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KONVERGENZ

»Scheiße!« Heather starrte frustriert auf das Handy in ihrer Hand. »Halsstarriger …« Sie warf Collins einen Blick zu. »Wir müssen uns beeilen. Dante ist schon ohne uns unterwegs. «

Der Wagen schoss davon, nachdem Collins Gas gegeben hatte. »Ich hoffe, Sie irren sich nicht mit Ihrem Verdacht. Wenn wir Jordan mitnehmen, um ihn zu befragen, will ich nicht, dass wir ihn wegen technischer Details wieder laufen lassen müssen.«

»Meine Nachforschungen haben eindeutig ergeben, dass Jordan jedesmal am Tatort war, wenn es einen Mord gegeben hat«, antwortete Heather. »Wenn wir seine DNS analysieren, wird sich in jedem der Fälle zeigen, dass er der Täter war.« Sie ließ das Mobiltelefon in ihre Handtasche fallen.

Die Glut, die in ihr schwelte, seit sie erwacht war und Dante neben sich entdeckt hatte, war beim Klang seiner Stimme zu neuem Leben erwacht. Oui, chérie? Sie konnte ihn fast riechen – warm, erdig und einladend. Doch hinter Dantes Worten hatte seine Stimme angestrengt geklungen. Migräne? Oder war etwas anderes?

Es ist so still, wenn ich mit dir zusammen bin. Der verstummt.

Ich helfe dir, damit er für immer aufhört.

Heather kannte in Seattle Hypnotherapeuten, die eventuell in der Lage gewesen wären, Dantes Unterbewusstsein dazu zu bringen, sich zu öffnen, und zu helfen, seine Vergangenheit ohne Schmerzen aus dem Dunklen ins Licht zu befördern. Sie fuhr sich durchs Haar. Bei Menschen waren sie dazu in der Lage. Aber bei Vampiren? Bei nachtaktiven, blutsaugenden Raubtieren? Ihre Psyche war vermutlich ganz anders aufgebaut – ja sie musste es geradezu sein. Sie seufzte leise.

Sie warf einen Blick auf den Aktenkoffer auf dem Sitz neben ihr. Dantes Vergangenheit. Alles, woran er sich nicht entsinnen konnte oder wollte, in einem schwarzen Köfferchen. Dantes Vergangenheit. Er sollte den Inhalt zuerst sehen. Die Faust um ihr Herz lockerte sich, und sie atmete auf.

Nachdem sie die Sache mit Elroy Jordan erledigt hatten, würde sie Dante den Aktenkoffer geben, ihm erzählen, was Stearns gesagt hatte und dann bei ihm bleiben, wenn er sich den Inhalt betrachtete.

Was, wenn Dante doch ein Monster war?

Heather sah aus dem Beifahrerfenster, die Hände im Schoß verkrampft. Schwarz und vermeintlich endlos sauste die Straße draußen vorbei. Sie dachte an den Geschmack von Dantes Lippen und die Hoffnungslosigkeit in seiner Stimme im Schlachthaus. Sie dachte an ihre Versprechen.

Ich werde dich nicht im Stich lassen.

Ich helfe dir, damit er für immer aufhört.

Ich werde nie Beweise unterschlagen, ganz gleich, wie schmerzhaft das für alle Beteiligten auch sein mag.

 

Stearns pinkelte in eine leere Orangensaftflasche, ohne das Haus, das Thomas Ronin gemietet hatte, aus den Augen zu lassen. Als er fertig war, schraubte er den Deckel wieder zu und stellte die Flasche langsam auf den Boden vor dem Beifahrersitz.

Dann öffnete er das Fenster einen Spalt breit, um frische Luft hereinzulassen.

Das hübsche Häuschen stand einen Block entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Stearns beobachtete es seit zwölf Uhr mittags. Er hatte einen Mann Mitte dreißig mit schütterem brünetten Haar gesehen, der in einem Jeep weggefahren und eine Stunde später in einem weißen Transporter mit schwarz getönten, UV-geschützten Scheiben wieder zurückgekommen war. Jordan. Dem Ausdruck zufolge, den er in Prejeans Küche gelesen hatte, war er Wallaces Hauptverdächtiger bei den CCK-Morden, und er gehörte ebenfalls zu Johanna Moores Experimenten.

