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MAGIE UND MYSTERIEN

Johanna Moore stand am Fenster ihres Büros und sah den Schneeflocken zu. Schnee ließ sie immer an Weihnachten und ihre Jugend denken; sie erinnerte sich an die Magie und Mysterien der winzigen, glitzernden Fenster des Adventskalenders und die Überraschungen, die sich zeigten, wenn man sie öffnete. Der Februar in Washington ließ jegliche Magie und alles Mysteriöse vermissen. Hier gab es nur vereiste Bürgersteige und kahle Bäume.

»E ist in New Orleans«, sagte sie schließlich.

»Zufall«, erwiderte Gifford.

»Wohl kaum«, entgegnete Johanna. »Das gefällt mir ganz und gar nicht.« Entschlossen drehte sie dem Fenster, dem Schnee und ihren Erinnerungen den Rücken zu.

Gifford saß auf dem vornehmen Ledersessel vor Johannas Kirschholzschreibtisch. Er runzelte die Stirn, während er die dicke Akte, die auf seinen Beinen lag, überflog. Dann fasste er in seine Anzugjackentasche und holte einen dünnen braunen Zigarillo heraus.

Er schüttelte den Kopf, den Blick noch immer auf die Akte gerichtet. »Er kann unmöglich von S wissen. Oder von Bad Seed.« Er ließ sein Feuerzeug aufschnappen und hielt die Flamme an den Zigarillo.

Johanna hörte das Knistern des Tabaks, der Feuer fing und sich entzündete. Ein angenehm süßer Vanilleduft erfüllte die Luft.

»Das frage ich mich inzwischen«, sagte sie und ging zu ihrem Schreibtisch. Weitere Akten und CDs waren auf der polierten Oberfläche verteilt, auf denen »Streng geheim« oder »Nachforschungsergebnisse – nur für Spezialagenten« stand.

»Das letzte Opfer hatte S getroffen.« Johanna setzte sich auf den Rand ihres Schreibtischs und richtete den Blick auf Gifford. »Es wurde im Hof neben dem Club abgeschlachtet. «

Er blickte auf, die grauen Augen wirkten gedankenvoll. »Könnte auch Zufall sein.«

»Auch das glaube ich nicht. E hat S’ Logo in die Brust des Opfers gebrannt.« Sie streckte die Hand aus und nahm Gifford den Zigarillo aus den Fingern, führte ihn an die Lippen und zog.

Gifford funkelte sie belustigt an. »Vielleicht ist E ja auch nur ein Musikfan«, meinte er. »Teufel auch, vielleicht ist er Inferno-Fan. Selbst Serienmörder haben Lieblingsbands, nehme ich an.«

Johanna blies eine wohlriechende Rauchwolke in die Luft und genoss den Geschmack nach Vanille und Tabak. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Er kommuniziert.«

Sie hielt Gifford den Zigarillo wieder hin. Er nahm ihn, wobei seine Finger einen Augenblick lang auf den ihren verweilten – warm und weich.

»Ich habe eine Scheißangst bei dem Gedanken, er könnte tatsächlich einen festen Plan verfolgen.«

»Er kommuniziert?«, fragte Gifford. Er blickte wieder auf die Akte in seinem Schoß und begann sie erneut mit gerunzelter Stirn durchzusehen. »Mit wem?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Johanna. »Vielleicht mit S.«

»Dann müssen wir uns keine Sorgen machen«, meinte Gifford. Das Papier zwischen seinen Fingern knisterte. »S hat nicht den blassesten Schimmer, oder?«

»Nicht, nachdem wir sein Gedächtnis geschreddert haben. Nein.« Johanna stand wieder auf, berührte Giffords Knie, als sie an ihm vorbeiging, und trat erneut ans Fenster.

Es schneite noch immer. Der Himmel verwandelte sich schrittweise von einem dunklen Grau in ein helleres, je näher der Wintermorgen kam. Eine tiefe weiße Stille, die auch ihr Herz zu umfangen schien, umhüllte die Welt draußen vor ihrem Fenster.

