27

SÜHNE

»Ich habe den Kontakt zu meinen Leuten in New Orleans verloren«, sagte Gifford ruhig. »Ich fürchte, sie könnten gescheitert sein.«

Johannas Finger klammerten sich an das Telefon. »Dann bring es selbst zu Ende. Wenn du Stearns und Wallace zusammen antriffst, lass es wie ein Mord-Selbstmord-Szenario aussehen. « Sie warf einen Blick aus dem Fenster ihres Schlafzimmers. Hinter den Vorhängen dämmerte es schon. Schlaf drückte sie nieder.

»Natürlich. Sonst noch etwas?«

»Da E abgetaucht ist, finde ich, wir sollten seinen Teil des Projekts abschließen.« Johannas Kopf sackte nach vorn. Sie riss ihn hoch und zwang ihre Augen, offen zu bleiben.

»Was ist mit S?«

»Lass ihn. Für den Augenblick.«

 

Heather wachte mit pochendem Herzen auf. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Sie starrte auf die dunkle Decke über ihr, während die Bilder des Alptraums allmählich verschwanden. Sie hatte wieder einmal von dem letzten stolpernden Gang ihrer Mutter und dem Autofahrer, der angehalten hatte, um sie mitzunehmen, geträumt. Zumindest stellte sie es sich so vor.

Jäh wurde sie sich des Arms um ihre Schultern und des Körpers bewusst, der sich an den ihren schmiegte. Sie drehte den Kopf. Dante lag im Schlaf, die langen dunklen Wimpern gesenkt, das schwarze Haar zerzaust und der Atem so flach, dass sie eine Hand auf sein Herz presste, um zu prüfen, ob es noch schlug. Nach einem kurzen Augenblick spürte sie das beruhigende Klopfen an ihrer Handfläche. Sie strich mit den Fingern an dem Bondagekragen vorbei, über die Lippen zur glatten, weichen Wange.

Kein Backenbart, dachte sie. Kann nichts mit der Tatsache zu tun haben, dass er ein Nachtgeschöpf ist. Von hat einen Schnurrbart und Ronin einen Vollbart.

Heather fuhr mit der Hand über seine Brust – die Haut unter ihren Fingern fühlte sich kühl an –, bis sie seinen flachen Bauch erreichte. Sie sehnte sich nach dem Sonnenuntergang und danach, ihn mit Küssen, ihren Händen und ihrem Mund wecken zu können.

Seufzend sah Heather auf die Uhr. Vierzehn Uhr. Sie musste noch einiges erledigen. Bösewichte fangen – und zwar ohne die Hilfe oder den Segen des FBI. Eine Akte lesen – und wenn die wirklich so furchtbar war, wie Stearns angedeutet hatte? Ihr Magen verkrampfte sich, und sie schob den Gedanken beiseite. Sie kletterte über Dante, hielt aber noch einen Augenblick inne, um ihn auf die Lippen zu küssen.

»Du bist auch très beau«, murmelte sie, ehe sie ganz aufstand.

Der Boden knarrte unter ihren Füßen, als sie die Decken hochzog und Dante wieder zudeckte. Er regte sich nicht. Heather hatte den Eindruck, sich nicht sonderlich viel Mühe geben zu müssen, leise zu sein. Der Schlaf hielt ihn umfangen, ganz gleich, was geschah.

Muss schön sein, dachte sie und bahnte sich einen Weg durch die CD-Hüllen und Klamotten, die auf dem Boden verteilt waren, bis sie das angrenzende Bad erreichte.

Dort schaltete sie das Licht ein. Das Zimmer war schwarz und lavendelblau gestrichen. Zahllose Dinge lagen auf dem Bord unter dem Spiegel: Wimperntusche und Kajalstifte, schwarzer Lippenstift, eine Bürste, Zahnpasta, Seife und ein MP3-Spieler.

Zahnpasta? Waren Vampire nicht immun gegen Karies und Parodontose?

Saubere, weiche Handtücher hingen über einem Handtuchständer, während Shampoos und Pflegespülungen auf einem Regal in der Duschkabine standen, und unter den Handtüchern stand ihre Reisetasche.

Wer … dann wurde ihr klar, dass es De Noir gewesen sein musste. Die anderen lagen in tiefem Schlaf und erholten sich wie Dante während des Tages.

Sie drehte das Wasser in der Dusche an und wartete, bis es warm genug war; inzwischen betrachtete sie sich im Spiegel. Sie beäugte ihren Hals und berührte die Stelle, wo Dante sie gebissen hatte. Keine Spuren, keine gereizte Haut. Wieder loderte Feuer in ihr auf, als sie daran dachte, wie er von ihr getrunken hatte. Sie schloss die Augen.