Ronin war nirgendwo zu sehen, aber ein eleganter Camaro parkte in der Einfahrt und ließ vermuten, dass der Journalist zu Hause war. Stearns verstand noch immer nicht, wie Ronin ins Bild passte. War er hinter den Exklusivrechten an der Geschichte her? Hatte er mit einem wahnsinnigen Serienmörder eine Abmachung getroffen?

Warum nicht? Stearns hatte im Laufe seiner Karriere schon bizarrere, düsterere Dinge erlebt und mitgemacht.

Jemand kam aus der Haustür. Wieder Jordan, doch diesmal waren sein Gesicht und seine Klamotten mit etwas besudelt. In dem schwindenden Licht war es schwierig auszumachen, was es war. Als Jordan aber begann, mehrere Schlüssel im Kofferraumschloss des Camaro auszuprobieren, wurde Stearns auf einmal klar, dass es sich um Blut handeln musste.

Was auch immer zwischen Jordan und dem Journalisten gewesen sein mochte – es sah ganz so aus, als hätte diese Beziehung ein plötzliches Ende gefunden. Ein offenbar unappetitliches, aber unweigerliches Ende. Sich auf Serienmörder einzulassen war genauso gefährlich, wie mit einer aufgeklappten Schere durch die Gegend zu laufen – früher oder später würde es einen erwischen.

Endlich ließ sich der Kofferraum öffnen, und Jordan begann, darin herumzuwühlen. Nach einem Augenblick richtete er sich auf und klappte dann den Kofferraumdeckel wieder zu. Ärgerlich trat er mehrmals gegen das Auto und schlug dann mit der Faust gegen den Kofferraum.

Durch den offenen Fensterspalt konnte Stearns hören, wie Jordan »Scheiße!« brüllte.

Stearns legte die Hand auf die Glock, die neben ihm auf dem Sitz lag.

Mit Enttäuschungen kommt er nicht allzu gut klar.

Jordan stürmte zur Haustür zurück und blieb dann stehen. Als wisse er nicht, was er jetzt tun sollte, begann er, nervös auf und ab zu laufen. Hat er Angst, wieder reinzugehen? dachte Stearns. Nach etwa einer Minute richtete er sich auf und ging ins Haus.

Mit der Glock in der Rechten glitt Stearns aus dem Buick LeSabre.

 

Gifford sog an seinem Zigarillo und genoss den würzigen Tabak mit Vanillearoma, den Blick auf den Buick LeSabre gerichtet, der auf der gegenüberliegenden Straße drei Blocks von ihm entfernt parkte. Er blies den Rauch durch das Fenster, das er einen Spalt breit geöffnet hatte.

Stearns stieg aus, den rechten Arm an der Seite, seine Waffe eine schwarze Silhouette an seinem Bein. Er überquerte die Straße und ging auf das Haus zu, in dem E verschwunden war. Gifford drückte den halb gerauchten Zigarillo im Aschenbecher des Wagens aus. Ohne Agent Wallace konnte er nicht das MordSelbstmord-Szenario inszenieren, aber in den Jahren mit Johanna hatte er improvisieren gelernt.

Er nahm eine Einkaufstüte voller Papiere und stieg aus seinem Taurus. Gemächlich schlenderte er den Bürgersteig entlang, seine »Einkäufe« unter dem linken Arm. Mit der rechten Hand fasste er in seine Jacke, und seine Finger umschlossen den Griff der Fünfundvierziger.

Soll Stearns E umlegen. Ich werde die Reste zusammenkehren.

 

E schlug sich mit dem Handballen gegen die Stirn. Idiot! Hättest warten sollen. Wo konnte der Blutsauger den Mist nur versteckt haben? Nicht unter dem Bett. Nicht im Schrank. Nicht im Auto.

E trat mit pochendem Herzen in den Flur. Er wusste, die Sachen mussten irgendwo im Haus sein. Das Arschloch hatte Dante erwartet und wollte bereit sein. Er blieb wieder vor Tom-Toms Zimmer stehen und sah hinein. Überall Blut – sogar an der Decke. Aber das Bett war leer.

