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IM STRUDEL DER EREIGNISSE

E schlich den Gang zu Tom-Toms Zimmer entlang. Er drückte sich gegen die geschlossene Tür. Schlief Tommy-Boy noch? Die Sonne war noch nicht untergegangen, der graue Nachmittag zog sich hin, und draußen goss es in Strömen aus einem griesgrämigen Himmel.

E horchte. Nichts. Nicht mal ein Schnarchen. Schnarchten Vampire überhaupt? War er überhaupt da drinnen? Oder stand er hinter ihm? Beobachtete ihn? Feixte? E wirbelte mit pochendem Herzen herum, die Klingen gezückt.

Nichts.

Er stand reglos da und starrte den leeren Flur entlang zu dem schmutzigen Licht, das durch das vordere Fenster hereinfiel. Allmählich verlangsamte sich sein Herzschlag wieder. Mit einer raschen Handbewegung ließ er die Messer wieder in ihre Scheiden an seinen Handgelenken schnellen.

Dann wandte er sich wieder der geschlossenen Tür zu. Noch immer kein Schnarchen. Wenn er da drinnen war, schlief er tief. Wenn nicht, musste sich E wegen Lärm keine Gedanken machen. Seine Finger schlossen sich um den kühlen Messingknauf, und er drehte ihn.

Ronin lag wie ein Toter auf dem Bett. Völlig bekleidet. Er atmete nicht. Die Arme lagen ausgestreckt neben dem Körper. Seine Augen waren halboffen, aber man konnte nur seine weißen Augäpfel sehen. E zitterte. Ihm lief es heiß und kalt über den Rücken, als sei er in einen Ameisenhügel getreten. Er unterdrückte den Wunsch, sich zu schütteln und abzuklopfen.

Er kniff die Augen zusammen. Ronin atmete doch, nur sehr flach und kaum wahrnehmbar.

E betrat das Schlafzimmer, den Blick auf Ronins ausgestreckte Gestalt gerichtet. Er hielt den Atem an. Nichts. Er ging noch weiter hinein.

Vorsichtig umrundete er das Bett und neigte den Kopf zur Seite. Trauernder betrachtet Leichnam. Wieder umkreiste er ihn. Ein Messer durch den Hals würde reichen. Es würde den Vampir vielleicht nicht töten, aber das ganze Blut, das dann herausströmen würde, käme Ronin sicherlich sehr ungelegen.

Warum hatte Ronin die Tür nicht verriegelt? Hielt er von Es Fähigkeiten, seinem Werk, so wenig, dass er sich in Sicherheit wähnte? Dachte er, er hätte ihn im Griff? Glaubte er, er würde dem guten alten E auch schlummernd locker beikommen?

Mit verspannten Muskeln und einem wütenden Lodern in seinem Inneren ließ E die beiden Messer herausschnellen. Er schob sich noch näher ans Bett. Ronins Gesicht wirkte fast so glatt wie das eines Kindes, obwohl er angeblich Jahrhunderte alt war.

Wie lange würde es dauern, ihn zu töten? Ihn ein für alle Mal zu Staub zerfallen zu lassen?

Er beugte sich über Ronin und hielt ein Messer an den weichen Hals, als ihm die Akten einfielen. Er zögerte, gierig darauf zuzustoßen. Er brauchte die Akten – seine und Dantes. Er musste herausfinden, wo diese verdammte Bad-Seed-Mutterkuh steckte. Er musste ihren Namen erfahren und den Grund für das alles.

Er wollte auch mehr über Dante wissen – seinen kleinen Bad-Seed-Bruder, seinen Seelenverwandten. Er musste mehr erfahren, als ihm dieser Widerling Tom-Tom bisher mitgeteilt hatte. E beschwor Dantes Bild vor sein geistiges Auge, doch statt seiner sah er nur die Lust in Heathers Augen, während sie seinen Körper musterte. Er zitterte, das Messer schwebte noch immer über Ronins Hals. Sein Blut kochte, so sehr wollte er beide. Doch er wusste, er konnte nur einen von beiden haben.

