn sie daran zogen –, küssten oder begrapschten einander. Der süßliche Geruch von Gewürznelken, Hasch und Wein mischte sich auf unangenehme Weise mit dem Gestank von Erbrochenem und aufdringlichen Parfums.

Schwarzlicht schimmerte auf nackten männlichen Oberkörpern ebenso wie auf entblößten, mit Glitzerstaub bestäubten Brüsten. Es spiegelte sich in zahlreichen Brustwarzen-Piercings, NightGlo-Tattoos und fluoreszierender Körperbemalung.

Musik erschütterte den Gang wie ein Vorschlaghammer, so dass Heather bedauerte, ihre Ohrstöpsel in Seattle gelassen zu haben. Wusste ja nicht, dass ich hier auf die Piste gehen würde.

Heather musterte ein Gesicht nach dem anderen und fragte sich, ob wohl der Mörder unter den Clubbesuchern weilte, während sie sich einen Weg durch die Menge zum eigentlichen Eingang des Clubs bahnte. Ein leuchtend rotes Neonschild hing über der breiten Tür.

 

BRENNE

 

Heather blieb unter der flackernden Schrift stehen, als Trockeneisnebel um ihre Beine zu wabern begann. Was war, wenn sie sich irrte? Was war, wenn die Wahl des Hinterhofs des Da Vincis und die Tatsache, dass dort etwas an der Mauer stand, ein bloßer Zufall war?

Sie glaubte nicht an Zufälle. Also ging sie unter dem Schild hindurch und betrat die Hölle.

 

Lucien stand hinter Dantes steinernem Thron mit der Rückenlehne in Form von Fledermausflügeln und ließ seinen Blick von dem schwarzen fremden Vampir mit Bart und seinem bleichen sterblichen Freund an der Bar zum Eingang wandern, um zu beobachten, wer den Club betrat.

Silver und Simone saßen auf den Stufen, die zum Thron hinaufführten, steckten die Köpfe zusammen, redeten und lachten. Die Menge hinter ihnen hüpfte und wogte zu der Musik, die aus dem Käfig dröhnte.

Warum fragte das Gesetz schon wieder nach Dante? Die Polizei war längst hier gewesen, um sie über den Mord im Hof nebenan zu befragen. Seine Hände umfassten die Rückenlehne des Throns, und der Stein fühlte sich unter seinen Fingern bröcklig an.

Noch verstörender war der bohrende Schmerz, den er einige Minuten zuvor von Dante empfangen hatte. Doch er hatte keine Zeit, um zu ihm zu gehen und ihn zu fragen, was los war. Keine Zeit, um den Schmerz zu lindern – nicht einmal kurzfristig.

Steinstaub rieselte von Luciens Fingern auf die schwarzen Samtkissen. Er nahm die Hände vom Thron. In diesem Augenblick entdeckte er die Frau unter der Eingangstür. Mit einer Hand hielt sie den Riemen ihrer Handtasche fest, die über ihrer Schulter hing. Lucien bemerkte, dass eine Seite ihres Trenchcoats ein klein wenig tiefer hing als die andere. »Bewaffnet«, dachte er.

Adretter Trenchcoat mit entschlossenem Blick. Eine korrekte Beschreibung. Lucien musterte ihr regennasses, tiefrotes Haar, ihre feingliedrige Figur, ihre selbstbewusste Haltung. Wirklich korrekt.

Jetzt muss ich sie nur noch loswerden.

Er kam hinter dem Thron heraus und ging die Treppenstufen hinunter.

 

Die tanzende, zuckende Menge auf der Tanzfläche erregte als Erstes Heathers Aufmerksamkeit. Eine Band spielte in einem riesigen Käfig aus Stahlrohren, während das Publikum versuchte, zu ihr durchzudringen und irgendwie durch das Gitter zu gelangen. Einige kletterten auf den Käfig und fassten hinein, um einen Arm oder eine Haarsträhne zu erwischen. Ohne auch nur einen Ton zu versäumen, spielte die Band ungerührt weiter und wich dabei immer wieder geschickt den Händen aus.

Eine junge Frau, die auf dem Drahtdach des Käfigs stand, breitete die Arme aus, warf den Kopf zurück und trat dann einen Schritt nach vorn ins Leere. Die Menge fing sie auf. Während sie von Hunderten von Händen weitergereicht wurde, glitten manche davon unter ihren Rock und ihr Oberteil und tasteten sie ab, bis man sie schließlich irgendwo wieder auf die Füße stellte.