Genug gespielt. Konzentrier dich wieder auf den Fall und darauf, am Leben zu bleiben. Denn wenn du tot bist, wer wird dann für Jay und die anderen Opfer die Stimme erheben?

Unerwartet und ungebeten unterbrach eine Antwort ihren Gedankengang: Dante. Irgendwie glaubte sie daran – von ganzem Herzen.

Heather öffnete die Augen, trat in die Duschkabine und schloss die Tür hinter sich. Während heißes Wasser auf ihren Nacken und ihre Schultern prasselte, wurde ihr bewusst, dass Dante der Fall geworden war und dass sie bei ihrem Kampf, ihn am Leben zu halten, gar nicht bemerkt hatte, dass sich die Regeln geändert hatten. Sie wusste nicht mehr, ob das Ronin-Jordan-Team Dante töten oder ihn dazu bringen wollte, sich ihm anzuschließen.

Sie hieß Chloe, und du hast sie getötet.

Sie erschafft seit Jahren Psychopathen.

Es ist so still, wenn ich mit dir zusammen bin.

Heather drehte sich um, stützte sich mit den Händen an den nassen Kacheln ab und hob das Gesicht in den Wasserstrahl. Sie hoffte, dass das Wasser die Muskeln in ihren Schultern lockern, sie wieder freier atmen lassen und die Angst in ihren Eingeweiden wegwaschen würde.

Sie erinnerte sich auf einmal, was sie Dante in Gedanken versprochen hatte: Ich werde dich nicht im Stich lassen.

Sie schluchzte heiser auf. Eine stählerne Faust legte sich um ihr Herz. Ihre Brust schmerzte. Ihr wurde bewusst, dass sie Angst hatte – Angst vor dem, was sie in der Akte entdecken und Angst vor dem, wozu sie sich vielleicht gezwungen sehen würde.

 

In einem königsblauen Oberteil und einer khakifarbenen Hose ging Heather die Treppe hinunter, die Schuhe in ihrer Hand. Das Haus war still. Sie hatte das Gefühl, in einer Kirche zu sein, widerstand aber dem Bedürfnis, auf Zehenspitzen hinauszuschleichen. Dantes geflüsterte Worte kamen ihr wieder in den Sinn: Sanctus, Sanctus, Sanctus.

Als sie den Flur entlanglief, blieb sie einen Augenblick lang vor dem Computerraum stehen. Der Liegesessel war leer, der Rechner abgeschaltet. Zusammengewickelte Kabel lagen auf dem Tisch neben Treys Brille. Plötzlich musste sie an Annie denken, die bis obenhin voll mit Medikamenten friedlich in einem Krankenhausbett schlief, ihre Hand- und Fußfesseln neben ihr auf dem Nachttischchen.

Sie schüttelte sich, um das Bild zu verscheuchen, und ging in die Küche. Dort setzte sie sich an den Tisch und bückte sich, um ihre Schuhe anzuziehen und zu binden. Der Aktenkoffer stand noch neben dem Stuhl. Ihre Tasche und Stearns’ Schlüssel lagen auf dem kobaltblauen Tischtuch.

Sie nahm die Tasche und holte ihr Mobiltelefon heraus. Als sie überprüfte, wer versucht hatte, sie zu erreichen, stellte sie fest, dass Collins angerufen hatte. Einen Augenblick lang hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie hatte ihn mehr oder weniger uninformiert gelassen und ihm keine Erklärung geliefert. Konnte sie ihm trauen? Sie wusste nicht mehr, wo sie stand, und die wenigen Stunden Schlaf hatten auch nicht dazu beigetragen, dass sie wieder klarer sah.

Bestechliche Agenten, FBI-Killerkommandos, wahnsinnige Experimente in der Psychopathologie, Vampire, gefallene Engel und ein Serienmörder, der seine Opfer bestialisch abschlachtete – die Welt und ihr Weltbild hatten sich in den letzten Tagen um hundertachtzig Grad gedreht. Das Einzige, dessen sie sich noch sicher sein konnte, war ihr Versprechen an die Opfer des CCK, ihnen eine Stimme zu geben und Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen.

Was war mit ihrem Versprechen Dante gegenüber? Wieder krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie konnte ihn noch immer an sich, in sich spüren, konnte sich erinnern, wie er sich anfühlte – seine festen Muskeln und die heiße Haut darüber – und wie sie sich selbst in seinen dunklen Augen widerspiegelte.

Noch ist alles still. Bleib, chérie.

Ich werde dich nicht im Stich lassen.

