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ZUM SOZIOPATHEN GEBOREN

Blut klebte an Es Fingern. Er biss die Zähne zusammen und bohrte mit der Klinge noch etwas tiefer. Die Spitze kratzte über etwas und ließ sich dann nicht mehr bewegen. Er hielt inne, wartete auf den Schmerz. Nichts. Er fasste mit der freien Hand hinter sich und fuhr mit den Fingern über die Wunde am unteren Rand seines Schädels. Vorsichtig berührte er das Ding, das sein Messer entdeckt hatte. Weiche Ränder. Keine Empfindungen.

Aus E quoll ein Lachen, ein tiefes Lachen, angestrengt und wütend.

So hat er mich also in New York gefunden. Wie lange war mir dieser Idiot da schon auf den Fersen? Interessant, dass er die Wanzen nie erwähnte.

E zog. Seine Finger rutschten ab, und er konnte das Implantat nicht mehr greifen. Blut rann über seinen Nacken in den Hemdkragen und fühlte sich auf der kalten Haut angenehm warm an. E nahm das glitschige Messer in die andere Hand und wischte die verschwitzten Finger an seiner Jeans ab. Dann nahm er das Messer wieder in die Rechte und fuhr mit der Arbeit fort.

Er griff nach dem Rand des Implantats. Stocherte mit dem Messer. Dann versuchte er es wieder mit den Fingern. Hier war er also, in einem der billigen Motels, die er so hasste, saß auf einem billigen Stuhl und holte einen Satellitenchip aus seinem verdammten Fleisch, und zwar mit einem seiner verdammten Messer.

Herzlichen Dank, Tom-Tom.

E blinzelte den Schweiß aus den Augen und schob dann die Messerspitze unter das Implantat. Er bog es nach hinten, und mit einem plötzlichen, scharfen Schmerz, der sein ganzes Rückgrat in Brand zu versetzen schien, löste sich die Wanze.

Zitternd und trotz des Feuers am unteren Rand seines Schädels ließ E die Hände sinken und legte sie auf den Tisch vor sich. Die blutige Klinge fiel klirrend auf die billige Holzimitatoberfläche. Zwischen den Fingern hielt er einen winzigen, blutverschmierten Sender. Er drückte mit dem Zeigefinger dagegen. Nichts.

Es Faust schloss sich um das Implantat. Er drehte sich auf dem Stuhl um und sah auf die Inhalte der Akten, die auf dem fleckigen Laken verstreut lagen, und auf das Bild auf dem Bildschirm des billigen Laptops. Es zeigte Dante im Alter von dreizehn oder vierzehn, wie er den Hals seines Pflegevaters mit den Fingernägeln aufriss. Sein schönes blasses Gesicht war blutbespritzt. Mrs. Prejean war schon tot. Ihr Leichnam lag auf dem Boden des Esszimmers. Von ihrem Kopf waren kaum mehr als weißer Knochen, einige Haarsträhnen und Hirnmasse übrig geblieben.

Wow, fantastisch! Weiter so, kleiner Bruder, weiter so!

»Pflegeeltern«, schnaubte E. Ja, klar. Wenn man Zuhälter als Eltern betrachtete.

Natürlich wussten Bad-Seed-Mama und Bad-Seed-Papa über die Prejeans Bescheid. Sie wussten, wie die beiden die Kinder benutzten, die ihnen der Staat überantwortete. Sie wussten, dass sich die beiden vor Begeisterung wahrscheinlich in die Hose machten, als sie Dante zugeteilt bekamen.

Die Prejeans hatten mit Dante viel Kohle verdient. Natürlich hatten einige ihrer Kunden selbst mit ihrem gebändigten Pflegekind ein paar unangenehme Verletzungen davongetragen. Er hatte etwas über einen abgebissenen Penis gelesen – oder zumindest einen fast abgebissenen.

E lachte. Er stand auf und ging ins Bad. Dort klappte er den Toilettendeckel hoch, öffnete die Hand und ließ das Implantat in die Schüssel fallen. Dünne Blutfäden färbten das Wasser rot. Er spülte.

Jetzt konnte Tom-Tom ja mal versuchen, ihn wiederzufinden – sollte Johanna Moore ruhig schwitzen.

Mama, ich komme jetzt nach Hause, und ich komme nicht allein.

Er kehrte ins Zimmer zurück, kniete sich neben das Bett und ließ die CD aus dem Laptop auswerfen. Dann klappte er den Deckel zu und schob die vielen Dokumente, Berichte und Fotos wieder in ihre jeweiligen braunen Umschläge zurück.