Es Herz begann zu hämmern, als er an der offenen Tür vorbei zum Schrank im Flur rannte. Er riss ihn auf und durchstöberte die Laken und Handtücher, die darin gestapelt waren, ehe er sie achtlos auf den Boden schleuderte. Dann erstarrte er. Hatte er da gerade ein Schlurfen gehört? Wie das Geräusch eines widerlichen Zombies, der im dunklen Gang auf ihn wartete? E wirbelte mit gezückter Klinge herum.

Er stand allein im dunklen Flur.

Mit rasendem Puls und trockenem Mund kehrte E zu Ronins Zimmer zurück. Der schwere Gestank des Blutes stieg ihm zu Kopf – ah, riecht beinahe wie Sex. Er trat ein. Noch in der Bewegung hörte er ein Kratzgeräusch.

Auf dem Boden auf der anderen Seite des Bettes krochen dunkle, blutige Finger die Wand hoch. Blutige Furchen verunstalteten die weiße Fläche.

E stierte auf die Finger, während sein Herz bis zum Hals schlug. Es ist Die Nacht der lebenden Toten, dachte er. Die Toten wollen nicht tot bleiben. Wollen nicht in ihre Einzelteile zerlegt und von einem Zombie gefressen werden!

Ein seltsam hohes Quäken übertönte das Kratzen der Finger. E presste eine Hand auf den Mund, und das Quäken hörte augenblicklich auf.

Halt den verdammten Mund. Das ist kein Zombie, das ist nur ein blutleerer Vampir, der nicht sterben will. Du hingegen bist ein Gott. Reiß dich zusammen!

E nickte. Ein Gott. Er nahm die Hand vom Mund und ging zur Kommode hinüber, deren oberste Schublade er aufriss. Goldenes Licht begann erneut zu schimmern, und ein Engelschor sang einen triumphalen Choral. Dort lagen zwischen den Seidenunterhosen und den teuren Socken die Akten. E nahm sie und öffnete die nächste Schublade. Nichts. Er entdeckte die schwarze Mappe in der untersten Schublade und nahm auch diese an sich.

Fingernägel kratzten an der Wand. E verließ hastig das Zimmer und rannte so schnell er konnte durch den Flur, durch das Wohnzimmer und zur Haustür hinaus.

Am Van angekommen, stieg er ein und verstaute Akten und Mappe neben seiner Tasche mit den Spezialwerkzeugen. Jetzt brauchte er nur noch Dante. Wo war der GPS-Empfänger? E zog den Reißverschluss der Mappe auf und musterte ihren Inhalt: Arzneifläschchen mit Sedativa, Pistolen mit Beruhigungsmunition, Spritzen, Handschellen – offensichtlich alles für den Blutsauger, der mal Spaß haben wollte. Aber nirgends war das GPS zu entdecken. Wie zum Teufel sollte er Dante ohne den Empfänger ausfindig machen?

E schlug sich mit den Fäusten gegen die Schläfen. Sein gebrochenes Handgelenk schmerzte so höllisch, dass sich sein Magen verkrampfte. IdiotIdiotIdiot! Er schluckte und senkte den verletzten Arm. Dunkelviolette, fast schwarze Blutergüsse zeigten sich auf dem geschwollenen Handgelenk. Später musste er sich dringend verbinden und den Arm in eine Schlinge legen. Doch jetzt brauchte er erst einmal den verdammten GPS-Empfänger.

E sprang schwankend aus dem Transporter und erstarrte. Ein hart aussehender Mann im Jackett stand mit einer gewaltigen Knarre vor ihm. Der Lauf war auf Es Brust gerichtet. Dieser ließ sich blitzschnell fallen und rollte unter den Wagen. Etwas knallte gegen die Seite des Autos. War das eine Kugel?

E schaute an den polierten schwarzen Schuhen des Mannes vorbei, als er das Geräusch eines aufheulenden Motors vernahm, der in hoher Geschwindigkeit die Straße entlanggeschossen kam. Es war ein kleines schwarzes Auto, das von der Fahrbahn auf den Gehsteig über den Rasen direkt auf das Haus zugerast kam.

E kniff die Augen zusammen, als ihn die Scheinwerfer blendeten. Das Auto rammte die erste Stufe und knallte mit dem Kühlergrill gegen die Türschwelle. Der Aufprall erschütterte das ganze Haus in seinen Grundfesten.