Versprechen waren dazu da, sie zu halten, nicht, sie zu brechen. Das hatte sie als Kind geglaubt, und das glaubte sie noch. Nichts hatte sich geändert. Sie würde alles, was in ihrer Macht stand, tun, um in Dantes Nähe zu sein und ihn am Leben zu halten – und wenn die Akte, die Stearns ihr gegeben hatte, Recht hatte? Wenn Dante eine Stimme war, sie man zum Schweigen bringen musste?

War es denn überhaupt so einfach? Sie war in eine Welt voller Grautönen getreten – in eine Welt des Zwielichts, die komplexer und komplizierter war, als sie sich das jemals hätte träumen lassen.

Sie werden erkennen, was für ein Monster er in Wirklichkeit ist.

Sie wusste, dass sie sich dieser Aussage bald stellen musste. Aber vorrangig hatte sie ein Paar Monster – eines von ihnen ein Nachtgeschöpf, das andere sterblich –, die sie aufhalten musste, ehe sie wieder jemanden töteten, jemanden, der Dante am Herzen lag.

Heather markierte einen von Collins’ verpassten Anrufen und drückte die Wähltaste. Er nahm nach dem ersten Klingeln ab. »Wallace, wo zum Teufel waren Sie?« Er klang hektisch und gereizt.

»Hatte zu tun. Es tut mir leid. Ich weiß, ich hätte Sie schon früher anrufen sollen …«

»Wir müssen reden. Unter vier Augen. Hier ist die Hölle los.«

Heathers Magen verkrampfte sich. »Welche Art Hölle?«

»Unter vier Augen. Haben Sie nicht gesagt, es gäbe im Schlachthaus zwei Leichen?«

»Ja.«

»Wir haben nur eine gefunden. Den Jungen in der Zwangsjacke. «

Heather erstarrte. Sie hatte zugesehen, wie Etienne verbrannt war. »Können Sie mich abholen?«, fragte sie, Sie gab Collins die Adresse.

»Ja.« Er schwieg einen Augenblick lang und fragte dann: »Wohnt da dieser Prejean?«

»Wann können Sie hier sein?«

»In zwanzig bis dreißig Minuten.«

»Bis dann.«

Wie konnte Etiennes Leiche verschwunden sein? Wenn sich diese Nachtgeschöpfe nicht automatisch in Luft auflösten, wenn sie starben, bedeutete das, dass jemand seine Überreste aufgesammelt und mitgenommen hatte oder er aus eigener Kraft aufgestanden und davongegangen war. Beide Möglichkeiten waren unangenehm.

Heather holte die Achtunddreißiger aus der Tasche des Trenchcoats und kontrollierte vorsichtshalber noch einmal, ob die Patronen tatsächlich auch noch an ihrem Platz waren, obwohl sie die Waffe in der Nacht nachgeladen hatte. Sie waren es. Sie hatte keine Ahnung, wer die Trommel zuvor geleert haben konnte, nahm aber an, dass es Jordan gewesen sein musste, nachdem er neben ihr auf dem Sofa zu sich gekommen war.

Heather schlüpfte in ihren Trenchcoat und schob die Achtunddreißiger wieder in ihre Tasche. Dann hängte sie sich die Tasche über die Schulter und nahm nach einem Augenblick des Zögerns auch Stearns’ Schlüssel an sich. Sie hob den Aktenkoffer hoch und ging ins Wohnzimmer.

»Soll ich Dante etwas ausrichten?«, fragte eine tiefe Stimme.

Erschreckt drehte sich Heather um. De Noir saß in einem Sessel, den Rücken aufrecht, die Augen geschlossen. Seine Körpersprache signalisierte höchste Wachsamkeit. Der X-Anhänger schimmerte an seinem Hals.

»Ich dachte, es schliefen alle.«

»Tun sie auch«, sagte De Noir und öffnete die Augen. Sein Blick wanderte zu dem Aktenkoffer in Heathers Hand und dann zu ihrem Gesicht.

»Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen«, sagte Heather. »Können Sie ihn hier halten?«

Gold schimmerte in den Tiefen von De Noirs dunklen Augen auf. »Wie gesagt: Dante tut immer, was er will.«

»Dann bitten Sie ihn, auf mich zu warten.«

»Geduld gehört nicht zu seinen Stärken, aber ich werde ihn darum bitten.«

»Das wäre nett.«

Heather ging zur Tür, öffnete sie und trat in den nachmittäglichen Sonnenschein. Der Aktenkoffer in ihrer Hand schien unendlich schwer zu sein.