Ein Foto stach ihm dabei ins Auge, und er zog es aus dem Stapel. Es zeigte einen kleinen Jungen von zwei oder drei Jahren. Ein sandblonder Haarschopf stand an seinem Hinterkopf in die Höhe, und er grinste in die Kamera. Hinter ihm lagen ein Mann und eine Frau auf einem Sofa mit Rebenmuster, auf dessen Kissen Blut geschmiert war. Ein großes Loch befand sich in der Schläfe des Mannes – in Papas Schläfe –, und ein ähnlich großes in der Stirn der Frau – Mama. Eine Waffe lag auf dem Boden direkt neben der herabbaumelnden Hand des Mannes.

E konnte sich nicht daran erinnern, dass er als kleiner Junge gesehen hatte, wie sein Vater zuerst seine Mutter und dann sich selbst im Standard-Mord/Selbstmord-Szenario erschossen hatte. Falls er Zeuge geworden war, hatte es ihn anscheinend nicht sonderlich beeindruckt. Er konnte sich an das Geschehen nicht erinnern und hatte bisher noch nie Alpträume gehabt.

Jedenfalls nicht wegen seiner Eltern.

Er schob das Bild zwischen die anderen Papiere und legte dann alles zusammen wieder in die Mappe. Seine Eltern waren also gestorben, als er knapp drei Jahre alt gewesen war, und von diesem Augenblick an hatte Bad Seed sein Leben in die Hand genommen. Dantes Mutter war während der Schwangerschaft von Bad Seed entführt und dann umgebracht worden, nachdem sie ihn geboren hatte.

E schüttelte den Kopf. Ein geborener Vampir. Wer hätte das gedacht?

Wieder am Küchentisch mixte er sich noch einen Gin Tonic. Er nahm einen langen Schluck des kühlen Getränks und spülte sich so den schlechten Geschmack des Tages aus dem Mund.

Zum Soziopathen erzogen. So nannte Bad Seed ihn.

Zum Soziopathen geboren. So nannte Bad Seed Dante.

Aber sie irrten. Er schüttete den Rest seines Drinks hinunter. Der klare Geschmack des Gins klärte seinen Kopf. Sie lagen falsch. Er stellte das Glas ab und ging erneut ins Bad. Das fluoreszierende Licht surrte leise. Im Spiegel zeigten sich Es umschatteter Blick und sein blutüberströmter Nacken. Er grinste. Schaltete das Licht aus. Schaltete es wieder an. Grinste erneut.

E befeuchtete ein Handtuch unter dem Wasserhahn und wischte sich das Blut aus dem Nacken. Dante war nicht der einzige Blutgeborene. Bad Seed hatte E nicht aus dem kleinen grinsenden Elroy erschaffen. E hatte schon vorher existiert und war damit beschäftigt gewesen, den kleinen grinsenden Elroy zu vertreiben.

Er wusch das Handtuch im Waschbecken aus. Blutiges Wasser lief gurgelnd in den Abfluss. Vorsichtig tupfte er die Wunde an seinem Nacken ab und saugte dabei Luft durch die zusammengebissenen Zähne. Verdammt, wenn das nicht höllisch wehtat!

Es kleine Schwester war nicht am plötzlichen Kindstod gestorben. Er hatte sie erstickt. Hatte ihre Schmusedecke auf ihr Gesicht gedrückt, bis sie aufhörte, sich zu winden und mucksmäuschenstill geworden war. Daran erinnerte er sich, es gehörte zu seinen frühesten Erinnerungen. Seltsam, dass er sich nicht an seine Eltern erinnern konnte. Aber, he – so was konnte passieren! Wenn er sie umgebracht hätte, würde er sich vielleicht auch an sie noch erinnern.

Er hängte das Handtuch mit den ausgewaschenen Blutflecken über den Waschbeckenrand und drehte den Hahn ab. Er würde sich wahrscheinlich Verbandszeug holen müssen. Hatte Dante wohl auch einen Verband gebraucht, nachdem er sich den Sender herausgezogen hatte? Vampire heilten angeblich rasend schnell; vielleicht war es also unnötig gewesen.

Bad Seed hatte versagt. Sie hatten nicht nur einen geborenen Psychopathen, sondern in Wirklichkeit zwei Blutgeborene – einen Vampir und einen Soziopathen –, und sie hatten gerade die Kontrolle über ihr hübsches Projekt verloren.

E nahm die Aktenmappe und die schwarze Mappe, die er aus Tom-Toms Schrank geholt hatte, und öffnete die Motelzimmertür mit einer vollen Hand und einem Tritt seiner Nikes. Er eilte über den halbleeren Parkplatz, wobei unter seinen Sportschuhen der Kies knirschte. Während er Akte und Tasche auf seinem angewinkelten Schenkel balancierte, schloss er den Jeep auf und öffnete die Tür. Er legte die Akte auf den Rücksitz und warf die Tasche daneben.

Die schwarze Mappe war voller Leckerbissen, mit denen man einen Vampir lahmlegen konnte. Medikamente – nur Medikamente natürlichen Ursprungs oder speziell für den Blutsaugermetabolismus entwickelte Pillen funktionierten nämlich – , Handschellen – keine gewöhnlichen für Menschen, oh nein – und eine Zwangsjacke. Eine besondere Zwangsjacke.