Plötzlich hörte das Papierrascheln auf. »Blockiert und fragmentiert«, sagte Gifford. »So steht es hier jedenfalls in seiner Akte.«

Johanna hörte, wie Giffords Finger von einer Zeile des Reports zur nächsten glitt. »Ich war dabei, Dan, von Anfang an«, sagte sie. »Geschreddert ist wesentlich akkurater.«

Ein Bild schaffte es, ihre weiße Barrikade Stille zu durchdringen:

 

Ein schlanker zwölfjähriger Junge in einer blutbespritzten Zwangsjacke, kopfüber von der Decke baumelnd, Ketten um die Fesseln. Langes schwarzes Haar hängt ihm ins Gesicht. Nur einige blut- und schweißnasse Strähnen kleben an seiner Stirn, seinen blassen Wangen. Er ist starr, jeglicher Kampfgeist, jeglicher Zorn, jegliche Trauer sind wie Blut aus einem Leichnam entwichen.

Nachdem man ihn genügend bestraft hat, will ihn niemand herunterholen. Die blutbefleckten Wände und die Leichen auf dem Betonboden lassen alle auf der sicheren Seite der Stahltür verharren.

Johanna tritt allein ein und jagt allein eine Spritze mit Beruhigungsmitteln in den Hals des Knaben. Allein löst sie die Ketten des Jungen vom Fleischerhaken und lässt ihn langsam herunter. Das wunderschöne Vampirkind ist benebelt und träumt, dem Wahnsinn der bevorstehenden Jugend anheimgefallen.

Sie nimmt den Jungen in die Arme und trägt ihn in eine andere Zelle. Zitternd pulsieren wieder Magie und Mysterien durch ihre Adern, in ihrer Vorstellung glitzernd wie weiße Weihnachten. Die Psyche des Jungen ist für sie wie ein Adventskalender: Hinter jedem Türchen, das sie öffnet, aufreißt oder niederbrennt, zeigt sich eine wundervolle Überraschung.

 

Johanna fuhr sich mit den Fingern durch das kurze Haar und musterte ihr verschwommenes Spiegelbild in der Fensterscheibe. Attraktiv, Anfang dreißig, nordisch blond und blauäugig, groß und schmal. In körperlicher Hinsicht das genaue Gegenteil ihres père de sang. Aber sie und Ronin besaßen beide einen enormen Wissensdurst. In dieser Hinsicht ähnelten sie einander sehr.

Große Mattigkeit breitete sich in ihr aus. Sie brauchte Blut und Schlaf. Sie übertrieb es langsam mit den Pillen. Man konnte den Schlaf nur eine Weile hinausschieben – nicht für immer.

»S’ Gedächtnis ist nicht das Problem«, sagte sie und wandte sich wieder Gifford zu. »Es Cross-Country-Killer-Karriere und das Interesse des FBI an dem Fall sind das eigentliche Problem. Ich weiß nicht wie, aber E hat das FBI mehr oder weniger direkt zu S geführt.«

»Willst du E Einhalt gebieten?«

Johanna schüttelte den Kopf. »Ich würde gern seine Entwicklung weiter beobachten. Aber es macht mich nervös, dass das FBI so dicht an ihm dran ist.«

»Ich verstehe«, sagte Gifford. Er beugte sich vor. Sein gelassener Blick richtete sich auf Johanna. »Was sollen wir dagegen tun?«

 

Lucien saß aufrecht im verdunkelten Wohnzimmer und hielt die Augen geschlossen, während er diejenigen bewachte, die in dem Zimmer über ihm schliefen. Tief schliefen. Außer einem. Dantes vom Schlaf verwirrte Gedanken strichen durch Luciens Bewusstsein. Er spürte seinen Kampf, wach zu bleiben, konzentriert. Diese gottverdammte Frau und ihr gottverdammter Durchsuchungsbefehl. Luciens Finger zuckten und krallten sich in die Armlehnen des Ohrensessels, in dem er saß. Er holte tief Luft und streckte die Finger dann vorsichtig. Ruhig.