 

E verstaute den Rest seiner Ausrüstung im neuen Van und stopfte seine Tasche mit den Utensilien neben die schmale Luftmatratze, die hinten im Wagen lag. Vor sich hin summend kniete er sich hin und machte das Bett, indem er eine lange Plastikplane über die Leintücher breitete. Sollte den Großteil des Bluts vom Laken fernhalten. Er faltete die Wolldecken und legte sie ans Fußende der Matratze. Ein Kopfkissen oder zwei? E entschied sich für eines und legte es oben aufs Bett. Dann setzte er sich auf seine Hacken und betrachtete das getönte, vor UV-Einstrahlung geschützte Fenster. Wahnsinn. Hoffentlich ist Dante klar, was ich alles für ihn getan habe. Alles für dich, Bruder.

E stieg aus und ging ins Haus hinüber, wobei er die Wagenschlüssel in seine Jeanstasche schob. Er schloss hinter sich ab. Dann ging er durch die düsteren Zimmer. Überall waren die Vorhänge zu. Sein Herz raste, während ihm alle möglichen Gedanken wie Pingpongbälle durch den Kopf schossen. Er grinste. Er konnte nicht anders.

Tom-Tom schlief noch, da der Tag noch nicht zu Ende war. E blieb vor dem Zimmer des Vampirs stehen. Goldenes Licht umgab ihn und erhellte auch den Flur um ihn herum. Er berührte den Türknauf und drehte ihn. Abgeschlossen.

Es Grinsen wurde breiter. Hatte Tommy-Boy etwa Angst? Vor einem Gott, der Vergeltung für die Entweihung seines Altars üben wollte?

Dieser Strumpf hat verdammt nochmal mir gehört.

Eine verschlossene Tür. Kein Problem. Ein Gott weiß sich immer zu helfen.

E holte sein Set mit verschiedenen Dietrichen und anderen Werkzeugen heraus, das er in der Gesäßtasche hatte, und klappte es auf. Er nahm eine Haarnadel, schob sie ins Loch im Knauf und drückte. Der hineingedrückte Knopf auf der anderen Seite der Tür sprang auf. Es Grinsen wurde noch zufriedener. Er schob die Haarnadel wieder in sein Werkzeugset, machte es zu und steckte es in die Hosentasche zurück.

Langsam drehte er erneut den Knauf, öffnete die Tür und betrat das verdunkelte Zimmer des Vampirs. Goldene Tentakeln aus Licht drangen in den Raum und erhellten Tom-Tom, der auf dem Bett lag, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, die Augen geschlossen.

E ging in die Hocke und schielte unters Bett. Diesmal verbarg sich kein entzückendes Spielzeug zwischen den Staubmäusen. Seufzend erhob er sich wieder, ging zum Wandschrank und öffnete ihn. Auch die Kartons und die schwarze Mappe mit dem Reißverschluss waren weg.

Es Herz hämmerte in seinem Brustkorb. Er fuhr zum Bett herum, während er die Klingen in seine Hände gleiten ließ. Tom-Tom schlief, hatte sich nicht geregt. E wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Der Wichser weiß es.

Es goldenes Licht verwandelte sich in ein gedämpftes Schimmern. Seine Finger berührten das Heftpflaster in seinem Nacken. Er konnte mich nicht mehr ausfindig machen. Natürlich weiß er es.

E umkreiste das Bett, während er sich fragte, wo Tommy-Boy die Sachen versteckt hatte. Er betrachtete die schlafende Gestalt des Vampirs, als sein Blick an der Jeans hängen blieb. Schlüssel. Der Camaro. E beugte sich über das Bett und berührte Ronins linke vordere Tasche. Seine Finger glitten über den Stoff. Leer. Er schlich zur anderen Seite des Betts, beugte sich wieder hinunter und tastete über die rechte Hosentasche.

Bingo! Seine Finger ertasteten einen harten Gegenstand. E schob vorsichtig zwei Finger in Tom-Toms Tasche – Achte gar nicht auf mich. Hoppla. Ist das alles? Ich hätte dich Kleiner Tom nennen sollen –, fasste nach den Schlüsseln und zog sie heraus. Wieder durchflutete ein goldenes Licht Es Adern, als er sich aufrichtete. Er leuchtete gelblich-weiß.

Zeit zu gehen.

Eine Stimme in seinem Inneren warnte: Nein! Noch nicht! Stelle zuerst sicher, dass …, aber E hielt Warnungen für einen Gott überflüssig. Er beugte sich über Tom-Tom und schnitt ihm mit einem Messer die Kehle durch.

Die Augen des Blutsaugers öffneten sich.