Dante war da.

 

Stearns warf sich gegen Elroy Jordans neuen Van, als der Sportflitzer auf den Gehsteig fuhr, den Vorgartenrasen überquerte und gegen das Haus stieß. Dampf zischte aus der eingedrückten Kühlerhaube in die Luft.

Einen Augenblick lang zögerte Stearns, ehe er einen Schritt nach vorn tat und seine Deckung hinter dem Van aufgab. Ein Unfall? Oder war das Absicht gewesen? Da kletterte eine schlanke Gestalt aus dem Fenster auf der Fahrerseite, und Stearns’ Herz begann zu rasen.

Ein makelloses weißes Gesicht. Schwarzes Haar. Eine Lederjacke und schwarze Jeans mit Ketten. Der junge Mann sprang elegant über die zerquetschte Kühlerhaube auf die Schwelle der Eingangstür, umgeben von einem bläulich weißen Lichtkranz. Bleiche Hände stützten sich am Holzrahmen der Tür ab.

Stearns trat vor und hob die Glock. »Dante!«, rief er.

Er drückte ab, während sich der junge Vampir noch umdrehte.

 

Die Kugel traf Dante in der Schläfe, und die Wucht des Einschlags riss seinen Kopf zur Seite. Er brach auf der Schwelle zusammen.

»Halt!«, rief Heather. Collins trat auf die Bremse. Sie riss die Tür auf und sprang heraus, wobei sie noch im Laufen ihre Achtunddreißiger aus der Tasche des Trenchcoats zerrte.

Stearns schaute auf. Er sah sie an und ging zum MG hinüber. Auf Dante zu.

»Lassen Sie Ihre Waffe fallen«, schrie Heather, die Pistole mit beiden Händen umklammernd. Sie zielte auf Stearns. »Fallen lassen! Zwingen Sie mich nicht, das zu tun!«

Stearns zögerte einen Augenblick lang, trat dann jedoch vor und hob seine Glock. Heather schoss. Stearns schwankte und sackte neben dem MG auf ein Knie. Sie rannte vom Gehsteig auf den verwüsteten Rasen, die Waffe noch immer auf ihren früheren Mentor gerichtet.

»Fallen lassen!«, wiederholte sie.

Die Glock fiel Stearns aus der Hand. Ein Blutfleck zeichnete sich an der Schulter seines Jacketts ab. Er zuckte zusammen, als er die Hände hinter dem Kopf verschränkte.

»Lassen Sie mich ihn erledigen«, sagte Stearns. »Wenn Sie seine Akte gelesen hätten …«

»Halten Sie den Mund!«, unterbrach ihn Heather, wobei sie die Achtunddreißiger weiterhin auf seinen Kopf gerichtet hielt.

Sie warf einen Blick Richtung Haustür. Dante hatte sich noch nicht bewegt. Er lag regungslos auf der Türschwelle, vom Licht der Scheinwerfer angestrahlt, das schwarze Haar wie vergossener Wein auf dem Teppichboden des Flurs ausgebreitet. Ein Blutrinnsal lief ihm von der Schläfe übers Gesicht.

Heather wandte den Blick ab, da sie plötzlich kaum mehr atmen konnte, so sehr schnürte es ihr die Luft ab. Nicht tot, rief sie sich ins Gedächtnis, nicht tot. Sie atmete tief ein und zog die Handschellen aus der Hosentasche, ehe sie sich hinter Stearns kniete und einen der Metallringe um sein Handgelenk legte und ihn zuschloss.

Collins trat neben Heather. »Ich sehe mal nach, wie es Prejean geht«, sagte er.

»Heather, hören Sie – Sie verstehen anscheinend nicht, worum …«

»Ich verstehe, dass Sie einen unbewaffneten Mann erschossen haben«, sagte sie mit einer leisen, gepresst klingenden Stimme, »und jetzt halten Sie verdammt nochmal den Mund. Klar?«

Als sie Stearns’ Arm nach unten zog, um auch diesen fesseln zu können, blieb ein Mann, der eine Papiertüte mit Lebensmitteln unter dem Arm trug, vor dem Vorgarten stehen.