Heather zwang sich, sich zu entspannen. Sie ließ den Blick von den wilden Tänzern zu den kleinen runden Tischen mit den Kerzen wandern, die überall im Club verteilt waren. Gleich zu ihrer Linken gab es eine lange, poliert schimmernde Bar und direkt vor ihr einen … einen Thron.

Der Thron mit den Fledermausflügeln stand auf einem Podest, das man über vier Treppenstufen erreichte. Ein Pärchen kauerte auf der obersten Stufe. Beide sahen in ihre Richtung und starrten sie an.

Der Junge war attraktiv, punkig hergerichtet und viel zu jung, um schon in diesem Club sein zu dürfen. Ein halbleeres Glas Wein stand neben ihm auf der Treppenstufe. »Sechzehn?«, fragte sich Heather in Gedanken. Die Frau hatte die Arme um die Knie geschlungen. Ihr langes, lockiges Haar schimmerte golden auf ihrer schwarzen Strumpfhose. In ihren Augen und denen des Jünglinges schien sich das wenige Licht, das es im Club gab, auffallend stark widerzuspiegeln.

Eine Bewegung oberhalb der beiden erregte Heathers Aufmerksamkeit. Ein großer, athletischer Mann in einem weißen, langärmeligen Oberhemd und einer schwarzen Hose kam hinter dem Thron hervor und eilte die Stufen in zwei großen Schritten hinab. Eine Kette oder ein Anhänger funkelte geheimnisvoll um seinen Hals. Als er durch die Menge ging, teilte sich diese vor ihm, ohne dass er etwas hätte sagen müssen. Die Leute beobachteten ihn mit Blicken, die Heather nur als ehrfürchtig bezeichnen konnte.

Sie betrat den Raum und wartete neben der Eingangstür auf ihn. Gewiss war das Lucien De Noir. Als er näher kam, merkte sie, dass er außerordentlich groß war. Einen Meter fünfundneunzig? Oder gar zwei Meter? Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, entschlossen, jeden ihrer hundertsechzig Zentimeter zum Einsatz zu bringen.

»Guten Abend«, sagte er und blieb von Heather stehen. »Ich bin Lucien De Noir, der Eigentümer dieses Clubs. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Heather sah ihm in die Augen. Sein schwarzes Haar war zusammengebunden, und seine Kleidung wirkte sauber und frisch. Ein X aus Sterlingsilber mit rauen Rändern hing an einer schwarzen Kordel knapp unterhalb seiner Drosselgrube. Er strahlte Autorität und Stärke aus. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Ein anziehender Mann, dachte Heather, der offenbar wusste, wann er charmant sein musste.

Sie klappte ihre FBI-Marke auf, zeigte sie ihm und erwiderte sein Lächeln. »Ich bin Special Agent Wallace und würde gern mit Dante Prejean sprechen. Soweit ich weiß, ist das sein Club – oder?«

De Noir begutachtete ihre Marke eingehend, ehe er ihr zu verstehen gab, dass sie sie wieder wegstecken konnte. »Er heißt einfach Dante«, erklärte er mit einer tiefen, sonoren Stimme, »und leider sind Sie falsch informiert. Außerdem ist Dante heute nicht hier.« De Noirs Lächeln wurde wärmer. In den Tiefen seiner Augen blitzte es golden. »Vielleicht kann ich Ihnen ja weiterhelfen.«

»Wissen Sie etwas über den Mord nebenan? Oder das Opfer?«

De Noir schüttelte den Kopf. »Nur, was ich von der Polizei und auf der Straße gehört habe.« Das goldene Licht in seinen Pupillen verschwand. »Ich kann mir vorstellen, dass Dante noch weniger weiß. Er schaut keine Nachrichten.«

»Jedenfalls sieht es nicht so aus, als hätte der Mord Ihrem Geschäft geschadet«, meinte Heather und lächelte erneut. »Gibt es eventuell einen ruhigeren Ort, an dem wir uns unterhalten könnten?«

»Den Hof draußen«, antwortete De Noir, drehte sich um und bahnte sich erneut einen Weg durch die Menge. Sein zusammengebundenes Haar reichte schwarz und schimmernd bis zu seiner Taille hinab.

Heather wusste, dass es im ersten Stock des Gebäudes eine Art Büro geben musste. Sie fragte sich, warum er sie stattdessen nach draußen führte. Doch zur Abwechslung hatte sie gegen diese Behandlung nichts einzuwenden. Schließlich wollte sie sowieso den Hinterhof sehen, der an Da Vincis anschloss.

Heather steckte also ihre Marke wieder ein und folgte De Noir über die Tanzfläche durch die sich erneut teilende Menge nach draußen.