Er wusste, wie schwierig und widerspenstig Dante sein konnte – das Kind hatte seine Geduld immer wieder auf eine harte Probe gestellt. Agent Wallace hatte einfach auf Dantes Weigerung zu kooperieren reagiert.

Aber warum wollte sie den Hof durchkämmen? Was hoffte sie, dort zu finden, und was hatte all das mit Dante zu tun?

Lucien öffnete die Augen und starrte ins Dunkel des Zimmers, vor dessen Fenstern die Vorhänge zugezogen waren. Schatten lagen auf der Couch, den Bücherregalen und den Stehlampen und verbargen jegliche Farbe. Draußen zwitscherten und sangen die Vögel, gingen geschäftig ihren morgendlichen Aufgaben nach.

Für einen Augenblick sehnte er sich danach, die Luft dort draußen einzuatmen, einmal wieder das warme Licht eines Sonnenaufgangs im Gesicht zu spüren, sein Wybrcathl in die goldene Sonne zu singen und die antwortende Arie eines anderen Elohim zu vernehmen.

Aber sein Wybrcathl musste stumm bleiben. Das Kind, das er bewachte, durften die Elohim nicht entdecken; sie durften nichts von ihm erfahren. Lucien berührte den Anhänger, der um seinen Hals hing, und strich mit den Fingern über die rauen Kanten des X. Das Metall fühlte sich warm und glatt an.

X, die Rune für Partnerschaft – vier Jahre zuvor hatte er sie von Dante erhalten, ein unerwartetes, schönes Zeichen ihrer Freundschaft. Luciens Finger umfassten den Anhänger, die Kanten schnitten in sein Fleisch. Er senkte den Kopf und schloss wieder die Augen, erinnerte sich an das wilde Anhrefncathl, auf das er fünf Jahre zuvor geantwortet hatte … an einen Anlegeplatz am Mississippi.

 

Ein Halbwüchsiger in Lederhose, abgewetzten Stiefeln und T-Shirt sitzt im Schneidersitz auf dem verzogenen, wettergegerbten Holz des Anlegestegs. Etwas, mit dem er spielt, blinkt und zittert bläulich zwischen seinen Fingern.

Lucien landet leichtfüßig auf dem Steg. Mit dem letzten Flattern breitet er noch einmal seine Fittiche aus, bevor er sie auf seinem Rücken zusammenfaltet. Wasser leckt und spritzt gegen die Pfähle des Anlegeplatzes. Die Luft riecht streng nach Fisch, trübem Wasser und fruchtbarem Schlamm.

Der Jüngling blickt nicht auf. Schwarzes Haar verbirgt sein Antlitz. Er hält den Kopf gesenkt, während er sich auf das konzentriert, was sich da in seinen Händen windet.

Lucien tritt näher. Das Holz unter seinen bloßen Füßen ist noch sonnenwarm. Der Jüngling strahlt Leiden und Kraft aus – klar, stachelig und fiebrig. Blut tropft ihm aus der Nase auf seinen Handrücken.

Das blaue Licht leuchtet in seinen Händen, das Chaoslied steigt wirbelnd um ihn auf, gequält, sehnsüchtig und herzzerreißend. Lucien kommt noch näher. Seine Muskeln spannen sich. Feuer lodert in seinen Venen. Das letzte Mal, hatte er vor Tausenden von Jahren bei einem Creawdwr, der inzwischen schon lange tot war dieses blaue Glühen gesehen und einen Anhrefncathl gehört.

Ist endlich ein neuer geboren? Heimlich, in der Welt der Sterblichen?

Luciens Fittiche schieben sich in ihre Scheiden auf seinem Rücken, als er vor dem Jungen in die Hocke geht. Mit Hilfe seiner Schutzschilde stößt er die ungewollten Schmerzen des Jünglings fort.