 

Heather verschluckte sich beinahe an ihrem letzten Bissen Burger, der nach Cajunart scharf angebraten war. »Tot?«, brachte sie mühsam heraus, nachdem sie die würzige Mischung geschluckt hatte. »LaRousse?«

»Ja, und sein Partner Davis«, antwortete Collins. Er wirkte müde und erschöpft.

Heather und der Detective saßen an einem Picknicktisch unter einer Aluminiummarkise neben einer Imbissbude, dem HERE ’N GO. Sie waren allein, an den anderen Tischen saß niemand. Der Geruch heißen Fetts und gebratenen Fleisches lag in der Luft.

»Was ist passiert?«, fragte Heather und tunkte ein paar Pommes frites in den Ketchup.

Collins schüttelte den Kopf. »Ein Feuer – Brandstiftung – in einer Kneipe. Außer den Leichen LaRousses und Davis’ gab es noch drei andere Tote, die in den Trümmern gefunden wurden.«

»Das tut mir leid. Ich mochte LaRousse zwar nicht, aber einen so schrecklichen Tod hat niemand verdient.«

Ein ironisches Lächeln erhellte Collins’ Gesicht. »Ja, er war ein echtes Arschloch, aber Mann, hat der Kerl viele Fälle gelöst. Er war ein guter Polizist, und er war einer von uns.«

»Was wissen Sie bisher?«

»Nicht viel«, meinte er und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Die Frage ist, ob es etwas Einfaches wie ein Überfall war, der schieflief, oder ob das Ganze geplant war.«

»Manche Leute verlieren schnell die Nerven oder brechen in Panik aus«, antwortete Heather, »und dann läuft alles aus dem Ruder. Hat die Polizei bereits die Angestellten oder die Stammgäste befragt?«

»Um zu sehen, wer letzte Nacht nicht verbrannt ist und warum?«

Sie nickte. »War LaRousse dienstlich dort oder privat?«

»Dienstlich.« Collins hielt einen Augenblick lang inne, ehe er fortfuhr. »Die beiden waren mit einem Haftbefehl für Prejean unterwegs, aber …« Er zuckte die Achseln. »Er war nicht zu Hause.«

Heather schob den Rest ihres Essens beiseite, da ihr der Appetit vergangen war. »Haftbefehl? Weswegen, zum Teufel?«

Collins hob beschwichtigend eine Hand. »Um Prejean aufs Revier zu holen, damit er eine DNS-Probe abgibt. LaRousse glaubte immer noch, er sei für den Tod des Mädchens verantwortlich. «

»Gina«, sagte Heather ruhig. »Gina Russo. LaRousse wusste, dass Dante nichts mit dem Mord zu tun hatte. Ich hatte mich für ihn verbürgt.«

»Ich habe keine Ahnung, was LaRousse gegen Prejean hatte«, antwortete der Detective. »Ich berichte nur die Tatsachen. «

»Ich weiß. Tut mir leid.«

»Es gibt noch mehr«, brummte Collins. Er knüllte das Papier zusammen, in dem sein Burger eingewickelt gewesen war, und warf es in einen Abfalleimer mit einer schwarzen Mülltüte, der hinter den Picknicktischen stand. »Es gab noch einen weiteren Mord.« Er blickte Heather an. »Echt abscheulich.«

Die gepeinigte Miene des Detectives überraschte sie, und sie beugte sich über den Tisch und berührte einen Augenblick lang seine Hand. »Alles in Ordnung?«

»Ja. Nur ein verdammt langer Tag.«

Sie drückte seine Hand und ließ dann los. »Dann erzählen Sie mal: wie schlimm?«

»Das Opfer wurde zerstückelt. Der Mörder hat im ganzen Zimmer Teile des Mannes verteilt.« Collins brach ab und schluckte. An seinem Kiefer zuckte eine Muskel.

»Sprechen Sie weiter«, forderte Heather ihn sanft auf. Ihr Körper spannte sich an, als würde sie darauf warten, dass ein Fallbeil jeden Augenblick auf sie herabsausen könnte.

»Ich bin sicher, dass es der CCK war«, fuhr Collins fort. »Kein Anarchiezeichen … Scheiße … ich meine, da hätte eines sein können, und wir haben es nur nicht erkannt … ich habe so etwas noch nie …« Er schaute in die Ferne. »Es gab eine Botschaft. An der Wand. In Blut geschrieben – wie zuvor.«

Die Wärme des Tages verschwand mit der untergehenden Sonne.