 

Dante löste sich behutsam von Gina und glitt zum Rand des zerknitterten Bettes. Die schwarzen Spitzenvorhänge, die die Balkontür einrahmten, blähten sich in der kühlen nächtlichen Brise. Der Duft von Regen und Mississippi-Schlamm erfüllte das Zimmer. Dante fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

Jay, der noch immer neben dem Bett kniete und dessen Hände auf Ginas Schenkel ruhten, musterte ihn voller Neugier.

»Was ist los, Süßer?«, fragte Gina und setzte sich auf.

Dante musste Gina nicht ansehen, um zu wissen, dass sie den Mund zu einem Schmollen verzogen hatte. »Ich muss gehen«, erläuterte er. Kerzenlicht flackerte orangefarben an den düsteren Wänden und spiegelte sich auf seiner Lederhose und seinen Stiefeln. In seinem Kopf stach der Schmerz.

Ginas Finger legten sich um Dantes Gürtel und hielten ihn fest. Sie zog spielerisch daran. »Sieht so aus, als wärst du ziemlich erhitzt und erregt. Sieht so aus, als ob du besser hierbleiben solltest«, flüsterte sie. »Leg dich wieder hin, wir …«

Sanft löste er Ginas Finger von seinem Gürtel und stand auf. Er schüttelte den Kopf. »Später. Spielt erst mal ohne mich weiter.«

»Dante, mon cher …« Jay ließ Ginas Schenkel los und streckte die Hand nach ihm aus.

Dante schob sie sanft beiseite, fasste dann in das blonde Haar des Sterblichen und zog dessen Kopf zurück. Jays Atem kam keuchend und unregelmäßig. Dante beugte sich nach unten und küsste ihn leidenschaftlich. Ginas Geschmack aus Honig, Moschus und Salz auf Jays Zunge und Lippen hätte Dante beinahe dazu gebracht, seine Meinung zu ändern. Aber gleichzeitig hatte ihn große Rastlosigkeit erfasst. Er konnte nicht bleiben.

Also löste er sich von Jays Lippen, ließ dessen Haar los und fuhr mit einem Finger seine Kinnlinie entlang, dann richtete er sich wieder auf und durchquerte das Zimmer. Er hörte, wie Gina Jay riet, ihn in Ruhe zu lassen.

Im Flur lehnte sich Dante einen Augenblick lang an die Wand. Mit geschlossenen Augen schlug er leicht mit dem Kopf gegen den Putz. Er wartete, bis sein Penis wieder schlaffer wurde und wünschte sich, die düsteren Tentakel in ihm würden sich ebenfalls beruhigen. Aber er wusste, dass dem nicht so sein würde. Bohrende Schmerzen hämmerten erneut gegen seine Schläfen.

Scheiße! Konzentrier dich, verdammt. Irgendwas bedrückt Lucien. Konzentrier dich darauf.

Aber Luciens Schilde waren hochgefahren, und er konnte nicht zu ihm durchdringen. Es schien in der Tat fast, als wolle Lucien ihn absichtlich draußen halten. Frustriert öffnete Dante die Augen und stieß sich von der Wand ab.

 

Heather warf einen Blick auf die Leute, die auf den Stufen saßen, während sie sich hinter De Noir einen Weg durch die Menge bahnte. Die Clubgäste beobachteten sie mit etwas, das fast an Eifersucht grenzte. Oder zeigte sich in ihren weiß gepuderten Gesichtern nur Ungläubigkeit? De Noir schob sich an ihnen vorbei, scheinbar ohne ihre bewundernden Blicke und die halb geöffneten Augen zu sehen oder auch nur ihr Geflüster wahrzunehmen:

»Lucien! Wird er uns beehren?«

»Kommt er herunter?«

»Lucien Nachtbringer. Lucien …«

Ernst, verzweifelt, hungrig.

Heather ging an den ausgestreckten Händen vorbei. De Noirs Schweigen verwirrte sie. Sie fragte sich, warum er nichts sagte, warum er die jungen Leute keines Blickes würdigte.

Er trat beiseite und öffnete die Tür zum Innenhof, ehe er Heather bedeutete, als Erste hinauszugehen. Sie schaute in das efeubewachsene Karree. Beschirmt von gargoylenverzierten Fackelhaltern war es in ein unheimliches Fackellicht getaucht.

Ihr Blick irrte zu der Steinmauer gegenüber, an der der Mörder seine Botschaft in Blut hinterlassen hatte. Für einen Augenblick sah sie vor ihrem inneren Auge, wie das Blut durch den Stein drang und die Buchstaben seitenverkehrt zeigte. Ihr Bauchgefühl sagte ihr eindeutig: Das war kein Zufall gewesen. Diese Mauer war bewusst gewählt worden.