»Bitte gehen Sie weiter …«

Der Mann ließ den Papierbeutel fallen. Papier flatterte auf den Gehsteig, als er eine Waffe zog. Stearns entriss Heather seinen noch nicht gefesselten Arm und stürzte sich auf seine Glock.

Mit einem Herz, das dreifach so schnell wie sonst schlug, hob auch Heather ihre Achtunddreißiger. »Trent, passen Sie auf!«

Alle drei feuerten.

 

Lucien flog. Der Wind schlug ihm eisig kalt ins Gesicht. Eine andere Art Kälte umgab seine Seele, die wie gefroren zu sein schien. Durch Dante hatte er einen Augenblick lang einen reißenden Schmerz empfunden, ehe sein Sohn das Bewusstsein verloren hatte und somit ihre Verbindung abgerissen war. Ein schwacher Lebensfaden verband die beiden noch miteinander, was ihm zeigte, dass Dante nicht tot war. Er war verletzt, möglicherweise sogar schwer, aber er lebte.

Auf dem Boden unter Lucien durchdrangen schräge Lichtstrahlen den Himmel. Er sah Leute herumrennen und spürte einen Blutdurst, der wild, ungestüm und uralt war und von dem Haus dort unter ihm in die Nacht ausstrahlte. Langsam ließ er sich in Spiralen hinunter sinken, auf das Haus und seinen tobenden Bewohner zu.

Ronin würde für Dante keine Bedrohung mehr darstellen.

Lucien glitt zu Boden, wo er geräuschlos landete. Seine nackten Füße berührten das nasse Gras. Er faltete die Flügel hinter sich zusammen und verstaute sie in ihren Scheiden. Dann eilte er durch den dunklen Hinterhof und riss die Eingangstür mit dem Fliegengitter aus den Angeln. Metall quietschte. Er warf sie beiseite, schlug die Hintertür mit einer Faust ein und trat ins Haus.

 

Von seinem Versteck unter dem Van aus beobachtete E, wie sich Heather hinter den verdammten Kerl kniete, der versucht hatte, ihn umzubringen – diesen hart aussehenden Mann, der dann stattdessen seinen Bad-Seed-Bruder umgenietet hatte. Dann mischte sich noch jemand ein. Plötzlich schrien alle, schossen und sprangen beiseite.

Er rollte auf der anderen Seite unter dem Van hervor und lief geduckt bis zur Kühlerhaube. Der Anblick Dantes, der regungslos auf der Türschwelle des Hauses lag, zog ihn magisch an.

Innerlich wünschte er seiner hübschen Heather alles Gute und hoffte, dass sie nichts dagegen haben würde, wenn er die missliche Lage, in der sie sich befand, ausnutzte. Er redete sich sowieso ein, dass sie darum gekämpft hatte, ihn und nicht Dante zu beschützen, da sie schließlich seinetwegen gekommen war und nicht wegen des kleinen Blutsaugers, der hier auf einmal unangemeldet aufgetaucht war.

Aber he, umso besser! So musste er sich wenigstens keine Gedanken mehr um den Verbleib des GPS-Empfängers machen.

E blieb neben der Kühlerhaube des Vans stehen, den Blick auf den Polizisten in Zivil gerichtet, der jetzt neben Dante kniete. Er drehte sich um, als er Heathers Warnruf vernahm und zog die Waffe, doch noch ehe er einen Schuss abgeben konnte, packten ihn dunkle, blutverschmierte Finger und rissen ihn in den Flur.

Ein widerliches Gefühl, als marschiere eine Kolonie Ameisen über seinen Rücken, überkam E. Tom-Tom hatte seine Beine wieder. Hinter der offenen Tür konnte man einen Kampf ausmachen, wobei es aussah, als bekämpften zwei Schatten einander.

Blutsauger oder ruheloser Toter?

E schlich weiter, duckte sich noch tiefer und musterte Dantes blasses Gesicht. Im Vorgarten rief jemand etwas. Wieder fielen Schüsse. Innerlich drückte er Heather die Daumen, dass sie da lebend wieder herauskäme – ohne sie würde das alles lange nicht so viel Spaß machen – und drückte sich dann neben die Betonstufen. Aus der kaputten Kühlerhaube des MG lief Flüssigkeit. Zischend stieg Dampf auf.