»Wie lautete sie?«

»Ist das wichtig?«, erwiderte Collins und sah Heather wieder an. Seine Augen, die tief in den Höhlen zu liegen schienen, blitzten wütend. »Diese Untersuchung ist offiziell abgeschlossen. Von oben heißt es, da sei ein Trittbrettfahrer am Werk, und mit Ihnen darf keiner von uns in Kontakt sein.«

»Trent, wie lautete die Botschaft?«

»›S gehört mir.‹«

Heather riss ihr Mobiltelefon aus der Handtasche. Sie wählte Dantes Nummer. Am anderen Ende der Leitung klingelte es, ohne dass jemand abnahm.

Keine Rekrutierung, nein. S gehört mir. Jemand hatte Anspruch auf Dante erhoben.

 

Gifford riss die Tür des Motelzimmers auf und stürmte in den Raum, wobei er seine Waffe zuerst nach rechts und dann nach links schwenkte. Das Zimmer war leer. Er durchlief die Standardprozedur des FBI: Schrank, Bad, Lichter an. Stearns war weg.

Gifford senkte die Fünfundvierziger und sah sich um. Gepäck auf dem Bett. Laptop auf dem Tisch. Eine Flasche Scotch und ein Glas auf dem Nachttischchen. Anscheinend hatte Stearns vor zurückzukommen, nachdem er alles hiergelassen hatte. Sollte er auf ihn warten?

Ein Papierkorb neben dem Bett erregte seine Aufmerksamkeit. Er kippte die zerknitterten Papiere auf die Tagesdecke, dann strich er das erste Blatt glatt. Er überflog es und erkannte die Orte und Daten, die darauf aufgelistet waren. Es waren die Tatorte und Tage, an denen der CCK zugeschlagen hatte.

Als er das zweite Blatt glattgestrichen hatte, begannen sich die Rädchen in seinem Gehirn wie verrückt zu drehen. THOMAS RONIN. Was tat Johannas père de sang in New Orleans? Zur gleichen Zeit wie E? Nachdem Gifford einen Blick auf die Adresse auf dem Ausdruck geworfen hatte, beschloss er, nicht auf Stearns zu warten.

Gifford nahm die Papiere und eilte aus der Tür. Draußen sprang er in seinen Hertz-Mietwagen und gab die Adresse in Metairie ins Navigationssystem des Autos ein.

Johanna hatte von Anfang an Recht gehabt. Kein Zufall.

Gifford legte den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Parklücke.

 

Heißes Blut spritzte in Es Gesicht und auf seine Sonnenbrille. Tom-Toms Finger schlossen sich um sein Handgelenk. Etwas knackte, und ein stechender Schmerz bohrte sich in Es Schulter. Die zweite Klinge glitt wie von selbst in seine andere Hand.

Das Arschloch hat mir das Handgelenk gebrochen!

Dieser Gedanke endete in einem Feuerwerk aus Licht – blau, grün und violett –, als ein Vorschlaghammer gegen Es Schläfe knallte. Er flog durch die Luft und landete an der Wand gegenüber dem Bett. Mörtel rieselte herab und bedeckte den Teppichboden. E konnte kaum mehr klar sehen, als er seine Hand betrachtete.

Die Klinge war weg.

Jetzt hat er mir auch noch meine Klinge weggenommen.

Vor seinen Augen drehte sich alles, und ihm wurde übel. Doch dann schoss Adrenalin in seine Adern und gab seinem Schmerz und seinem Hintern einen Tritt, so dass er aufstehen konnte. Er stützte sich mit einer Schulter an der Wand ab, während er eine weitere Klinge aus dem Schaft zog, den er sich unter der Jeans um die Wade gebunden hatte. Er blinzelte, um wieder klarer sehen zu können, und sah aufs Bett.

Blut floss vom Bett und sammelte sich auf dem Teppichboden. Das Zimmer stank geradezu danach. Tommy-Boy verschluckte sich fast, während er sich verkrampfte und eine Hand auf seinen Hals presste, um die Blutung zu stoppen. Grinsend schwankte E zum Bett. Der brennende Blick des Vampirs war auf ihn gerichtet und schien ihn auf Hunderte von Arten töten zu wollen.

Aber nicht heute. Heute war E ein Gott – golden und mächtig. Der beste Killer, den die Welt jemals gesehen hatte.

E hob die Klinge in die sämige Luft. Luft wie Honig. Wie Bernstein. Die Klinge bohrte sich in Ronins schlagendes Herz.

»Planänderung, Arschloch.«

 

Lucien stieg die Treppe hinauf, während in seinem Geist Dantes Schmerz wie eine Kerze flackerte. Sein Kind lag noch im Schlaf, aber Feuer und Schatten hatten seine Träume durchbrochen und ihm seinen Frieden geraubt. Er betrat Dantes Zimmer. Der Geruch von Sex und schwächer werdenden Pheromonen lag in der Luft.