Sie wollte gerade in den Hof treten, als sich ein plötzliches Flüstern seinen Weg durch die Menge hinter ihr bahnte wie Wind durch hohes Gras. Sie hielt inne. Die sehnsüchtigen Stimmen verstummten. Die Luft schien schwerer zu werden und vor Spannung und Erregung zu knistern.

Heather sah De Noir an. Seine Miene war regungslos, sein Blick wirkte undurchdringlich. Doch seine Muskeln waren angespannt. Er sah sie an und schien sie dazu anhalten zu wollten, endlich in den Hof zu gehen. Langsam drehte sich Heather um und sah in die Richtung, aus der sie gekommen war.

Jemand schritt die Treppe herab und trat aus dem Schatten des Absatzes im ersten Stock. Es kam Heather vor, als hielten alle im Club gleichzeitig den Atem an.

Dann trat die Gestalt ins Licht und sah mit funkelnden Augen über die Köpfe der Menge hinweg zu Heather oder vielleicht auch zu De Noir neben ihr. Auf einmal war auch sie nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen oder auch nur Luft zu holen – bis die Menge wie aus einem Mund wieder ausatmete. Jetzt waren viele Stimmen zu vernehmen:

»Dante! Dante! Mon ange!«

»Ja! Hoffentlich tritt er heute noch im Käfig auf!«

Heather starrte den Mann überrascht und mit einem gewissen Schwindelgefühl an, während er die letzten Stufen herabkam. Sie war von dem überwältigt, was sie gesehen hatte, als er in ihre Richtung blickte …

Schwarze, lichtdurchflutete Augen hatten tief in die ihren geblickt und sie magisch angezogen …

Schmal, athletisch, einen Meter siebzig oder fünfundsiebzig groß, mit einer gefährlichen, unbewussten Eleganz der Bewegungen – alles angespannte Muskeln und blitzschnelle Reflexe …

Zerzaustes schwarzes Haar, das ihm über die Schultern fiel, in Leder und Netzstoff gekleidet, ein Stahlkragen um den Hals. Eine Erotik, die einen geradezu verbrannte …

Sie riss sich von seinem Anblick los und beobachtete stattdessen die Gesichter derer, die seinen Namen riefen, sah ihr Lächeln und ihre Tränen, während er hier über ein Kinn strich, dort eine Wange berührte, da einen Kuss auf sehnsüchtige Lippen drückte.

Dann trat er in die Menge und verschwand aus Heathers Blickfeld. Sie rang nach Luft. Jetzt war sie wieder in der Lage, normal zu atmen.

Wenn das Dante Prejean gewesen war, dann war er wortwörtlich atemberaubend. Sie hatte noch nie zuvor einen so anziehenden Mann gesehen. Dantes Auftauchen bedeutete allerdings auch, dass De Noir sie belogen hatte, was seine Abwesenheit betraf. Sie drehte sich wieder zu dem großen Mann um und stellte fest, dass er sich den Nasenrücken massierte und auf den Boden starrte. Er wirkte wie jemand, der plötzlich erkennen musste, dass Murphys Gesetz mal wieder zugeschlagen hatte – und zwar ziemlich schmerzlich.

»Komisch, ich war sicher, Sie hätten gesagt, Dante wäre heute Abend nicht hier«, meinte Heather. »Muss wohl gerade erst angekommen sein.«

De Noir ließ die Hand sinken. »Ja, scheint so«, antwortete er und sah zu Heather herab. »Die Polizei hat schon mit ihm gesprochen, Agent Wallace. Ich sehe keinen Grund …«

»Tut mir leid«, unterbrach ihn Heather. »Ich schon.«

Sie warf erneut einen Blick über die Schulter. Dante stieg gerade die Stufen zu dem geschmacklosen Höllenreich-Thron hinauf. Er kniete sich zwischen den hübschen minderjährigen Punker und die erdverbunden wirkende Blondine und strich über das violette Stachelhaar des Jungen. Dann beugte er sich zu der Frau hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Einige Goth-Prinzessinnen am Fuß der Stufen begannen erregt hochzuhüpfen und zu kreischen.

Warum stellte sich De Noir so ostentativ vor Dante Prejean ? Was verbarg er?

Heather riss sich von De Noirs seltsam schwarzen, goldumrandeten Augen los und tauchte in die Menge. Sie hatte vor, es herauszufinden.