E streckte eine zitternde Hand nach Dantes Arm aus. Umfasste ihn. Zog. Totes Gewicht. Keuchend und schwitzend zerrte er den Blutsauger von der Stufe. Er schlug mit einem dumpfen Knall auf dem Boden auf, wobei Metall klirrte. Nun fasste er nach dem Kragen der Lederjacke, die Dante trug. Sein schöner Kopf rollte zur Seite. Blut lief ihm aus dem rechten Ohr und rann über seine Wange.

Zerrend, grunzend und vollgepumpt mit Adrenalin schaffte es E, seinen Blutsauger-Bruder bis vor den Van zu ziehen. Die Seitentür war noch immer offen.

In diesem Augenblick flog etwas aus dem Haus. Heather schrie »Scheiße!«. Wieder fielen Schüsse.

E hievte Dante halb in den Van, ehe er selbst hineinsprang und den Rest des Körpers nachzog. Er rollte ihn von der Tür weg und zog sie so leise wie möglich zu. Dann nahm er die Handschellen aus der schwarzen Mappe und legte sie um Dantes Handgelenke. Er hatte keine Ahnung, wie lange Dante bewusstlos sein würde, aber es war sicher von Vorteil, auf alles vorbereitet zu sein und keine unnötigen Risiken einzugehen.

Danach zog er ihn in den hinteren Teil des Wagens, wo er seine Arme hochhob und die Kette der Handschellen über einen Haken hängte, den er dort extra für diesen Zweck befestigt hatte. Handschellen standen dem Blutsauger gut. Er schien wie geboren für sie zu sein. Anscheinend ein echtes Naturtalent.

Grinsend schob sich E auf den Fahrersitz, wobei er sein gebrochenes Handgelenk schonte. Dann zog er die Autoschlüssel aus der Hosentasche und wartete.

 

Heather feuerte die Achtunddreißiger ab, während sie sich zur Seite warf. Etwas brauste an ihrer Wange vorbei und stach sie. Mit der Glock in der Hand rollte Stearns über den Rasen und sprang auf. Er eröffnete das Feuer. Der dunkelhaarige Mann – unbekannter Angreifer – stolperte ein paar Schritte zurück und schoss erneut.

Stearns fiel auf die Knie, das Gesicht seltsam ausdruckslos.

Die Waffe auf den Kopf des Unbekannten gerichtet schoss Heather ein weiteres Mal, ehe der Mann hinter dem Van in Deckung ging.

»Trent«, rief sie. »Abfangen!«

Heather hechtete auf den MG zu und ging ihrerseits hinter ihm in Deckung. Sie warf einen Blick auf das Haus, und ihr blieb fast das Herz stehen. Eine blutüberströmte Gestalt beugte sich über Collins. Die Hände des Detectives lagen leblos an seiner Seite. Sein Körper schien keine Knochen mehr zu haben. Thomas Ronin hob den Kopf und gab preis, was noch von Collins’ Hals übrig war.

Heather wirbelte herum und eröffnete das Feuer auf den Vampir. Mit gebleckten Fängen schleuderte ihr Ronin den Leichnam des Detectives entgegen.

» Scheiße!«

Der Leichnam prallte gegen sie und raubte ihr für einen Moment die Luft. Sie ging zu Boden, und ihr Kopf schlug im nassen Gras auf. Einen Augenblick lang sah sie Sternchen, während sie versuchte, sich von Collins’ Gewicht zu befreien und Luft zu bekommen. Sie drückte gegen den Leichnam, der nach Schweiß, Blut und Kot roch – nach Tod. Bilder von seinem zerrissenen Hals und seinem seltsam entspannten Gesicht stiegen vor ihrem inneren Auge auf. Panisch und atemlos schob sie weiter, bis es ihr endlich mit einem letzten Stoß gelang, sich von der Leiche zu befreien. Schluchzend und zitternd holte sie tief Luft.

Ronin hatte den dunkelhaarigen Unbekannten ergriffen und vergrub sein Gesicht im Hals des Mannes. Dieser trat und schlug um sich, während er Kugeln in den Bauch des Vampirs abfeuerte. Ronin zuckte bei jedem Schuss zusammen und fletschte einen Augenblick lang die Zähne, ehe er weitertrank. Blut troff auf den Betonboden.