Lucien kauerte sich neben den Futon und legte eine Hand auf Dantes Stirn. Seine Finger wurden heiß. Dem Jungen troff wieder Blut aus der Nase. Lucien schloss die Augen und ließ seine Energie in Dante fließen, vereiste seine Schmerzen und stärkte seine partiell wiederaufgebauten Schilde.

Er erinnert sich. Seine Vergangenheit hat ihn in Brand gesetzt. Frisst ihn auf.

Dante bewegte sich unter seiner Hand. Sein bleiches Gesicht wirkte beunruhigt. Das Bluten ließ nach und hörte auf. Das Fieber verschwand. Lucien strich Dantes schwarzes Haar zurück, beugte sich hinab und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

Soll er mich hassen. Ich werde ihn verbergen und am Leben erhalten – und nicht irrsinnig werden lassen?

Sein Herz zog sich qualvoll zusammen. Er richtete sich auf.

Ich werde tun, was ich tun muss.

Er ging durch das Zimmer zur Balkontür und zog die Vorhänge auf. Das letzte Sonnenlicht tauchte den Raum in tiefes Rot. Wie vergossenes Blut. Lucien stand am Fenster und lauschte den anderen, als diese in den anderen Zimmer, die im selben Flur lagen, langsam erwachten. Er lauschte dem Pulsschlag der hereinbrechenden Nacht und dem Rhythmus seines eigenen dunklen Herzens.

Er hörte, wie sein Sohn auf dem Futon hinter ihm tief Luft holte. Er vernahm auch das Anhrefncathl – das Chaoslied eines Schöpfers –, das in der Seele seines Kindes erwachte.

Ohne hinzusehen, wusste er, dass Dante die Augen geöffnet hatte.

»Wir haben einiges zu besprechen«, sagte Lucien.

Dante streckte sich. Das seidene Betttuch streichelte seinen Rücken, und seine Muskeln entspannten sich wohlig. Fetzen von Träumen entglitten ihm, ohne dass er sie hätte aufhalten können. Bilder von vor dem Schlaf tauchten vor seinem geistigen Auge auf.

Heather unter ihm, die Lippen leicht geöffnet, ihr Gesicht von Leidenschaft erfüllt …

Die brennende Gaststätte, LaRousses boshaftes Lächeln …

Jay …

Dante öffnete die Augen und setzte sich mit pochendem Herzen auf. Rötliches Licht fiel durch die Balkontür herein und erleuchtete Luciens große Gestalt.

»Wir haben einiges zu besprechen«, sagte dieser.

Dante stockte einen Augenblick lang der Atem, als eine weitere Erinnerung hochkam: die Kathedrale, Lucien durchbohrt … seine gemurmelten Worte: Du siehst ihr so unfassbar ähnlich.

Er schlug die Decken zurück und stand auf. »Nein, haben wir nicht«, sagte er. »Nie mehr.«

»Da irrst du, mein Junge.«

Lucien öffnete die Tür und trat auf den schmiedeeisernen Balkon hinaus. Das schwindende Licht überschattete sein Gesicht.

Dante hob eine dunkle Jeans vom Boden auf und schlüpfte in sie hinein, ehe er den Reißverschluss zumachte. Dann trat er auch auf den Balkon hinaus. Luciens Blick war starr auf das letzte Licht kurz vor der Abenddämmerung am Horizont gerichtet.

»Du kannst Ronin nicht folgen«, sagte er, ohne ihn anzusehen.

»Nein? Du willst mir das verbieten? Du kannst mich mal.« Dantes Finger legten sich um das kalte Metallgeländer des Balkons.

»Ronin wird deine Vergangenheit wecken. Das wird dich brechen«, sagte Lucien und wandte Dante sein Gesicht zu. »Du musst eine andere Möglichkeit finden, Gina und Jay zu rächen.«

»Du kannst mir nicht mehr vorschreiben, was ich tun und lassen soll.«

»Habe ich das denn je? Hat das irgendjemand? Du bist sehr eigensinnig, Junge.«

»Auf dich habe ich gehört«, antwortete Dante mit deutlich belegter Stimme. »Mehr als auf alle anderen.«

Ein Bild schoss ihm durch den Kopf – das Bild eines kleinen Mädchens in einer Ecke, einen Orca aus Plüsch an die Brust gepresst, ihr Gesicht tränenüberströmt und völlig verängstigt.

Dante-Engel?