E zwang sich, sich abzuwenden. Er richtete sich auf und steckte die Klingen wieder weg. Das Tageslicht brannte. Er umrundete noch einmal das Bett und durchsuchte auf der anderen Seite das Nachttischchen, wo er vorsichtig die Schubladen aufzog. Nichts.

Er trat zur Kommode und öffnete auch dort jedes Schubfach. Gefaltete Kleidungsstücke, Unterhosen – aus Seide –, zusammengerollte Socken, aber keine Akten. E stieß die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch und lehnte sich gegen die Kommode. Einen kurzen Augenblick lang hatte er die Unterlagen in New York gesehen – ein Ordner voller Berichte, Fotos und CDs. Tommy-Boy hatte auch eine Schachtel voller besonderer Dinge – besonderer Dinge für Dante – gehabt, falls er ihn bändigen musste.

E wandte sich zum Schrank, doch als er im Augenwinkel etwas Goldenes aufblitzen sah, hielt er inne. Er ging in die Hocke und sah unter das Bett. Dort lag Dantes hübscher Goth-Junge zusammengerollt auf dem Boden, versteckt zwischen den Staubmäusen und den Schatten, die Augen geschlossen, das Gesicht kreidebleich. Die Handgelenke waren gefesselt. Ein Fußknöchel war an das Bett gekettet.

E grinste. Tommy hatte also sein Versteck durchsucht und sich ein Spielzeug mitgebracht. Einen Imbiss und ein Spielzeug. Hatte Tom-Tom etwa vor, Dante den Goth-Jungen wie einen Blutbeutel unter die Nase zu halten? Oder wollte er E noch einen holen schicken?

E kroch zum Schrank, verwirrt vom blonden Haar des Goth-Jungen, und stellte sich vor, dass es wie Goldfaden gesponnen war, ein schimmerndes Knäuel, das die Wärme seiner Hände suchte.

Er öffnete den Schrank. Dort standen neben Tom-Toms Stiefeln und teuren Slippern mehrere abgegriffene Pappkartons. Neben den Kisten lag eine schwarze Mappe mit Reißverschluss.

E durchsuchte die Boxen mit zitternden Händen und trockenem Mund, bis er die Akten mit den Buchstaben E und S gefunden hatte. Er klemmte sie sich unter den Arm, nahm die schwarze Mappe und schloss die Schranktür. Dann drehte er sich auf Knien erwartungsvoll um. Er hoffte, Gold zu sehen, entdeckte stattdessen jedoch nur eine leblos wirkende blonde Strähne.

Soll Tom-Tom ihn haben, dachte er und erhob sich. So würde er wahrscheinlich nicht so schnell merken, dass etwas fehlte, da er viel zu sehr mit seinem Spielzeug beschäftigt war.

E verließ das Zimmer und schloss so lautlos wie möglich die Tür hinter sich. Er lief durch den Flur und zur Haustür hinaus in den späten Nachmittag.

Er hatte viel zu tun.

 

Wespen krochen über Dantes Körper, deren dicke Unterleibe sich krümmten, während sie mit ihren Stacheln Gift in sein Fleisch jagten. Gelähmt vom Schlaf und gefangen in einem aus Alpträumen gesponnenen Netz konnte er sich nicht bewegen, nicht aufspringen und die Unzahl geschäftiger Wespen verscheuchen, nach ihnen schlagen. Gift drang unter seine Haut, schlängelte sich in seine Adern, troff in sein Herz.

Eine Stimme übertönte das schrille Surren der Wespen: Dante, mein Engel? Alles in Ordnung?

Er brannte.

Eine Wespe kroch in sein Nasenloch. Eine andere drängte sich zwischen seine Lippen und kratzig in seine Kehle. Stachel bohrten sich in seine Lider, doch er schwieg. Schreien bedeutete Zwangsjacke und Fesseln. Schreien bedeutete Sonnenlicht, das auf einen Holzboden schien.