Zuerst hatte E vorgehabt, Ronin während des Tages einen Überraschungsbesuch abzustatten und ein paar der netten Spielzeuge an diesem schwarzen Vampirarsch auszuprobieren. Aber dann war ihm eine andere Idee gekommen.

Eine bessere.

Er wollte sich dumm stellen – zum Mietwagen gehen, alle Sachen wieder hineinlegen und so tun, als hätte er keine Ahnung. Bis zum richtigen Moment … bis zu dem Moment, in dem es Tom-Tom gelang, Dante nach Hause zu bringen oder in dem Dante beschloss, durch Ronins Fenster einzusteigen, um ein paar Dinge zu erledigen.

So oder so würde E bereit sein.

Er setzte sich hinters Steuer und ließ den Motor an. Der Jeep sprang an, und der durchdringende Geruch von Benzin und Abgasen stieg weiß in die kühle Luft. Er warf einen Blick auf die Zeitung auf dem Beifahrersitz und las noch einmal die Schlagzeile.

 

CROSS-COUNTRY-KILLER TOT IN FLORIDA

 

Echt?

Ein kratzendes Geräusch, als führe eine Dampfwalze über Kies, erfüllte das Innere des Jeeps. E zwang sich, den Mund zu öffnen. Das Geräusch hörte abrupt auf. Er war wütend genug, um mit den Zähnen zu knirschen. Entweder hatte irgendein Idiot gewagt, sein Werk zu kopieren und hatte sich dabei erwischen lassen …

Oder jemand wollte das FBI von dem Fall abziehen … Heather von ihm weglocken. Dieser Jemand musste die Bad-Seed-Mama sein, Johanna.

Wenn er weiter Menschen abschlachtete, würde bald offensichtlich sein, dass er nicht tot war. Es sei denn, Bad Seed plante, ihn nie mehr morden zu lassen.

Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Hielten sie sich etwa für klüger, als er es war? Glaubten sie, mehr über den Tod zu wissen als ein Blutgeborener, ein geborener, nicht erschaffener Soziopath?

E hob die Tasche mit seinen Utensilien vom Boden des Wagens auf und begutachtete den Inhalt: ein Seil, eine Rolle Draht, eine Zange, Latexhandschuhe, Gaffer, ein kleiner Schneidbrenner. Das Einzige, was fehlte, war sein Buch mit den Navarro-Gedichten. Er würde es holen, wenn er Ronins Sachen vorbeibrachte.

In dieser Nacht würde er seine Unabhängigkeit beweisen. In dieser Nacht würde er nach jemand ganz Besonderem Ausschau halten. Jemandem, der ihn sowohl für seine Fähigkeiten als auch für seine Gedichte schätzte …

Nach etwas Überzeugungsarbeit.

 

Der Schlaf gab Johanna frei, und ihre Träume lösten sich wie nächtlicher Nebel im ersten Morgenlicht auf. Dicke Hummeln brummten, und das Geräusch ließ ihre Fingerkuppen beben. Sie öffnete ruckartig die Augen. Keine Hummeln. Kein Morgenlicht. Nur der Teppich unter ihrer Wange und das surrende Telefon.

Mühsam richtete sie sich auf die Knie auf. Wie lange hatte sie wohl im Schlaf gelegen? Stunden? Tage? Die Tabletten brachten ihren normalen, natürlichen Rhythmus durcheinander. Jedesmal, wenn sie das Medikament nahm, brauchte sie länger, um wieder in ihren üblichen Fluss zu kommen.

Sie hob ihr Mobiltelefon vom Boden auf und klappte es auf. »Ja?«

»Ich habe alle ankommenden Flüge der letzten vierundzwanzig Stunden kontrolliert«, sagte Gifford. »Stearns ist heute Morgen um halb sechs in Dulles eingetroffen.«

»Wann ist er wieder aufgebrochen?«

»Um neunzehn Uhr. Nach New Orleans.«

Johanna fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Sie hatte Stearns oder genauer seine Anhänglichkeit an Wallace unterschätzt. »Ruf deine Leute in New Orleans an«, sagte sie. »Sie sollen sich um Stearns und Wallace kümmern. Ohne Pardon. «

»Verstanden.«

Johanna klappte das Mobiltelefon zu. Tatsächlich hatte sie mehr als einen Fehler begangen, was Stearns betraf. Sie hätte ihn an dem Tag töten sollen, an dem er von Bad Seed erfuhr. Aber sie hatte angenommen, seine eigene dunkle Vergangenheit und ihr Wissen würden ihn zum Schweigen verdammen.

In dieser Hinsicht hatte sie sich nicht geirrt. Er hatte geschwiegen.

Sie hatte einfach übersehen, dass Stearns kein Mann großer Worte, sondern einer der Tat war.