Heather erhob sich auf die Knie und richtete die Achtunddreißiger auf den Kopf des Vampirs. Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung im Haus und riss die Pistole, die sie mit beiden Händen festhielt, nach oben. De Noir trat ohne Hemd und Schuhe auf die Schwelle, durchquerte mit zwei schnellen Schritten den Vorgarten und packte Ronin mit einer Hand am Nacken.

Der Unbekannte fiel in die Einfahrt, sein Körper bewegte sich so gummiartig, dass es Heather beinahe den Magen umdrehte. Ronin versuchte, sich De Noirs Griff zu entwinden und kratzte ihm mit den Fingernägeln über die Brust. Blut floss und versiegte sofort wieder. Die Kratzer wurden schwächer – verschwanden. De Noir breitete die Schwingen aus und flog mit Ronin in den dunklen Nachthimmel.

In diesem Augenblick sprang der Van an. Er raste rückwärts und fuhr dabei über den Leichnam des Unbekannten, ehe er auf die Straße schlitterte. Heather sprang mit rasendem Herz auf. Jordan! Sie hob die Achtunddreißiger. Jordan schürzte die Lippen und warf ihr eine Kusshand zu. Sie schoss. Die Kugel durchschlug die Scheibe auf der Beifahrerseite. Sie drückte erneut ab, aber diesmal klickte die Pistole nur hohl. Das Magazin war leer.

Jordan trat aufs Gas. Der Van raste die Straße entlang in der Nacht.

Heather warf den Kopf zurück und schrie: »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«

Jordan war ihr wieder entkommen, und Dante war angeschossen … Dante … sie wirbelte herum. Auf der Türschwelle lag niemand.

De Noir muss ihn weggeschafft haben, oder . . . sie stürzte auf die Straße. Der Van war nicht mehr zu sehen.

S gehört mir.

 

Lucien stieg in Spiralen gen Himmel, nachdem er seine Krallen in Ronins Schultern vergraben hatte. Der Vampir bohrte die Reißzähne in Luciens Brust und sog heilendes, lebensspendendes Blut in sich. Lucien schlug mit der Faust mehrmals auf Ronins Kopf, wodurch der Schädel brach und sich die Fänge aus seinem Fleisch lösten.

Der Schädel erzitterte und zeigte dann wieder seine ursprüngliche Form. Ronin sah Lucien tief in die Augen. »Dieser Geschmack«, sagte er. »Wie Dantes Blut – außergewöhnlich. «

»Ich hoffe, es hat geschmeckt. Es war nämlich deine letzte Mahlzeit.«

Lucien packte Ronin an Schulter und Hüfte und riss ihn entzwei. Blut spritzte in die Nacht, als sich Fleisch und Knochen voneinander trennten. Ronin schrie, und seine Augen schlossen sich, während seine blutigen Zähne vom Mondlicht erhellt wurden. Seine Nägel hinterließen tiefe Furchen in Luciens Brust.

Lucien riss Ronin nun endgültig an der Taille auseinander. Unten wand sich der Mississippi, funkelte im Licht der Sterne – ein schwarzer Fluss durch ein schwarz daliegendes Land. Lucien ließ den unteren Teil des Vampirs los, der mit zuckenden Beinen Richtung Wasser fiel.

Während er durch die Nacht flog, schlug Lucien Ronins abwechselnd klammernde und boxende Hände fort und wehrte sich immer wieder gegen die schnappenden Kiefer. Über dem Schlot einer Fabrik am Flussufer hielt er inne. Flammen stoben aus der dunklen Öffnung in die Luft.

»Für meinen Sohn würde ich die ganze Welt in Schutt und Asche legen«, sagte Lucien und zog seine Klauen aus Ronins Fleisch.

Als der Vampir fiel, griff er nach der x-förmigen Rune um Luciens Hals. Die Kette riss. Lächelnd stürzte Ronin in den Schlot, die Kette fest in der Hand. Ein Funkenregen stob in die Luft.

Lucien starrte in die Nacht, die Hand auf seinen Hals gepresst.

Der Anhänger war verschwunden.