Seine Lider schwollen an und wurden immer dicker. Sein Herz raste in seiner Brust. Sein Rachen schwoll zu. Er bekam immer weniger Luft. Seine Lunge brannte.

Er blieb stumm.

Fenster umgaben ihn. Einige konnte er kaum sehen, ihre Formen waren verschwommen, das Glas verzogen. Er schaute mit klopfendem Herzen weg – Siehnichthinsiehnichthinsiehnichthin . Einige der Fensterscheiben kräuselten sich wie Wasser, wenn der Wind mit ihm spielte, und er sah hin, obwohl er wusste, dass es falsch war.

Ein brennendes Haus.

Ein lachendes kleines Mädchen mit rotem Haar, einen Orca aus Plüsch in den Händen.

Ein metallener Untersuchungstisch mit zahllosen Fesseln.

Eine lächelnde Frau mit entblößten Reißzähnen, die nach ihm griff.

Dante versuchte sich zu bewegen, aber das Gift und der Schlaf hielten ihn fest. Schweißperlen liefen ihm über die Schläfen.

Dante, mein Engel?

Eine Stimme – jung, leise und vertraut – hallte in ihm wider und drückte auf sein Herz. Schmerz loderte in seinem Inneren und setzte seine Gedanken in Flammen. Wenn er still blieb, könnte sie überleben. Doch sogleich folgte eine andere Überlegung: Wenn er nicht aufsprang, würde sie sterben.

Der frische Duft von Regen und Salbei drang in sein Bewusstsein, und für einen kurzen Moment vergaß er den Schmerz, vergaß seinen bevorstehenden, unwiederbringlichen Verlust.

Für einen Moment war sie nie gestorben.

Für einen Moment hatte er sie nie umgebracht.

Dann übergoss ihn die Wahrheit mit Benzin und zündete ein Streichholz an.

Er schrie.

 

Ronin lief den Flur zum Wohnzimmer entlang. Hinter dem Fenster schimmerte eine sternenklare Nacht. Er nahm sein Mobiltelefon und wählte die Nummer seines Kontaktes bei der Polizei New Orleans.

»LaRousse.«

»Thomas Ronin. Ich habe letzte Nacht einer interessanten Unterhaltung zwischen einem Vampir namens Etienne und Dante Prejean beigewohnt. Es sieht aus, als hätte Etienne etwas gegen Dante.«

»Das kann man wohl sagen«, antwortete LaRousse. »Eines Morgens brannte sein Haus nieder. Bis auf die Grundfesten. Mehrere von Etiennes Familienmitgliedern kamen in den Flammen um, und er glaubt, Dante hat dieses Feuer gelegt.«

»Verstehe, und warum glaubt er das?«

»Weiß nicht. Ist mir auch egal.«

»Können Sie Kontakt mit Etienne aufnehmen?«

»Ja. Worum geht es?«

»Nennen wir es einfach eine Gelegenheit zur Vergeltung. Geben Sie ihm meine Nummer, Detective. Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe dankbar.«

Damit legte er auf und schüttelte eine dünne, schwarze Zigarette aus einer Packung, die auf dem Couchtisch lag. Er schob sie sich zwischen die Lippen und zündete sie mit einem Streichholz an. Genießerisch sog er den süßlich riechenden Rauch ein und schmeckte den starken Tabak auf seiner Zunge.

Mit dem Mobiltelefon in der Hand ging er durch den Flur zu Es Zimmer zurück und stieß die Tür auf. Das leere, zerwühlte Bett stellte keine Überraschung für ihn dar. Obwohl Es bitterer Holzwurmgeruch in der Luft lag, hatte Ronin seit dem Aufwachen gewusst, dass der Verrückte nicht da war. Keine böse Aura. Keine hektische Nervosität.