»Kind.«

Der Junge mit dem nachtschwarzen Haar antwortet nicht. Seine Hände öffnen sich, und das blaue Licht wird schwächer und verschwindet dann – wie eine ausgeblasene Kerzenflamme. Das Ding, das er festhält, huscht davon. Seine schwarz glänzenden Augen schimmern im Mondlicht.

Eine Ratte, begreift Lucien überrascht. Oder zumindest war es einmal eine. Die frühere Ratte huscht zum Rand des Anlegestegs und springt. Ihre vielen durchsichtig zarten Libellenflügel tragen sie unsicher fort in die Nacht.

Durch die Berührung eines Creawdwrs für immer und ewig verändert.

»Kind«, sagt Lucien noch einmal und hebt mit einem seiner Krallenfinger das Kinn des Jungen an.

Das Wiedererkennen erstaunt ihn so sehr – die dunklen, klugen Augen, die Wangenknochen, der Schwung der Lippen –, dass er den Jungen nicht einmal abwehrt, als dieser sich erhebt. Lucien fällt auf den Rücken, als der Junge die starken, schlanken Arme um ihn schlingt und seine Reißzähne in Luciens Hals bohrt.

Der Junge fühlt sich erhitzt an, während er Luciens Blut trinkt – erhitzt, hungrig und tief traurig. Lucien hält ihn einen Augenblick lang und erlaubt ihm, sich von ihm zu nähren. Er gestattet ihm, ihn mit seinen Schenkeln auf dem harten Holz des Stegs festzuhalten. Er riecht nach Herbstfeuer und Novemberfrost – klar, makellos und berauschend. Seine Qual und der kurz bevorstehende Wahn schlagen unaufhörlich auf Luciens Schutzschilde ein.

Er sieht aus wie sie.

Das ist unmöglich.

Ihr Sohn …

Sanft löst Lucien den eisernen Griff des Jünglings und legt eine Hand auf dessen fiebrige Schläfe. Er lässt heilende Energie in den Jungen fließen, um das tobende Feuer in seinem Inneren zu löschen und ihn in den Schlaf zu wiegen. Der Jüngling fällt auf ihn, sein blutverschmiertes Gesicht hinterlässt eine rote Spur auf Luciens Schulter und Brust.

Er streicht das zerzauste schwarze Haar beiseite und betrachtet das bleiche Gesicht des Kindes. Verwundert starrt er es an und folgt mit einem Finger der Linie des Kieferknochens. Dann schiebt er die Lippe nach oben und sieht sich die spitzen Reißzähne an. Eiseskälte breitet sich in Lucien aus.

Wo ist seine Mutter?

Genevieve …

 

Lucien öffnete die Augen, die Finger noch immer um den Anhänger gelegt. So vieles war unbekannt und ungesagt. Er hätte Dante die Wahrheit sagen sollen, als sie einander kennenlernten. Jetzt befürchtete er, es könnte bereits zu spät sein. Der richtige Augenblick war vorüber. Seufzend ließ er den Anhänger nach einer letzten Liebkosung los.

Er lauschte auf die Stille im Haus – das Ticken der Pendeluhr in der Eingangshalle, das Knarren des alten Holzes und der Fundamente, das sonnige Summen des Lebens hinter den geschlossenen Vorhängen.

Lucien entspannte sich in seinem Sessel und begann, zu dösen oder auch zu meditieren. Minuten vergingen. Eine halbe Stunde. Das rosige Morgenlicht wurde langsam grau. Die Vorhänge verdunkelten sich. Regen prasselte auf die Dachziegel und auf den Steinplattenweg im Garten vor dem Haus.

Durchdringender Zorn, der tiefe Schmerz alter Qualen, weckte ihn. Er hob den Kopf. Eine dunkle Vorahnung wand sich wie Stacheldraht um sein Rückgrat.

Das Kind kämpfte nicht mehr gegen den Schlaf an. Jetzt war es hellwach.