Er kam ins Wanken, als sich Schmerz in seinen Kopf bohrte. Chloe. Sühne für Chloe. Starke Arme legten sich um ihn und gaben ihm Halt. »Lass los«, flüsterte er und versuchte, Luciens Arme fortzuschieben. »Lass mich in Ruhe, verdammt.«

Dante taumelte in sein Zimmer, ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Er sank zu Boden, hielt sich den Kopf mit den Händen und schloss die Augen. Obgleich er versuchte, die Bilder von Chloe vor sich zu sehen, entglitten sie ihm immer wieder.

Er sah immer wieder, wie sie zusammengekauert und verängstigt in einer Ecke saß und dann in einer Blutlache lag, aber er sah nie, was dazwischen geschah. Dieses namenlose Dazwischen war es, was ihn so aufwühlte.

Sie hieß Chloe, und du hast sie getötet.

Schweiß lief ihm über die Schläfen. Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und durchs Haar. Dann schlug er seinen Hinterkopf gegen die Wand. Der Schmerz ließ nach. Er verschwand zwar nicht, wurde aber erträglich genug, um nachdenken zu können.

Ein Gedanke klopfte an seine Schilde, ein Gedanke Simones. Er öffnete sich ihrer Berührung. Heather ist am Telefon. Sie will dich sprechen.

D’accord, chérie. Ich bin unterwegs.

Dante stand auf, drehte sich zum Waschbecken und drehte den Kaltwasserhahn auf. Dann sah er in den Spiegel. Im schwindenden Abendlicht sah er die Buchstaben, die auf die Oberfläche geschmiert waren.

WARTE AUF MICH. In schwarzem Lippenstift.

Dante schmunzelte und strich mit einem Finger über die Nachricht. Heathers Witterung hing noch an ihm – Flieder und Salbei –, und er wollte ihn nicht abwaschen. Noch nicht. Nachdem er sich das Gesicht mit kaltem Wasser abgespritzt hatte, öffnete er die Badezimmertür.

Lucien wartete auf ihn. Seine goldenen Augen blitzten im Zwielicht. »Wirst du Ronin dennoch verfolgen?«

»Das geht dich nichts an«, antwortete Dante und ging an ihm vorbei.

Dante bemerkte eine Bewegung am Rand seines Sichtfelds und wich zu spät aus. Lucien packte ihn an den Schultern, Klauen drangen in Dantes Fleisch, was sich anfühlte, als wäre er von Nadeln durchbohrt worden. Er spürte, wie ihm warmes Blut über den Rücken lief. Fauchend versuchte er, sich zu befreien, aber Lucien ließ ihn nicht los.

»Es geht mich etwas an«, sagte Lucien fest entschlossen, »und es wird mich immer etwas angehen. Du bist mein Sohn.«

Dante starrte ihn entgeistert an. In seinem Kopf dröhnte es. Sein Sohn? »Lass los.«

Lucien nahm die Hände von ihm. Blut schimmerte auf den Spitzen seiner Klauen. »Ich hätte es dir sagen müssen …«

»Ja, hast du aber nicht«, sagte Dante mit heiserer Stimme. »Jetzt ist es zu spät.« Er wirbelte herum und stürmte aus dem Zimmer.

Draußen stürmte er die Treppe hinab. Sein ganzer Körper war zum Zerreißen gespannt, und sein Herz raste. Er rang nach Luft. Er brauchte Blut, und er musste die Wahrheit erfahren.

Sühne. Vielleicht würde er alles, was er wusste, und alle, die er liebte, verlieren, bis er seine Schuld beglichen hatte.

Er fand Simone im Wohnzimmer. Sie hatte sich neben Von auf der Couch zusammengerollt. Ihre Augen weiteten sich, als sie Dante sah, und auch der Llygad richtete sich mit gerunzelter Stirn auf.

»Was ist los?«, fragte sie und gab ihm den Telefonhörer.

Dante schüttelte den Kopf. Er bemühte sich, ruhig zu atmen. »Oui, chérie?«, sagte er ins Telefon.

»Warte auf mich«, entgegnete Heather. In der Leitung knisterte es. »Ich bin bald zurück.«

Würde er auch sie verlieren?

»Komm nicht her. Ich bin dann nicht mehr hier«, erwiderte er und drückte auf den Kopf, um das Gespräch zu beenden. Das Telefon glitt ihm aus der Hand und schlug mit dumpfem Knall auf dem Boden auf.

In der anschließenden Stille hörte Dante das Rauschen von Flügeln. Dann knarrte die Decke, als Lucien oben auf dem Dach landete. Sein Vater. Ein Gefallener.

Wovor hast du Angst … Blutgeborener?

Zorn flackerte erneut in ihm auf und durchströmte brodelnd seinen Körper. »Nicht vor dir, Voyeur«, wisperte er. »Nicht vor dir.«