Laternenlicht fiel durch die halb geöffneten Jalousien und bildete auf dem Boden ein Zickzackmuster. Die Dunkelheit in dem Zimmer fühlte sich beklemmend und schwer an, als habe die ungebändigte Nacht vor dem Fenster hier keinen Zutritt.

In dem Augenblick, in dem E aus seinem Jeep gestiegen und über die Straße auf Dantes Haus zugelaufen war, hatte er sich in eine echte Belastung verwandelt. Dantes Anruf hatte Ronin die Wahrheit erkennen lassen. Der Voyeur und sein Assistent, Elroy der Perverse. Ein Lächeln huschte über Ronins Gesicht. Der Junge konnte mit Worten umgehen – gewitzt und schnell.

Wir werden sehen, wie gewitzt er heute Nacht ist.

Ronin sog an seiner Zigarette. Der graue Rauch kringelte sich in der Luft und löste sich auf. Im Zimmer bildete sich ein feiner Schleier. E hatte versagt, das ließ sich nicht bestreiten. Ronin war nicht sicher, wie lange er ihn noch kontrollieren konnte, und fragte sich, ob er das je wirklich getan hatte.

Ein Soziopath. Ein Serienmörder. Ein sexueller Sadist. Wie sehr das Johanna freuen musste. Ihre harte Arbeit trug nun blutige, clevere Früchte. Aber wofür hob sie sich Dante auf? Warum hatte sie ihm erlaubt, so lange zu schlummern und wie hatte er bloß all das überlebt, was sie ihm angetan hatte?

Zugegeben, er war ein Blutgeborener. Johanna hatte Jahrhunderte Zeit gehabt, ihn zu lenken, zu manipulieren, in ihm Programmiertes auszulösen. Dante war erst dreiundzwanzig Jahre alt. Er war ein Kind. Seine Begabungen, das volle Potenzial seiner Möglichkeiten würden sich vermutlich erst in mehreren Jahrzehnten, ja vielleicht sogar Jahrhunderten offenbaren.

Wessen bedurfte es, um ihn zu wecken? Um Dante wie eine verborgene Falle auf seine fille de sang losgehen zu lassen, die Frau, die es gewagt hatte, einen Blutgeborenen zu korrumpieren und zu manipulieren?

Die medizinischen und psychologischen Tests, die Johanna und der Sterbliche Dr. Wells an Dantes Bewusstsein und seinem Hirn durchgeführt hatten, wurden auffallenderweise in den Akten des Bad-Seed-Programm nicht erwähnt, die ihm ein anonymer Gönner zugespielt hatte. In Wahrheit musste er also alles Mögliche ausprobieren, da er nicht wusste, was sie mit Dante angestellt hatten. Ronin hatte eigentlich erwartet, Dantes Unterbewusstsein werde auf die Botschaften reagieren, aber bisher war nichts dergleichen geschehen. Vielleicht würde eine direktere Vorgehensweise helfen – indem er zum Beispiel Dantes unerwartete Präferenz für Sterbliche nutzte –, um die verschlossene Tür in dem hübschen Kopf wie mit einem Brecheisen aufzustemmen.

Ronin betrat das Zimmer. Leintücher und Decken waren auf dem ungemachten Bett zusammengeknüllt. Ein Buch, ein Aschenbecher und ein leeres Glas befanden sich auf dem Nachttisch.

Ronin drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und setzte sich auf die Bettkante. Er betrachtete den Buchdeckel – »Im Herzen des Monsters und andere Gedichte«. Der schwache Geruch von Whisky stieg ihm aus dem Glas in die Nase. Vom Bett trieb ein Hauch von Schwarzkirschen an ihm vorbei. Er folgte dem Duft bis zum Kissen. Als er in den Kissenbezug fasste, zog er einen schwarzen Nylonstrumpf heraus. Ginas Strumpf, ein Traumfänger für einen Mörder, ganz in der Nähe des Herzens dieses Monsters. Ronin ließ den Strumpf fallen.

Sein Mobiltelefon klingelte. Er hob ab. »Ja?«

»Etienne hier. Ich höre.«